Ihr Rücken tat weh. Iselin lag schräg auf der Rückbank, die Füße hinter dem Fahrersitz auf dem Boden. Ihr Kopf drückte sich knapp unterhalb des Fensters gegen die Tür und den Bezug der Lehne.
Sie starrte den fremden Mann an, der neben ihr auf der Rückbank saß. Er war so groß, dass sein Kopf am Himmel anstieß. Der Hals war sehnig, und die Haut zog sich straff über sein Gesicht. Dunkle Augen. Er sah sie nicht an, sein ganzer Körper wirkte angespannt. Einsatzbereit, falls sie etwas versuchen sollte.
»Was habt ihr mit mir vor?«, fragte sie.
Die Stimme zitterte.
»Wer seid ihr?«
Keine Antwort.
Ihr Hals war trocken, und sie versuchte zu schlucken. Die Angst kam in Wellen. Was sie zu Hause bei Kovic erlebt hatte, spielte sich wieder und wieder vor ihrem inneren Auge ab. Sie empfand dieselbe Panik, nur mit dem Unterschied, dass sie sich jetzt nicht rühren und nicht fliehen konnte. Die Angst presste sich gegen ihre Brust.
Hatte das, was bei Kovic geschehen war, mit dem hier zu tun?
Iselin bereute es, nicht laut geschrien und keinen Widerstand geleistet zu haben. Sie hätte die Aufmerksamkeit der anderen Passanten auf sich ziehen können. Aber die Drohung der Männer hatte sie komplett paralysiert.
»Ich töte deinen Vater, wenn du nicht tust, was ich sage.«
Zuerst hatte sie ihn einfach nur angesehen und ihren Ohren nicht getraut. Die Kälte in seinem Blick hatte sie überzeugt.
»Ich töte auch deine Mutter, wenn sie aus Singapur zurückkommt, und Cecilia, deine beste Freundin.«
Iselin hatte wie gelähmt dagestanden und kein Wort herausgebracht.
»Gib mir dein Telefon.«
Iselin hielt es in der Hand, sie hatte gerade erst Emma eine Nachricht geschrieben. Als sie es ihm nicht sofort gab, riss er es ihr aus der Hand und schaltete es aus.
Dann packte er ihren Arm und führte sie aus der Torggata weg. Gleich darauf war sie in das Auto gestoßen worden, in dem sie sich auf die Rückbank legen sollte. Nicht aufrichten, nichts sagen, still liegen bleiben.
Der Mann auf dem Sitz vor ihr hatte sich beinahe panisch umgedreht.
»Verdammt, was …?«
»Fahr!«
»Aber …«
»Fahr, sage ich. Langsam und normal. Wir reden später darüber.«
Das laute Hupen der Straßenbahn ließ den Fahrer Gas geben.
»In was ziehst du mich da wieder rein?«
»Du warst mir noch einen Gefallen schuldig …«
»Du wolltest ein Auto, nicht … Bist du denn komplett verrückt? Die hätten dich niemals rauslassen dürfen!«
Vorläufig hatte Iselin freie Hände, ihr war aber nicht entgangen, dass der Mann neben ihr eine Waffe unter der Jacke trug, die er mit einer Hand umklammerte. Der Wagen hielt immer wieder an und wurde langsamer, aber sie lag ungünstig und wusste, dass jeder Versuch, die Tür zu öffnen, schon im Keim erstickt werden würde.
Sie dachte an Emma. An ihren Vater. Wie sollte sie ihn informieren, dass sie entführt worden war? Denk an das, was du gelernt hast, ermahnte sie sich selbst. Nutz dein Wissen. Aber ihr Kopf war leer.
Der Wagen wurde schneller. Die Gebäude verschwanden. Iselin versuchte, sich etwas aufzurichten, damit ihr Rücken weniger wehtat, aber jede Bewegung, die die Muskeln in ihrem Bauch und an den Rippen involvierte, jagte einen stechenden Schmerz durch ihren Oberkörper. Sie versuchte, eine Grimasse zu verbergen.
Zwischendurch warf der große Mann ihr einen scharfen Blick zu, lange sah er sie aber nie an. Iselin bemerkte die Schweißtropfen auf seiner Oberlippe, die Hektikflecken an seinem Hals. Seine Knie bewegten sich konstant auf und ab.
Draußen waren jetzt Bäume zu sehen. Der Mann hinter dem Steuer fuhr ruhig, ohne etwas zu sagen. Irgendwann schaltete er das Radio ein, wechselte aber ständig die Sender und erhielt schließlich von hinten den Befehl, das Radio wieder auszuschalten und sich aufs Fahren zu konzentrieren.
