Emma war nicht oft nervös. Nicht einmal in den wenigen Fällen, in denen sie von der Polizei befragt worden war. Immer war sie sich ihrer eigenen Rolle in den Fällen, in die sie auf die eine oder andere Weise hineingeraten war, bewusst gewesen. Die Antworten waren selbstverständlich gewesen.
Dieses Mal war es anders.
Alles, was sie getan hatte, war erklärbar, trotzdem musste sie aus Rücksicht auf Blix und sich selbst darauf achten, was sie sagte. Darum war ihr Nacken verkrampft, die Hände feucht.
Die Frau vor ihr – Sonderermittlerin Hege Valle – war bekannt für ihre Gründlichkeit. Emma hatte bislang noch nicht mit ihr zu tun gehabt. Valle war Anfang fünfzig, trug ein hellblaues Uniformhemd und hatte den Schlips so eng geknotet, dass Emma schon beim Anblick Atemnot bekam. Das rote, kurz geschnittene Haar – Emma war sicher, dass die Farbe nicht echt war – harmonierte mit dem Lippenstift und der Uniform. Valle saß mit geradem Rücken auf der Stuhlkante, als könnte sie es gar nicht erwarten anzufangen. Sie trommelte leise mit den Fingern auf den Papierstapel.
»Bevor wir loslegen«, sagte Emma. »Wissen Sie, wie es Iselin geht?«
Valle schaute hoch.
»Wir werden kontinuierlich auf dem Laufenden gehalten«, antwortete sie mit spitzer, nasaler Stimme.
»Und der letzte Stand ist …?«
»Das …«
Valle unterbrach sich selbst.
»Wir wissen noch nichts Konkretes«, sagte sie. »Aber sie ist in guten Händen. Die besten Chirurgen des Landes. Wir können nur hoffen, dass sie sie retten können.«
Emma schluckte. Sie sah Iselin vor sich, ihren reglosen Körper am Boden. Dachte an die Schüsse unmittelbar danach.
Emma hatte in den letzten Jahren mehr als ausreichend persönliche Tragödien erlebt. Für einen kurzen, egoistischen Moment dachte sie, dass ein Fluch auf ihr lasten musste, weil so viele Menschen, zu denen sie ein gutes oder enges Verhältnis hatte, gestorben waren. Aber ihr Schmerz war natürlich nichts gegen das, was Kovics Mutter in den nächsten Tagen, Monaten, Jahren durchmachen würde.
»Sind Sie bereit?«
Valle sah sie an. Da war nichts Freundliches oder gar Mitgefühl in ihrem Blick. Emma fühlte sich fast wie eine Verdächtige, als hätte sie etwas Illegales getan. Das hast du ja eigentlich auch, sagte sie im Stillen zu sich, ehe sie antwortete.
»Ich bin bereit.«
»Gut.«
Valle warf einen Blick auf das rote Lämpchen, das die Ton- und Videoaufnahme anzeigte, las vor, wer anwesend war, wie spät es war und um welchen Fall es ging.
»Alter?«
»Ich bin sechsundzwanzig.«
»Wohnort?«
»Falbes gate in Bislett.«
Sie nannte die Hausnummer und Etage.
»Personenstand?«
»Single.«
»Was für einen Beruf üben Sie aus?«
»Ich bin Journalistin, aber zurzeit arbeite ich außerdem noch an einem Buchprojekt über Angehörige und Hinterbliebene von Gewaltopfern.«
Emma sprach schneller als gewöhnlich.
»Handelt es sich dabei um eine Auftragsarbeit?«, fragte Valle.
»Nein«, antwortete Emma und versuchte, ruhiger zu atmen. »Aber ich habe einen Vertrag bei einem Sachbuchverlag.«
Valle machte ein paar Notizen, ehe sie die Hand, in der sie den Stift hielt, abwinkelte und ihren Blick auf Emma ruhen ließ.
»Woher kennen Sie Alexander Blix?«
Emma spürte einen starken Druck auf der Brust.
»Er hat mir das Leben gerettet, als ich fünf Jahre alt war«, begann sie und atmete stoßweise aus. »Er hat meinen Vater erschossen. Unmittelbar bevor mein Vater mich erschießen konnte.«
Emma machte eine kurze Pause, als wanderten ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit.
»Danach hatten wir keinen Kontakt mehr, bis unsere Wege sich vor ein paar Jahren wieder gekreuzt haben. Damals hatte ich gerade angefangen, als Journalistin zu arbeiten.«
»Sind Sie ein Paar?«
Emma lachte.
»Das soll ein Scherz sein, hoffe ich?«
»Beantworten Sie einfach meine Frage.«
»Nein«, sagte Emma und schnaufte verächtlich.
»Er hat Ihnen nie irgendwelche Avancen gemacht?«
»Blix? Um Himmels willen, nein. Er könnte altersmäßig mein Vater sein. Und so sehe ich ihn in vielerlei Hinsicht auch. Warum fragen Sie das? Ist das in irgendeiner Weise relevant?«
»Das ist nur einer von mehreren Aspekten in diesem Fall, den wir uns etwas genauer ansehen«, sagte Valle.
