Die von den Romantikern proklamierte Freiheit und ihr Erfolg während des 19. Jahrhunderts ebneten den Weg für die künstlerischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Der Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1939 zeugt von einer beispiellosen Anzahl neuer Kunstströmungen: manche bildeten lose Gruppen gleichgesinnter Künstler, die in gemeinsamen Ausstellungen ihre Arbeiten zeigten; andere waren, ähnlich wie in militärischen Kommandotruppen, enger miteinander verbunden. Als Definition für diese engere Verbindung wurde der Begriff Avantgarde eingeführt.
Es ist unmöglich, für all diese verschiedene Gruppierungen von Künstlern eine einheitliche Kunsttheorie zu finden. Als Referenz für das ereignisreiche 20. Jahrhundert gibt der folgende Text des Malers und Grafikers Paul Klee (1879-1940) einen Einblick in seine aussagekräftigen Theorien über moderne Kunst. Er war zwar genauso modern wie seine zeitgenössischen Künstlerkollegen, wies aber, ähnlich wie einige andere, jegliche Verallgemeinerung zurück. Vielleicht kann man in seinen Worten Formen kunsttheoretischer Gemeinsamkeit finden, die die meisten Künstler der Moderne für sich beanspruchen würden:
I. Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Das Wesen der Grafik verführt leicht und mit Recht zur Abstraktion. [...] Formelemente der Grafik sind: Punkte, lineare, flächige und räumliche Energien. [...]
II. Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topografischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem holen (unterbrochen oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluss will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden [ist]. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien). Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie).
III. Wir durchqueren einen umgepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes. Ganz kühl bin ich auch nicht mehr; über neuer Flussgegend liegt Nebel (räumliches Element). Bald wird es indessen wieder klarer. Korbflechter kehren heim mit ihren Wagen (das Rad). Bei ihnen ein Kind mit den lustigsten Locken (die Schraubenbewegung). Später wird es schwül und nächtlich (räumliches Element). Ein Blitz am Horizont (die Zickzacklinie). Über uns zwar noch Sterne (Punktsaat). Bald ist unser erstes Quartier erreicht. Vor dem Einschlafen wird manches als Erinnerung wieder auftauchen, denn so eine kleine Reise ist sehr eindrucksvoll. Die verschiedensten Linien. Flecken. Tupfen. Flächen glatt. Flächen getupft, gestrichelt. Wellenbewegung. Gehemmte, gegliederte Bewegung. Gegenbewegung. Geflecht, Gewebe. Gemauertes, Geschupptes. Einstimmigkeit. Mehrstimmigkeit. Sich verlierende, erstarkende Linie (Dynamik). Das frohe Gleichmaß der ersten Strecke, dann die Hemmungen, die Nerven! Verhaltenes Zittern, Schmeicheln hoffnungsvoller Lüftchen. Vor dem Gewitter der Bremsenüberfall! Die Wut, das Morden. Die gute Sache als Leitfaden, selbst in Dickicht und Dämmerung. Der Blitz mahnte an jene Fieberkurve eines kranken Kindes. ... Damals. [...]
IV. [...] Bewegung liegt allem Werden zugrunde. In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff. Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen. Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus. Und der Besucher, wird er auf einmal fertig mit dem Werk? (Leider oft ja.)
V. Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, dass das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist und dass andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind. Die Dinge erscheinen in erweitertem und vervielfachtem Sinn, der rationellen Erfahrung von gestern oft scheinbar widersprechend. Eine Verwesentlichung des Zufälligen wird angestrebt.
Paul Klee: Schöpferische Konfession, 1920