»Was hast du mit ihr vor?«, kam es von vorne.
Die Antwort blieb aus.
Iselin schluckte und versuchte nachzudenken, ihr kam aber kein einziger, vernünftiger Plan in den Sinn. Sie fuhren noch eine Weile, ohne dass auch nur ein Wort gesagt wurde. Dann bog der Wagen auf einen schmalen Weg ein. Unter den Reifen knirschte Schotter. Überall waren Bäume. Diskret richtete Iselin sich so weit auf, dass sie durch das Fenster blicken konnte.
Sie waren auf einem Waldweg.
Nicht ein Haus war zu sehen.
Sie musste sich etwas einfallen lassen.
Sie fuhren noch ein paar Minuten und kamen schließlich auf einen großen Parkplatz. Am Ende des Weges war eine Schranke. Der Fahrer parkte den Wagen neben einem schwarzen Lieferwagen. Es war niemand sonst zu sehen.
Er schaltete den Motor aus. Der Mann auf dem Rücksitz holte tief Luft und zog die Schultern hoch. Blinzelte ein paarmal schnell hintereinander.
»Raus!«, sagte er zu Iselin.
Sie starrte auf die gezogene Waffe. Eine Pistole, schwarz, mit kurzem Lauf.
»Raus!«, wiederholte er und nickte in Richtung Tür. »Aussteigen!«
Iselin richtete sich auf. Öffnete die Tür. Stellte einen Fuß auf den Boden, dann noch einen. Um sie herum war nichts als Wald. Irgendwo in der Nähe rauschte ein Bach. Keine Wanderer in der Nähe, dabei war es Samstagvormittag. In den zwei Sekunden, bevor der Mann mit der Waffe auf der anderen Seite ausgestiegen war, überlegte sie, ob sie rufen oder losrennen sollte – aber die nächsten Bäume waren zu weit weg, um ihr Schutz geben zu können. Hinter der roten Schranke begann ein Pfad, aber auch der war zu weit entfernt. Sie wäre ein leichtes Ziel für den Mann mit der Pistole.
Sie drehte sich zu ihm um.
Ihr Atem stockte, als sie ihn einen Schalldämpfer auf den Lauf der Waffe drehen sah. Sie erstarrte. Panik stieg in ihr auf und setzte sich in ihrer Brust und in ihrem Hals fest. Sie konnte nichts sagen, sich nicht rühren. Nicht nach weiteren Fluchtwegen Ausschau halten.
Erst jetzt stieg der Fahrer aus dem Wagen aus.
»Was machst du denn da? Du hast doch wohl nicht vor, sie zu …«
»Ich … muss!«, sagte der Mann mit der Waffe und drehte den Schalldämpfer fest.
Er ließ die Hand mit der Waffe herabhängen. Gab Iselin mit einem Nicken zu verstehen, dass sie zu dem schwarzen Lieferwagen gehen sollte.
Sie war noch immer bewegungsunfähig. Eine Träne bahnte sich ihren Weg aus dem einen Auge. Sie schaffte es nicht einmal zu protestieren.
»Jetzt mach schon«, sagte der Mann, wedelte mit der Pistole herum und kam näher. Er packte sie am Arm, wie er es in der Torggata getan hatte, und riss Iselin aus ihrer Starre. Spontan versuchte sie, sich zu befreien, sie kämpfte mit Armen und Beinen, aber er war zu stark und schleppte sie einfach zu dem schwarzen Wagen.
»Nein!«, schrie Iselin aus vollem Hals. Der Mann legte ihr eine klamme Hand auf den Mund. Sie versuchte, ihn zu beißen, und bekam auch etwas Haut an der Handinnenseite zu fassen. Er schrie auf und ließ sie los. In der nächsten Sekunde, Iselin wollte gerade zu einem neuen Schrei ansetzen, ballte er die Faust und schlug ihr auf den Mund. Etwas knackte. Der Schrei verstummte. Ihr wurde schwarz vor Augen, und gleich darauf schmeckte sie das Blut.
Er stieß sie hinter dem Lieferwagen zu Boden. Alles ging so schnell, dass Iselin sich nicht mehr mit den Armen abfangen konnte. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihren Körper.
»Also ehrlich …«
»Halts Maul!«
Iselin wollte sich aufrappeln und einen neuen Fluchtversuch unternehmen, aber die Mündung der Waffe, die auf ihr Gesicht gerichtet war, ließ sie abrupt erstarren. Stattdessen hob sie die Hände und flehte um ihr Leben, wohl wissend, dass es zwecklos war. Das war ihr Ende. Sie würde sterben. Jetzt.
Sie schloss die Augen.
Und wartete.