Das 15. Jahrhundert

 

 

 

Die Renaissance wurde im Florenz des 15. Jahrhunderts geboren. Der erste Theoretiker dieser revolutionären Kunst war Leon Battista Alberti (1404-1472), ein Architekt und Humanist, der das Ideal des „Universalmenschens“ repräsentierte. Sein Buch De Pictura wurde zwischen 1435 und 1436 veröffentlicht und war das Schlüsselwerk für viele andere Theoretiker der Renaissance, die ihm folgten. In seiner Abhandlung werden praktische Beispiele für die Techniken der Malerei und der Zeichenkunst beschrieben, ähnlich den vorhergehenden Texten, allerdings treffen Albertis „Rezepte“ auf eine neue Weise die Empfindsamkeit seiner Zeitgenossen. Der Mensch, der Gemälde und Skulpturen erschafft, ist nicht länger ein Handwerker, sondern ein Künstler, der intellektuell ebenso viel arbeitet wie handwerklich. Kunst und Wissenschaft gehören zusammen und die Perspektive ist das Schlüsselelement. In dem folgenden Auszug, der aus seinem zweiten Buch Über die Malkunst stammt, spricht Alberti daher von einer „Sehpyramide“:

 

[Die Malkunst] ist die einzige angemessene eines edlen und freien Geistes, für mich liegt der beste Hinweis auf seine außergewöhnliche Genialität in seiner Hingabe zur Zeichnung. [...] Also gliedert sich die Malkunst in Umschreibung, Komposition und Lichteinfall. [...] Die Umschreibung wird jenes sein, was das Abgrenzen des Saumes in einem Gemälde bezeichnet. [...] Für eine solche Umschreibung ist, denke ich, besonders darauf zu achten, dass sie mit ganz feinen, fast unsichtbaren Linien gemacht wird. Darin pflegte sich der Maler Apelles zu üben und mit Protogenes zu wetteifern. [...]

Und ich möchte, dass nichts anderes umschrieben wird als der Verlauf des Saums. Darin muss man sich, versichere ich, sehr viel üben. Keine Komposition und kein Lichteinfall kann gelobt werden, wenn nicht auch eine gute Umschreibung vorhanden ist; und dennoch sieht man nicht selten eine gute Umschreibung für sich allein, was heißt, dass eine gute Zeichnung schon höchst anmutig sein kann. Damit also soll man sich hauptsächlich beschäftigen.

Ich bin überzeugt, dass zum guten Gelingen der Umschreibung sich nichts Geeigneteres finden lässt als jenes Velum, das ich in meinem Freundeskreis Schnittfläche zu nennen pflege. Dabei handelt es sich um Folgendes: Es ist ein hauchdünnes Tuch aus losem Gewebe, nach Belieben gefärbt, und mit etwas dickeren Fäden in eine beliebige Anzahl von Parallelen unterteilt. Dieses Velum stelle ich zwischen das Auge und den gesehenen Gegenstand, und zwar so, dass die Sehpyramide das lose Gewebe des Tuches durchdringt.

Dieses Velum bietet dir sicher einen nicht geringen Vorteil: Erstens gibt es dir die gleiche Oberfläche immer unverrückt wieder, auf der du die ursprüngliche Spitze der Pyramide dank der angebrachten Markierungen sofort wiederfindest, was ohne Schnittfläche sicher schwierig wäre. Und du weißt, dass es fast unmöglich ist, einen Gegenstand richtig nachzubilden, wenn er nicht ständig dieselbe Ansicht bietet. [...] Deshalb wird dir das Velum, durch das der Gegenstand stets die gleiche Erscheinung aufweist, wie gesagt, von nicht geringem Nutzen sein.

Der zweite Vorteil besteht darin, dass du damit die Markierungen der Säume und der Oberflächen leicht festlegen kannst. So wie du in diesem Quadrat die Stirn und in jenem die Nase, in einem andern die Wangen, im darunterliegenden das Kinn und so jeden Gegenstand am entsprechenden Ort siehst, wirst du entsprechend jeden Gegenstand auf eine Tafel oder auf eine Wand, die in entsprechende Quadrate eingeteilt sind, genau übertragen können. […]

Ich will nicht auf diejenigen hören, die da vorbringen, es gezieme dem Maler wenig, sich an solche Dinge zu gewöhnen, die ihm beim Malen zwar große Hilfe leisten, aber so unentbehrlich werden, dass du ohne sie nichts mehr zustande bringst. Ich glaube nicht, dass man von einem Maler unendlich große Mühe fordert, vielmehr erwartet man ein Gemälde, das ein ausgeprägtes Relief und Ähnlichkeit mit dem Vorbild aufweist; das ist meiner Meinung nach ohne die Hilfe des Velums unmöglich zu vollbringen.

Deshalb gebrauche man diese Schnittfläche, das Velum, wie ich es sagte. Und wenn es einen reizt, sein Talent ohne Velum zu beweisen, so soll man sich trotzdem die Markierungen der Gegenstände innerhalb der Quadrate des Velums merken, oder anders gesagt, man soll sich während des Betrachtens immer eine Linie, die von einer anderen Linie, die senkrecht zu ihr steht, geschnitten wird, dort vorstellen, wo eine Markierung festgelegt wird.

 

Leon Battista Alberti, Über die Malkunst – Della Pittura (1435-1436)