3. KAPITEL

Maddie konnte sich nicht erklären, woher sie den Mut genommen hatte, Nic diese Worte an den Kopf zu werfen, die ja wohl am ehesten auf sie selbst zutrafen. Ich bin nie über die damaligen Ereignisse hinweggekommen, gestand sie sich ein. „Keine Angst, du wirst mich nie mehr zu Gesicht bekommen! Ich glaube, wir können diese Farce jetzt beenden. Ich bin nur gekommen, um zu erfahren, was du im Schilde führst. Du hast mich wirklich total unterschätzt.“

Wutentbrannt wollte sie davonrauschen, vergaß aber völlig, dass sie nur noch einen Schuh anhatte. Sie stolperte, verlor diesen auch noch und wäre gefallen, hätte nicht Nic in letzter Sekunde von hinten die Arme um sie geschlungen. Maddies Herz begann zu rasen. Sie versuchte, sich aus seinen Armen zu winden, aber er lockerte die Umarmung keinen Millimeter – und weit und breit war keine einzige Menschenseele zu sehen.

Sie wollte schreien, aber Nic hielt ihr den Mund zu. Wieder stieg die Panik in ihr auf. Sie befürchtete keinen gewaltsamen Übergriff – Maddie fürchtete sich vor etwas ganz anderem, weitaus Schlimmeren. Sie spürte seinen harten, festen Körper an ihrem Rücken. Ihre Knie gaben nach, sie wurde ganz schwach. In ihrer Kehle stieg ein erstickter Schrei auf: Nein! Bitte nicht! Alles, nur das nicht! Wenn er mich jetzt küsst, bin ich verloren, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie biss ihn in die Hand. Er fluchte und drehte sie zu sich herum, als wäre sie eine Marionette. Ihre Hände hielt er in einem stahlharten Griff in ihrem Rücken zusammen. Sie war völlig hilflos. Und doch stieg Erregung in ihr auf. „Lass mich los!“

Seine Augen funkelten, und er schüttelte den Kopf. Maddie hatte das Gefühl, sich plötzlich jenseits von Zeit und Raum zu befinden.

„Ich bin noch nicht fertig mit dir, Maddie.“

Ihr Herz klopfte schmerzhaft, als er die Koseform ihres Namens benutzte. Sie erinnerte sich, dass sie ihn damals gebeten hatte, sie Maddie zu nennen, statt des steifen, formellen Madalena. Er hatte ihre Wange berührt und gesagt: „Okay, ab jetzt Maddie.“

Nic lächelte, aber es war das Lächeln eines Jägers, der sich seiner Beute gewiss war. Schlagartig fühlte sie sich in die Gegenwart zurückkatapultiert. „Eines solltest du wissen: Vielleicht habe ich dich unterschätzt, aber du mich mit Sicherheit auch. Zwischen uns ist noch etwas zu klären – und dabei geht es ganz und gar nicht um Geschäftliches.“

Bevor sie seine Worte auch nur ansatzweise verarbeiten konnte, presste er seine Lippen auf ihren Mund. Zunächst war sie wie gelähmt, dann rang sie verzweifelt darum, den Aufruhr in ihrem Innern zu ersticken. Ich darf auf keinen Fall seinen Kuss erwidern! Aber genauso gut hätte sie versuchen können, den Lauf der Gestirne zu verändern.

In den Armen dieses Mannes fühlte sie sich wie ein Schiff auf stürmischer See, das endlich in seinem sicheren Hafen eingelaufen war. Ihr Verstand befahl ihr: Du musst dem Ganzen sofort Einhalt gebieten. Reiß dich los, auf keinen Fall darfst du darauf eingehen. Aber jede Faser ihres Seins widersetzte sich diesem Befehl.

Plötzlich gab Nic ihre Arme frei. Er nahm ihr Gesicht in die Hände, und sein Kuss wurde noch intensiver. Der warme Druck seines Mundes auf ihren Lippen ließ ihren letzten Widerstand erlahmen. Sie wusste nicht, wohin mit den Händen. Eigentlich müsste sie ihn zurückstoßen, aber als sie die Arme hob, seinen Körper berührte, die festen Muskeln spürte … brachte sie es nicht fertig.

