Unter den vielen großen Künstlern der Renaissance leuchten nur wenige so hell wie Leonardo da Vinci (1452-1519), dessen Werke in allen Bereichen des menschlichen Wissens von Generation zu Generation eine Quelle der Inspiration ist. Durch da Vinci erfährt der Leser, wie die Kunst der Malerei über derjenigen der Wissenschaft steht, mit ihren eigenen Regeln erhöht wird und die Künstler als Intellektuelle, nicht mehr nur als Handwerker angesehen werden.
Dabei steht die Perspektive bei der Auseinandersetzung rund um die Kunst unangetastet im Zentrum, wobei auch der Zeichnung eine zentrale Rolle eingeräumt wird. Es kam in der Zeit Leonardos und in den folgenden Jahrhunderten zu heftigen Debatten zwischen den Verteidigern der Zeichnung und denen der Farbe, die darüber stritten, welche der beiden eine wichtigere Rolle in der Malerei spielt. Bei seinem obsessiven Studium der menschlichen Natur hat Leonardo in seinen hochinteressanten Notizen zusammengefasst, wie menschliche Gesichter zu lesen seien und von diesen unzählige Skizzen angefertigt. Somit geben die folgenden Auszüge einen Einblick in die herausragenden Gedanken eines Genies.
Vom Irrthum derer, welche die Praxis üben ohne die Wissenschaft
Diejenigen, welche sich in die Praxis ohne Wissenschaft verlieben, sind wie Schiffer, die ohne Steuerruder oder Compass zu Schiffe gehen, sie sind nie sicher, wohin sie gehen. Die Praxis soll stets auf guter Theorie aufgebaut sein; und von dieser ist die Perspective Leitseil und Eingangsthür, ohne sie geschieht nichts recht in den Fällen der Malerei.
Von der Linear-Perspective
Die Linear-Perspective erstreckt sich auf den Dienst der Sehlinien und beweist (oder zeigt) auf’s Maass, um wie viel ein Gegenstand des zweiten Planes kleiner ist als einer des ersten, um wie viel ein dritter kleiner als der zweite erscheint, und so von (Entfernungs-)Grad zu (Entfernungs-)Grad bis an’s Ende der gesehenen Gegenstände. Ich finde durch Experimente heraus, dass ein zweiter Gegenstand, der vom ersten so weit entfernt steht wie der erste vom Auge, wenn beide Gegenstände an (realer) Größe einander gleich sind, um die Hälfte kleiner wird als der erste. Dass fernerhin ein dritter Gegenstand, ebenso groß wie der zweite und erste vorher, der vom zweiten wieder so weit entfernt ist wie dieser vom vordersten, nur noch 1/3 von der Größe des ersten zeigt. Und so werden alle weiteren Gegenstände, wenn die Entfernungsgrade zwischen ihnen immer die gleichen bleiben, auch fernerhin von Grad zu Grad in einer Größenproportion abnehmen, die sich nach der Zahlenproportion der Entfernungsgrade richtet. [...].
Art und Weise, die Form des Gesichtes im Gedächtniss zu behalten.
Willst du dir Gewandtheit darin erwerben, die Miene eines Gesichtes im Gedächtniss zu behalten, so lerne erst von vielen Gesichtern Nasen, Münde, Kinne, Kehlen und auch die Hälse und Schultern auswendig. Wir setzen den Fall, die Nasen sind von zehnerlei Art. [...] Von vorn gesehen sind die Nasen von elferlei Art. [...] Und ähnlich wirst du auch für die anderen Theile die verschiedenen Möglichkeiten ausfinden. Dergleichen Dinge musst du nun nach der Natur zeichnen und sie im Gedächtniss behalten, oder aber, wenn du ein Gesicht aus dem Gedächtniss machen sollst, ein kleines Büchlein mit dir nehmen, worin solche Bildungen angemerkt sind; und hast du dir nun das Gesicht der Person, die du portraitiren willst, angeschaut, so siehst du nachher im Büchlein nach, welche Nasen- oder Mundart der ihrigen gleicht, und dabei machst du dir ein kleines Merkzeichen, dass du’s wiederfindest. Danach, zu Hause, setzest du das Gesicht zusammen. Von monströsen Gesichtern rede ich nicht, denn die behält man ohne Mühe im Gedächtniss.
Wie der Maler bereitwillig sein soll, bei der Arbeit das Urtheil eines Jeden anzuhören.
Sicherlich soll ein Mann, während er malt, sich nicht weigern, eines Jeden Urtheil anzuhören. Denn wir wissen klar, dass ein Mensch, auch wenn er nicht Maler ist, doch mit der Form eines anderen Menschen bekannt ist und recht wohl beurtheilen werde, ob dieser buckelig sei, ob er eine hohe oder eine niedrige Schulter habe, oder einen zu großen Mund, Nase, oder sonstige Mängel. Sehen wir nun ein, dass die Leute im Stande sind, die Werke der Natur wahrheitsgemäß zu beurtheilen, um wie viel mehr wird es uns anständig sein zu bekennen, dieselben vermöchten auch über unsere Versehen zu richten.
Leonardo da Vinci, Trattato della pittura (Die Trattato della pittura ist eine Zusammenstellung des Originalmanuskripts von da Vinci, ausgearbeitet von Francesco Melzi, um 1540)