Vincenzo Carducci (um 1578-1638), ein italienischer Künstler und Kunsttheoretiker, lebte in Spanien zu Zeiten von Diego Velázquez (1599-1660) und Francisco de Zurbarán (1598-1664). In seinem bedeutsamen Traktat über die Malerei drückt er sich in der klassischen Form des Dialogs aus. Darin beschreibt er die Gespräche zwischen einem ehrgeizigen jungen Künstler und seinem Meister, in denen Letzterer mit seinem Schüler über die verschiedenen Etappen der Malkunst diskutiert. Obwohl er sich nicht deutlich für die Linie oder die Farbe entscheidet, führt Carduccis Text dem Leser eindeutig die entscheidende Rolle der Zeichnung vor Augen. In dem folgenden Auszug hebt der Meister nicht nur die Bedeutung der handwerklichen Fähigkeiten, sondern auch und vor allem die noch wichtigere Rolle des Geistes hervor. Der Text vermittelt eine Idee zeitgenössischen Denkens und Empfindens der Künstler und ihrer tiefen Anerkennung der Renaissance und der in ihr zugeschriebenen Rolle der Zeichnung:
„Meister: [...] Wann auch immer du das Wort ‚Zeichnung’ vernimmst, solltest du immer an sie als Perfektion der Malkunst denken. [...] Wenn wir bekanntlich den Ausdruck ‚eine gute Zeichnung’ hören, erinnern wir uns immer an diese, als wenn wir an ein perfektes Gemälde denken, in dem schöne Formen und Proportionen vorherrschen, in dem die verschiedenen Teile in einer stimmigen Relation zum Ganzen stehen, und das ist es, was wir eine formale Zeichnung nennen; [...] eine ausdrucksstarke [Zeichnung] ist es, wenn diese [...] perfekt im Geiste geformt und mittels der Hände in Linien auf dem Papier realisiert wird. [...] Es ist unmöglich, in einer dieser Künste [Malerei, Plastik, Architektur] herausragend zu sein, ohne vorher eine bedachte und präzise Zeichnung anzufertigen. [...].
Schüler: Ich weiß jetzt, dass wir zu Unrecht nur denjenigen einen guten Zeichner nennen, der weiß, wie er ausschließlich mit Feder, Tusche, Griffel und farbigen Zeichenstiften umzugehen hat. [...].
Meister: Wovon du sprichst, bezieht sich lediglich auf die materielle Zeichnung, [...] und diese wird so bezeichnet, da sie ein Teil des Ganzen ist. [Die formale Zeichnung] ist die visuelle Demonstration des vom Künstler bereits Gelernten, das Vernunftbewusste. [...] Die Zeichnung ist der Grund dafür, dass du dieses sehen wirst, wenn du auf ein Bild schaust. Als Erstes werden deine Augen immer das gute oder auch schlecht Gezeichnete erfassen. Entweder weiß der Künstler zu zeichnen oder nicht, und in einem Gemälde und in einer Plastik sehen wir keine Linien mehr. [...]
Um ein Bespiel zu nennen: Wenn wir einen Text lesen und sagen, dass dieser gut geschrieben ist, dann meinen wir nicht, dass der Autor eine schöne Handschrift besitzt, sondern das, was er schreibt, ist präzise, lehrreich und verständlich. Wir müssen in eine ähnliche Richtung denken, wenn wir über eine Zeichnung sprechen, dass diese beispielsweise wohlgeformte Proportionen und stimmige Formen hat. [...].
Eine formale Zeichnung ist der erste Schritt zu einem Gemälde. Durch geschulte Hände wird die Perfektion der Proportionen und die Perspektive in den Linien sowie Licht und Schatten festgelegt. [Die Zeichnung wird unterteilt] in drei verschiedene Formen: die erste ist diese, in welcher das Motiv durch Erinnerungen, das Lesen von Büchern oder durch die bloße Fantasie, für gewöhnlich bekannt als ‚Erfindung’, verbildlicht wird. [...] Diese Form wird von jenen Künstlern benutzt, die am geschicktesten sind, ihre Ideen auf Papier bildlich darzustellen [...] und ihre Skizzen zu verlebendigen, wie einen Embryo, den er mit Wissen und Durchblick füttert bis er die bestmögliche Perfektion erreicht hat. [...].
Die zweite Form ist die schwierigste und ehrenwerteste; wenn die erste das Resultat aus der Kraft des Genius sein kann, dann existiert die zweite nur durch viel Arbeit und Studieren, nachdem jener seine Inspiration von den Erinnerungen aus Büchern genommen hat, die ihm dabei helfen, sein gewünschtes Motiv angemessen zu repräsentieren. [...].
Die dritte Form und am wenigsten ehrenwerteste ist diese, die von anderen Zeichnungen, der Natur oder einfach von einem Modell kopiert und nur auf die Imitation ausgerichtet ist.“
Vincenzo Carducci, Diálogos de la pintura, 1633