Er stöhnte auf, als ihr Widerstand erlahmte. Seine Leidenschaft wurde intensiver, sein Drängen fordernder. Ihre Lippen öffneten sich, und endlich gab sie sich hin. An seine Brust gesunken, fühlte sie seinen muskulösen Oberkörper.

Nics Finger gruben sich in ihre Hüfte, er presste ihr Becken gegen die Härte seiner Männlichkeit. Zwischen ihren Schenkeln breitete sich Hitze aus. Die Gegenwart versank in einem Taumel von Gefühlen und Sehnsucht. Plötzlich brach er den Kuss ab, und Maddie tauchte aus ihrem tranceartigen Zustand auf. Verwirrt hob sie die Lider. Sein Gesicht wirkte wie aus Granit gemeißelt. Sie hingegen bebte noch immer vor Leidenschaft, ihr Mund schmerzte von seinen Küssen, das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

„Du …“ Weiter kam sie nicht. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Ja, bitte?“, fragte er eisig. „Was wolltest du sagen, Maddie? Du meinst ja wohl nicht, ich falle auf diese Show herein und glaube, die Leidenschaft würde dich sprachlos machen?“

Ein Ausdruck namenlosen Schmerzes huschte über sein Gesicht. Einen Moment lang vergaß Maddie das Gefühl der eigenen Demütigung.

„Vielleicht erinnerst du dich? Dasselbe Spiel hast du schon einmal mit mir getrieben. Ein zweites Mal falle ich ganz sicher nicht darauf herein. Außerdem kannst du ja wohl schlecht abstreiten, dass du mich ebenfalls begehrst. Genau wie vor acht Jahren. Kann sein, dass du mich damals nur aus reiner Langeweile verführt hast, aber deine Reaktion war alles andere als ‚gelangweilt‘. Genau wie jetzt – aber du hast ja immer schon erfolgreich die Realität verleugnet. Ich hätte dich damals nehmen können, und du hättest genau wie ich jede Sekunde genossen.“

Seine Arroganz wirkte wie eine Ohrfeige. Abrupt trat Maddie zurück. „Deine Hypothesen interessieren mich nicht. Auch nicht deine Analyse der Vergangenheit. Sie ist vorbei … und das ist gut so. Die jetzige Situation beweist lediglich, dass die sexuelle Chemie zwischen zwei Menschen erschreckend beliebig ist.“

Ein Lächeln umspielte Nicolás’ Lippen. „Du hättest dich mir eben hingegeben – wenige Meter von den anderen Gästen entfernt … und ich hätte dir den Mund zuhalten müssen, um dein Stöhnen zu dämpfen.“

Reflexartig hob Maddie die Hand zum Schlag. Seine letzte Bemerkung brachte das Fass zum Überlaufen. Blitzschnell fing er ihren Arm ab und hielt ihn mit eisernem Griff gefangen. Schockiert sah Maddie ihn an. Noch nie in ihrem Leben hatte sie die Hand gegen jemanden erhoben.

„Ich wollte dir einfach nur vor Augen führen, dass du deine Triebe heute ebenso wenig im Griff hast wie damals, auch wenn du mir einreden wolltest, lediglich aus Langeweile gehandelt zu haben. Du bist heute meiner Einladung gefolgt, um mich auf die Probe zu stellen – nun, ich habe dich aus demselben Grund eingeladen. Übrigens – mein Bett ist im Moment frei. Wir können uns also gern dorthin zurückziehen und in Ruhe über die ‚erschreckende Beliebigkeit der sexuellen Anziehung‘ diskutieren. Und dann nimmst du hoffentlich Vernunft an und verkaufst.“

Maddie befreite sich aus seinem eisernen Griff. Sie kämpfte gegen den Impuls an, ihn erneut zu schlagen. Nics Version jenes folgenschweren Nachmittags unterschied sich deutlich von ihrer. Zwar hatte sie ihn tatsächlich glauben lassen, das Erlebnis würde sie zutiefst anwidern – aber aus ganz anderen Gründen, als er offensichtlich annahm.

