Das 19. Jahrhundert

 

 

 

Obwohl die akademische Theorie daran festhielt, die offizielle Autorität für Kunst in den 1800er Jahren zu sein, entstand genau in diesem Jahrhundert zum ersten Mal in der Kunstgeschichte eine konkurrierende Kunstströmung. Einer der wenigen, der sich heftig gegen die Akademie und ihre Traditionen auflehnte, war der französische Dichter Charles Baudelaire (1821-1867). Baudelaire ist ein gutes Beispiel für einen Künstler der Moderne, ein Mann mit dem Lebensstil eines Bohemiens, der keinen anderen Meister als seine eigene Vorstellungskraft benötigte. Nicht nur seine Schriften, sondern auch die Art und Weise, wie er diese vermittelt, machen Baudelaires Kunstkritiken so radikal modern. Seine Absicht war es weniger, zu belehren als vielmehr zu provozieren, um die bürgerlichen Traditionen zu verändern.

Da Baudelaire die traditionellen Werte der Kunst als abstoßend und verwerflich empfand, überrascht es nicht, zu erkennen, dass die Bedeutung der Zeichnung – die sich seit der Renaissance nicht wesentlich verändert hat – einer seiner Hauptangriffspunkte war. In den nachfolgenden Auszügen ist zu erkennen, dass sich Baudelaire für eine neue Form der Kunst ausspricht, die in seinen Augen allein von einem einzigen Meister der modernen Malerei repräsentiert wird, von Eugène Delacroix (1798-1863):

 

 

[...] Wenn wir sagen, dass ein Gemälde gut gemalt ist, meinen wir nicht, dass es wie von Raffael gemalt ist; wir meinen, dass es auf eine unkonventionelle und intellektuelle Weise gemalt ist; dass diese Form der Zeichnung, die ihre Analogie bei den großen Meistern der Farbe hat, beispielsweise bei Rubens, der gekonnt die Bewegung, die Erscheinung, den ausweichenden und bebenden Charakter der Natur erfasst, was die Zeichnungen Raffaels niemals wiedergeben können.

 

Entnommen seiner Schrift zum Salon de 1845

 

 

Im vorstehenden Text war nicht von der ideenreichen und schöpferischen Zeichnung die Rede, denn im Allgemeinen ist dieses Privileg den Koloristen vorbehalten. [...] Echte Zeichner sind Naturalisten, ausgestattet mit einem hervorragenden Sinn; aber sie zeichnen vor dem Modell, wenngleich die Koloristen, die großartigen Koloristen, mit Hilfe ihres Temperaments malen, auch wenn sie dies nicht wissen. Sie verwenden die gleiche Methode wie die Naturalisten: sie malen wegen der Farbe, und die echten Zeichner, wenn sie sinngemäß und getreu zu ihrer Profession stehen möchten, müssen gleich ihrer selbst mit schwarzem Kreidestift zeichnen. Dennoch widmen sich sich mit unvorstellbarem Eifer der Farbe und nehmen dabei nicht einmal diesen Widerspruch wahr. Sie beginnen in einer absoluten und konsequenten Weise mit der Begrenzung von Formen und möchten danach die so entstandenen Zwischenräume ausfüllen. Diese sich doppelnde Methode durchkreuzt ihre unaufhörlichen Bemühungen. [...]

Dies ist ein ewig andauernder Prozess, eine ermüdende Dualität. Ein Zeichner ist ein gescheiterter Kolorist. [...] Des Öfteren möchten wir wissen, ob ein Mensch zur gleichen Zeit ein großartiger Kolorist und ein herausragender Zeichner sein kann. Ja und nein; da es verschiedene Formen der Zeichnung gibt. Die Qualität eines echten Zeichners liegt vor allem in seiner Spezialisierung, und diese Spezialisierung schließt den Pinselstrich aus. [...]

Aufmerksam der Linie folgend und die geheimsten Schwankungen entdeckend, haben sie [die Zeichner] nicht die Zeit, Luft und Licht zu beobachten, das heißt, ihre Auswirkungen zu beobachten, und sie drängen sich auch nicht danach, diese zu sehen, um ihrer Ausbildung nicht zu schaden. [...] Die Koloristen malen wie die Natur, ihre Figuren sind natürlich begrenzt durch das ebenmäßige Licht der Farbschicht. Echte Zeichner sind Philosophen [...]. Koloristen sind epische Dichter.

 

Entnommen seiner Schrift zum Salon de 1846

 

 

[...] Um die Wahrheit zu sagen, es gibt in der Natur weder Linien noch Farben. Dies sind zwei Abstraktionen, die ihren ebenbürtigen Adel aus der gleichen Quelle herleiten. Ein geborener Zeichner (ich nehme an, es sei ein Kind) schaut nach einem bestimmten Bogen in der bewegten oder unbewegten Natur, und von diesem zieht er eine bestimmte „Sinnlichkeit“, an der er bei der Festsetzung des Gedankens mittels der Linie auf Papier Gefallen findet, dabei übertreibt und vermindert er die Biegung mit Hilfe seiner Fantasie; auf diese Weise lernt er, Kontur, Eleganz und Charakter in seine Zeichnung zu bringen.

 

Charles Baudelaire: Werk und Leben von Eugène Delacroix, 1863

 

 

[...] Er malt aus seinen Erinnerungen, nicht nach einem Modell, außer in dem Fall, in dem die dringende Notwendigkeit besteht, unmittelbar eine schnelle Aufzeichnung zu machen und die Hauptlinien des Subjekts am Modell festzuhalten. Vielmehr zeichnen alle großen und wahren Zeichner nach Abbildern in ihren Köpfen und nicht nach der Natur. Betrachtet man die bewundernswerten Zeichnungen von Raffael, Watteau und vielen anderen, werden wir sagen, das sind nur Skizzen, wahrlich sehr akkurat, aber nur Skizzen. Wenn ein echter Künstler zur endgültigen Ausführung seiner Arbeit kommt, wird das Modell für ihn eher ein Hindernis als eine Unterstützung sein.

 

Charles Baudelaire: Der Künstler und das moderne Leben, 1863