Die Wahrheit konnte sie jedoch auf keinen Fall preisgeben. So sehr sie ihn auch im Moment hasste. Wenn sie ihm jetzt alles gestand, würde sie sich ihm nur noch mehr ausliefern. Dann wüsste er, dass diese eine Woche ihr alles bedeutet hatte. „Ich muss dein Angebot leider ablehnen“, entgegnete sie frostig. Und damit drehte sie sich um und marschierte hinaus.

Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung versuchte er diesmal nicht, sie zurückzuhalten. Erst draußen registrierte sie, dass sie barfuß war. Aber auf keinen Fall würde sie zurückgehen und sich der Gefahr aussetzen, Nic noch einmal zu begegnen. Sobald der Jeep von einem Angestellten vorgefahren wurde, stieg sie ein und fuhr los. Erst als die Lichter der Hazienda im Rückspiegel kleiner wurden, erlaubte sie sich, erleichtert durchzuatmen.

Wie konnte ich nur so dumm sein und annehmen, Nic de Rojas würde die Vergangenheit ruhen lassen. Er war ein sehr heißblütiger und stolzer Mann. Sie hatte seine Ehre aufs Tiefste verletzt. Sie dachte an den schmerzlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. Nie hätte sie gedacht, dass die alten Verletzungen immer noch so dicht unter der Oberfläche schlummerten.

Obwohl die damaligen Ereignisse hohe Wellen geschlagen hatten, war Maddie davon ausgegangen, dass die Erinnerungen daran längst verblasst waren. Sie hatte angenommen, seine zahllosen Affären hätten das kleine Intermezzo mit ihr aus seinem Gedächtnis vertrieben.

Der Kuss eben hatte sie derart aufgewühlt, dass sie an den Straßenrand fahren musste, wollte sie keinen Unfall riskieren. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Als wäre es heute, erinnerte sie sich an ihr Begehren, das sie dazu getrieben hatte, ihn anzuflehen, mit ihr zu schlafen. Sie versuchte, diese Bilder zu vertreiben, aber es wollte ihr nicht gelingen … vor allem nicht nach dem, was gerade geschehen war.

Dieser eine Tag damals war einer der seltenen gewesen, an denen sie ihren Eltern entwischen und allein ausreiten konnte. Unbewusst hatte sie immer gehofft, einen Blick auf Nicolás de Rojas zu erhaschen, aber als sie ihn dann unverhofft tatsächlich erblickte, blieb ihr fast das Herz stehen. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck – vielleicht die eindringliche Art, mit der er sie musterte – flößte ihr Angst ein. Sie riss das Pferd herum und jagte davon. Wovor sie floh, hätte sie nicht sagen können. Vielleicht vor sich selbst, vor den verbotenen Gefühlen, die er in ihr auslöste.

Als sie über die Schulter blickte, stellte sie fest, dass er ihr nachritt. Schlagartig hatte sie das Gefühl, ihr ganzer Körper würde in Flammen stehen. Das Blut pochte in ihren Ohren, und ihre Haut brannte. Zwischen ihren Schenkeln breitete sich eine köstliche Hitze aus. Das Muskelspiel des Pferderückens ließ sie beinahe aufstöhnen. Als sie schließlich im Obstgarten ankam, fühlte sie sich gespannt wie die Sehne eines Bogens. Sie war bereit.

Der Hain mit den Obstbäumen gehörte zu ihren Lieblingsplätzen – es war ihr geheimer Rückzugsort. Und dann war er auf einmal da. Geschmeidig ließ er sich von seinem Pferd gleiten. Ihn umgab eine Aura ungezügelter Vitalität und Energie. Seine plötzliche Nähe raubte ihr fast den Atem – nie hätte sie gedacht, dass ein Mann so perfekt sein konnte.

An diesem Tag hatte es nur den Hauch einer Berührung zwischen ihnen gegeben. Sie redeten miteinander – sie tauschten ihre Gedanken und Gefühle aus. Nach Jahren der inneren Isolation hatte Maddie das Gefühl, endlich verstanden zu werden. Und das ausgerechnet von dem Menschen, von dem sie dies am wenigsten erwartet hätte: dem Sohn der verfeindeten Familie!

Als Maddie an diesem ersten Tag gehen musste, lag ihr das Herz schwer in der Brust. Aber dann hatte Nic sie gefragt, ob sie sich am nächsten Tag nicht wiedersehen könnten … und am nächsten und am übernächsten …

Die ganze Woche bekam etwas Irreales, ein verträumter Zauber lag über allem. Diese gestohlenen Momente unter den schützenden Ästen der Bäume waren alles, wofür Maddie jetzt lebte. Nic nahm sie völlig in Besitz. Sie dachte ununterbrochen an ihn, er füllte ihre Nächte mit wilden, erotischen Träumen. Gegen Ende der Woche befand sie sich in einem derartigen Aufruhr, dass sie sich ihm am liebsten an den Hals geworfen hätte, als sie sich trafen.

Und dann küsste und streichelte er sie plötzlich. Bei dem Gedanken, wie lichterloh sie damals entbrannt war, wie sie ihn gebeten hatte, nicht aufzuhören – ohne genau zu wissen, womit eigentlich, trieb es ihr jetzt noch die Schamröte ins Gesicht.

Und dann brach plötzlich die Hölle los!

Plötzlich fanden sie sich umgeben von Gestalten, die drohend auf sie herunterblickten. Offensichtlich waren ihre heimlichen Treffen nicht unbeobachtet geblieben. Nic hatte sich schützend vor Maddie gestellt. Sie erinnerte sich noch, wie sie versuchte, mit zitternden Händen ihre Bluse zuzuknöpfen. Das Geschrei und Gebrüll der Männer steigerte ihre Panik ins Unermessliche. Dann hatte man sie beide regelrecht abgeführt. Als Maddie sich nach Nic umdrehte, wurde er gerade von den Männern seines Vaters auf sein Pferd gezerrt, obwohl er sich wie ein Löwe zur Wehr setzte. Sie schluchzte laut auf, als einer der Männer ihm einen Faustschlag versetzte. Aber dann wurde sie selbst grob auf ihren Hengst gehievt und weggebracht.

Ihre Mutter erwartete sie schon. Sie war leichenblass, zugleich schäumte sie jedoch vor Wut. Nur eine einzige Frage stellte sie: „Ist es wahr? Du warst mit Nicolás de Rojas zusammen?“

Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Maddie, wie sich Wider­stand in ihr regte. Sie reckte ihr Kinn und sagte mit fester Stimme: „Ja.“

In keiner Weise war sie auf die schallende Ohrfeige gefasst, die ihre Mutter ihr versetzte. Die Wucht des Schlages war derart heftig, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Plötzlich schmeckte sie Blut auf der Zunge. Schockiert hob sie die Hand an die Wange und starrte die Frau an, von der sie nie eine liebevolle Geste empfangen hatte. Außer natürlich, wenn sie sich in der Öffentlichkeit befanden und ihre Mutter den Eindruck von Nähe vortäuschen wollte.

Dann war ihre Mutter in Tränen ausgebrochen, und Maddie musste sie ins Haus bringen und ihr einen Brandy eingießen, damit sie sich beruhigte.

„Ist es denn wirklich so schlimm, dass ich mit Nicolás … zusammen war? Wir … wir mögen uns“, meinte sie schließlich verständnislos.

Diese Frage löste eine neue Tränenflut bei ihrer Mutter aus. Als sie sich einigermaßen gefasst hatte, zog sie Maddie zu sich auf die Couch. „Du wirst ihn nie mehr sehen, Madalena. Ich verbiete es dir. Denk daran, was du deinem Vater damit antun würdest.“

Wieder rebellierte etwas in Maddie. Sie konnte nicht versprechen, Nic nicht wiederzusehen. Ebenso gut könnte sie sich selbst verleugnen. Sie sprang auf. „Das ist doch lächerlich! Das kannst du mir nicht verbieten! Uns ist diese absurde Familienfehde doch völlig egal!“

Ihre Mutter erhob sich jetzt ebenfalls. „Madalena! Wage es nicht, dich mir zu widersetzen!“

Jahrelang hatte Maddie sich wegen des cholerischen Naturells ihres Vaters möglichst unauffällig verhalten müssen. Sie verstand seinen grenzenlosen Kummer über den Tod seines Sohnes, und auch die Egozentrik ihrer Mutter hatte sie ertragen, aber jetzt explodierte sie. „Wenn ich Nic wiedersehen will, kann nichts und niemand mich daran hindern.“

Plötzlich hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Ihre Mutter sank vor ihren Augen in sich zusammen. Sie fing derart stark an zu zittern, dass Maddie ihr das Glas aus der Hand nehmen musste. „Mutter! Spar dir die Theatralik. Die zieht bei mir nicht mehr!“

„Ich werde dir sagen, warum du ihn nicht mehr sehen darfst.“

Irgendetwas im Ton ihrer Mutter ließ Maddie aufhorchen. Ein unbehaglicher Schauer rann über ihre Haut. „Was meinst du damit?“

Was ihre Mutter ihr dann erzählte, sollte Maddies Welt für immer zerstören.

„Als ich noch ein junges Mädchen war, trafen sich unsere Familien immer bei gesellschaftlichen Anlässen in Mendoza. Ich … ich verliebte mich in Sebastian de Rojas.“ Sie verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln. „Ich stammte nicht aus dieser Gegend und wusste nichts Genaues über die Fehde, die zwischen den de Rojas und den Vasquez herrschte.“

„Du warst in Nicolás Vater verliebt! Okay, aber was hat das mit mir zu tun?“, fragte Maddie verwirrt.

Ihre Mutter wich ihrem Blick aus. Sie presste die Hände im Schoß zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Ich wollte, dass Sebastian mich zur Frau nahm. Aber ich war damals zu jung, und seine Eltern zwangen ihn, eine Frau zu heiraten, die sie ausgesucht hatten. Und er hat es getan … und ihr Sohn Nicolás kam bald danach zur Welt.“ Ihre Stimme brach. „Ich dachte, ich hätte Sebastian für immer verloren … Dann lernte ich deinen Vater kennen.“ In ihren Augen lag ein unsäglicher Schmerz, als sie Maddie ansah. „Ich habe ihn geheiratet, weil ich dann in der Nähe von Sebastian sein konnte. Und als wir uns wiedersahen, begann unsere Affäre sofort wieder. Wir trafen uns in Hotels, wann immer es ging …“ Sie hielt inne und lächelte bitter. „Ich habe mich keinerlei Illusionen hingegeben. Ich wusste immer, ein Teil meiner Anziehung lag darin, dass sich Sebastian dadurch an seinem Widersacher rächen konnte. Natürlich würde er seinen Ruf dafür nie aufs Spiel setzen.“

Maddie hörte plötzlich die Stimme ihrer Mutter wie von weit her.

„Einmal fuhr de Rojas den Winter über nach Europa, um sich dort nach Expansionsmöglichkeiten umzusehen. Als er zurückkam, war ich schwanger mit Alvaro – deinem Bruder. Er wandte sich von mir ab, weil er dachte, ich hätte meine Familie über ihn gestellt.“

In ihren Augen schwammen Tränen, aber Maddie konnte einfach kein Mitgefühl für sie aufbringen. Im Gegenteil – sie war schockiert, wie berechnend ihre Mutter sein konnte. Wozu sie bereit war, nur um ihr Ziel zu erreichen. Sie schreckte nicht einmal davor zurück, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte, nur um einer anderen Frau den Mann ausspannen zu können. „Trotzdem verstehe ich nicht, was das mit Nic und mir zu tun hat.“ Sie ging zur Tür, hörte jedoch, wie ihre Mutter aufstand und ihr nachkam.

„Gleich wirst du verstehen, glaub mir!“

Widerwillig drehte sich Maddie um. Ihre Mutter kämpfte sichtlich mit sich.

„Ich habe nie aufgehört, mich mit Sebastian zu treffen. Es gelang mir, ihn hin und wieder zu … sehen.“ Sie schluckte schwer. „Nach einer dieser Verabredungen entdeckte ich, dass ich schwanger war … mit dir.“ Ihr Gesicht lief hochrot an. „Ich hatte aber auch mit deinem Vater geschlafen. Ich kann einfach nicht mit Sicherheit ausschließen, dass Sebastian de Rojas nicht dein Vater ist.“

Maddie starrte ihre Mutter an. Die Worte schienen gegen eine unsichtbare Glaswand zu prallen und in einem luftleeren Raum zu verhallen. Sie begriff einfach nicht, was das alles bedeutete.

Ihre Mutter schien dies zu bemerken, denn sie fühlte sich genötigt, mit rauer Stimme hinzuzufügen: „Du kannst Nicolás de Rojas nicht mehr treffen, weil er dein Halbbruder sein könnte.“

Maddie glitt das Brandyglas aus der Hand, das sie ihrer Mutter weggenommen hatte. Es zerschellte auf dem Parkettboden in tausend Stücke, aber das nahm sie gar nicht wahr.

Ein wuterfüllter Schrei riss sie aus ihrer Betäubung. Ihr Vater stand in der Tür und schäumte vor Zorn. In seinen Augen lag ein gefährlicher Ausdruck, und mit erstickter Stimme stieß er hervor: „Ich wusste es! Ich wusste immer, dass zwischen euch etwas war. Und mein Sohn? War er wenigsten von mir – oder auch von diesem Bastard?“

Später sollte sich Maddie immer nur sehr vage an die unmittelbar darauffolgenden Ereignisse erinnern. Jedenfalls gab es ein unglaubliches Geschrei und Weinkrämpfe. Irgendwann zerrte ihr Vater sie in ihr Zimmer und sperrte sie ein. Nach einer schlaflosen Nacht kletterte sie heimlich aus dem Fenster, ging in die Stallungen und sattelte ihr Pferd. Ihr war inzwischen alles egal, selbst der Zorn ihres Vaters konnte sie nicht mehr schrecken.

Zu ihrem Entsetzen ertappte sie sich dabei, dass sie instinktiv wieder zu dem Obsthain ritt – und sie war nicht allein. Nicolás de Rojas trat aus dem Schatten der Bäume. Mit düsterer Miene kam er auf sie zu.

Maddies Magen krampfte sich zusammen. In ihrem Innern herrschte Aufruhr. Namenlose Angst erfüllte sie – gleichzeitig flatterte ihr Herz jedoch vor Aufregung. Habe ich womöglich gehofft, ihn zu treffen? überlegte sie. Aber was sich noch gestern so stimmig und richtig angefühlt hatte, war jetzt in den Schmutz getreten und durfte nicht sein. „Was willst du hier?“

„Sehen, ob du kommst.“

Ihn zum Greifen nahe vor sich zu haben, gleichzeitig aber dieses grauenvolle Wissen, überforderte sie. „Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass ich dich nie mehr wiedersehen will!“, stieß sie mit erstickter Stimme hervor.

Sie sah, wie sich seine Miene verfinsterte, und fuhr schnell fort: „Du solltest gehen. Jetzt!“

Er kam jedoch auf sie zu und legte die Hand auf ihren Arm. „Das glaube ich dir nicht! Lässt du dich wirklich so leicht von ihnen einschüchtern?“

Die Berührung war einfach zu viel. Maddie riss sich los. „Fass mich nicht an! Ich kann es nicht ertragen!“ Sie drehte sich abrupt um. Plötzlich war ihr eiskalt, und sie zitterte am ganzen Körper. Als sie sich wieder zu Nic umdrehte, war er leichenblass. „Bitte … geh weg. Es ist vorbei.“

„Das sah aber gestern noch ganz anders aus.“

„Gestern war gestern. Heute ist heute. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Es kostete sie unsägliche Anstrengung, die Worte hervorzubringen. Ihr war schlecht, und sie musste gegen eine Ohnmacht ankämpfen.

Nic rührte sich nicht von der Stelle. Panik stieg in ihr auf. Sie konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen. Nicht bei den Gefühlen, die er in ihr hervorrief, obwohl er doch womöglich …

Wieder krampfte sich ihr Magen zusammen. „Ich hatte Langeweile! Ich wollte sehen, ob es mir gelingen würde, dich zu verführen. Es war ein Tabu, das hat mich gereizt. Und das war schon alles!“

Maddie hob den Kopf vom Lenkrad, als ihr der Scheinwerfer eines Autos ins Gesicht schien. Sie fühlte sich von dieser Reise in die Vergangenheit wie gerädert. Ich will mich nicht erinnern! Schon gar nicht an das, was anschließend folgte.

Nic war auf sie zugetreten. Eiskalte Verachtung lag in seinen Augen. „Du mieses Stück! Eigentlich dachte ich, diese Familienfehde hätte mit uns nichts zu tun. Aber ich habe mich getäuscht. Gerade eben hat sie neue Nahrung bekommen.“

Wenn er nur gehen würde, wünschte Maddie inständig. Als er dann tatsächlich fort war, sank sie ins Gras und weinte. Sie konnte nicht mehr aufhören, bis sie in einen erschöpften Schlaf fiel.

Als sie Stunden später nach Hause zurückkehrte, musste sie entdecken, dass ihre Koffer bereits gepackt waren. Ihr Vater wartete mit ihrer Mutter im Wagen auf sie. Ohne ein Wort der Erklärung brachte er sie beide zum Flughafen und setzte sie dort ab. „Ich habe keine Frau und Tochter mehr“, verkündete er und fuhr davon.

Sie flogen nach Buenos Aires zu einer Tante. „Ich will wissen, wer mein Vater ist. Das bist du mir schuldig“, verlangte Maddie.

Ihre Mutter stimmte nach langen Kämpfen letztendlich zu. Der Preis dafür, dass ihr künftiger Exehemann ebenfalls in einen DNA-Test einwilligte, war jedoch hoch. Sie musste bei der Scheidung auf alles verzichten, und das verzieh sie ihrer Tochter nie.

Einen Monat, nachdem sie Mendoza verlassen hatten, suchte Maddie ein Labor in Buenos Aires auf, und zwei Wochen später bekam sie das Ergebnis: Sie war nicht mit Nicolás de Rojas verwandt. Sie war eindeutig eine Vasquez.

Ein schwacher Trost, da sie wusste, sie würde die Enthüllungen ihrer Mutter mit ins Grab nehmen. Dazu kam die schreckliche Gewissheit, dass es Nic einfach nur um Sex gegangen war. Sie hatte angenommen, er würde ihr sein wahres Wesen enthüllen, etwas ganz Persönliches mit ihr teilen. Dabei war alles nur Theater gewesen, um sie in Sicherheit zu wiegen. Allein der Gedanke daran, wie einfach es war, sie derart zu manipulieren, trieb ihr immer noch die Schamesröte ins Gesicht.

Sie hatte damals ihrem Vater das Ergebnis des Vaterschaftstests mitgeteilt, aber er hatte sie weiterhin für die Sünden ihrer Mutter büßen lassen – bis auf seinem Totenbett. Und jetzt stand Maddie vor der Aufgabe, den letzten Wunsch ihres Vaters zu erfüllen. Das hieß: Sie musste Nicolás de Rojas vergessen und ihre ganze Energie daran setzen, den Vasquez-Besitz zu retten.

„Die hast du gestern vergessen, Cinderella.“

Maddie erstarrte, als sie die sonore, nur allzu vertraute Stimme hinter sich vernahm. Unvermittelt überlief sie eine Gänsehaut. Zögernd hob sie ihren Blick von den Weinstöcken, die sie gerade inspizierte. Im Gegenlicht sah sie eine Gestalt, die ihr ein Paar Schuhe entgegenstreckte.

Ihr wurde schwindelig. Letzte Nacht hatte sie kaum ein Auge zugetan, da unentwegt die haarsträubendsten Bilder in ihrem Kopf kreisten. Außerdem drohten schlimmste Albträume, sollte sie die Augen schließen. Es konnte also durchaus sein, dass sie gerade halluzinierte.

Widerwillig stand sie auf, als auch nach ein paar Sekunden weder die Gestalt noch die Schuhe verschwanden. Sie nahm sie Nic aus der Hand. „Du hättest dich wirklich nicht persönlich bemühen müssen“, sagte sie unfreundlich.

In den verschlissenen Jeans, dem alten T-Shirt und den abgeschabten Reitstiefeln fühlte sie sich dieser Begegnung nicht gewachsen. Glücklicherweise verdeckte die Krempe ihres Gaucho-hutes ihre Augen. Nic war ebenfalls leger gekleidet. Das blaue Polohemd und die verwaschene Jeans saßen wie eine zweite Haut und betonten seinen athletischen Körper.

„Die Frage, warum du ein Kleid und Schuhe trägst, die dir mindestens eine Nummer zu groß sind, ließ mir einfach keine Ruhe.“

Das Blut schoss Maddie in die Wangen. Wütend funkelte sie ihn an. Wieso kennt er meine Schuhgröße? Aber gegen seine Ausstrahlung und den durchdringenden Blick seiner funkelnden blauen Augen fühlte sie sich machtlos. „Sie sind noch von meiner Mutter“, murmelte sie.

Er hob eine Augenbraue. „Dein Gepäck ist verloren gegangen?“

„Klar, alle vierundzwanzig Designerkoffer – obwohl ich extra mein Monogramm hatte eingravieren lassen“, antwortete sie sarkastisch.

Erst jetzt wurde ihr die Dimension dessen bewusst, was gerade geschah. Nicolás de Rojas wurde Zeuge ihres Scheiterns. Wütend funkelte sie ihn an. „Wie bist du überhaupt hierhergekommen? Ich möchte, dass du sofort verschwindest. Du befindest dich auf Privatbesitz!“

Nic gab einen besänftigenden Laut von sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Dies lenkte Maddies Aufmerksamkeit auf die mächtigen Muskeln seiner Arme. Sie hätte sich ohrfeigen können.

„Wie unhöflich! Dabei habe ich dir gegenüber gestern ein extremes Maß an Gastfreundschaft bewiesen! Immerhin haben wir Geschichte geschrieben, Maddie. Zum ersten Mal wurde die Kluft zwischen unseren Familien überwunden.“ Sein Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. „Natürlich abgesehen von der unappetitlichen Affäre deiner Mutter mit meinem Vater. Nicht zu vergessen … unsere eigenen unbefriedigenden Versuche in dieser Richtung.“

Übelkeit stieg in Maddie auf. „Das ist lange her.“ Sie hob trotzig das Kinn und sah, wie sein Gesicht versteinerte.

„Du bist mir wirklich ein Rätsel, Madalena Vasquez. Irgendwie sehe ich dich trotz allem nicht so recht als Winzerin.“

Sie erstarrte, dann fiel ihr die Unterhaltung mit Eduardo, Nics Angestelltem, ein. „Müssen deine Mitarbeiter jetzt jedes meiner Worte an dich weitertragen? Oder hast du sie mit Mikrofon und Aufnahmegerät versehen und hörst die Bänder später ab?“

„Du willst doch nicht wirklich behaupten, du hättest es geschafft, in dein bewegtes Privatleben ein Studium für Önologie und Weinbau einzubauen?“ Seine Stimme klang absolut ungläubig.

„Offensichtlich hat dich ja auch dein eigenes bewegtes ‚Privatleben‘ nicht davon abgehalten, einer der jüngsten ‚Master of Wine‘ zu werden!“, konterte sie wutentbrannt.

„Ach, hast du dich auf dem Laufenden gehalten, was mich betrifft, Maddie?“

Sie errötete bis unter die Haarwurzeln und sah zu Boden. Dann gewann jedoch ihr Stolz die Oberhand. Sie hob den Kopf. „Ich habe letztes Jahr mein Studium mit Auszeichnung bestanden. Wenn du mir nicht glaubst – du kannst gerne an der Universität von Bordeaux nachfragen.“

„Und wer soll das finanziert haben, Maddie? Ein großzügiger Liebhaber? Oder hast du deine Prüfungen ‚auf der Couch‘ abgelegt?“