»Aspekte? Was meinen Sie damit?«
Valle antwortete nicht.
»Timo Polmar – wer ist das?«, fragte Valle stattdessen.
Emma brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln.
»Ein Mann, der auf dem Obduktionstisch liegt, obwohl völlig eindeutig ist, wie er gestorben ist. Viel mehr weiß ich nicht.«
Emmas Wangen glühten.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass ich keine Ahnung habe, wer er ist.«
»Der Mann wurde vor Ihren Augen erschossen.«
Emma nickte.
»Das heißt aber doch wohl nicht, dass ich ihn kennen muss«, antwortete sie.
Valle musterte sie einen Augenblick.
»Sie befanden sich im gleichen Raum wie er«, fuhr die Ermittlerin fort. »Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich … war mit Blix zusammen dort.«
»Warum?«
»Weil …«
Emma senkte den Blick.
»Weil ich in diesem Fall vom ersten Tag an involviert war.«
»Und mit dem Fall meinen Sie was genau …?«
Emma zog die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken.
»Der Mord an Sofia Kovic … und alles, was danach passiert ist.«
Valle sah Emma an, ehe sie sich eine neue Notiz auf dem Block vor sich machte.
»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Beziehung zu Sofia Kovic.«
Auf dem Flur klingelte ein Telefon.
Emma schlug den Blick nieder.
Die Freundschaft mit Kovic hatte ihren Anfang genommen, als Emma eine Nacht im Polizeipräsidium verbringen musste. Kovic war am frühen Morgen mit einem freundlichen Lächeln und einem Brot mit Leberwurst zu ihr gekommen. Sie lagen altersmäßig nur ein Jahr auseinander, und da Kovic eng mit Blix zusammenarbeitete, gab es immer wieder Berührungspunkte.
Sie hatten viele Gemeinsamkeiten und waren sich sehr nahegekommen, trotzdem hatte Emma sie immer nur als Kovic gesehen, nicht als Sofia.
Kovic wollte Emma irgendwann mit nach Trogir nehmen, dem Ort, aus dem sie stammte. Trogir war ein Hafenstädtchen an der kroatischen Küste, knapp fünfzehn Autominuten vom Flugplatz Split entfernt. Ihre Beschreibungen des Hafenviertels, der Boote, der Farbe des Wassers, der Badetemperaturen und des Sommers … Sie könnten eine Wohnung mieten, hatte Kovic gesagt, nicht weit entfernt von Okrug, einem der längsten und schönsten Strände in der Gegend. Und abends würden sie mit dem Taxiboot ins Zentrum fahren. Erst vor wenigen Wochen hatten sie zuletzt darüber gesprochen.
Emmas Kehle schnürte sich zusammen, ihre Unterlippe begann zu zittern. Sie hatte immer noch nicht mit Kovics Mutter gesprochen.
Sie waren an einem lauen Abend Mitte August bei ihr zum Essen eingeladen gewesen. Es hatte Ćevapčići gegeben, das traditionelle Grillgericht, Hackfleischröllchen mit Salat, roher Zwiebel und Pitabrot. Vom Holzkohlegrill im Hinterhof. Es hatte wunderbar geschmeckt.
»Sie sind doch Journalistin«, sagte Hege Valle und holte Emma zurück aus ihren Erinnerungen. »Und Sie haben eine Reihe Artikel über das geschrieben, was vorgefallen ist.«
»Ja, obwohl ich Kovic persönlich kenne, war das kein Problem für mich.«
»Sie waren, wie soll ich es sagen, ziemlich tonangebend in dieser Sache?« Valle blätterte durch ihre Unterlagen, als hätte sie Emmas Artikel ausgedruckt. »Und haben einige Informationen als Erste veröffentlicht?«, fügte sie hinzu.
»Ja, das …«
Emma dachte daran, wie einige der Beiträge zustande gekommen waren.
»Das ist nun mal mein Job.«
»Und das hat nichts mit Ihrem engen Verhältnis zu Alexander Blix zu tun?«
Emma ging die Frage gegen den Strich. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, noch einmal zu präzisieren, was für eine Art Verhältnis sie zu Blix hatte, verkniff es sich aber.
»Alle guten Journalisten haben gute Quellen«, sagte sie stattdessen. »Und ich werde meine auf keinen Fall preisgeben.«
Die Aussage brachte Valle zum Lächeln, als hätte sie längst durchschaut, wie alles zusammenhing.
»Angesichts dessen, was Sie zum Mordzeitpunkt über das Leben von Sofia Kovic wussten – fällt Ihnen da jemand ein, der sie getötet haben könnte?«
»Sie meinen außer Jo Inge Fjellvik?«
»Ja«, antwortete Valle.
»Nicht unmittelbar, etwas später am Abend fiel mir dann aber ein, dass Kovic schon einmal Morddrohungen erhalten hatte.«
»Ah ja?«
»Von einem Typen, den sie festgenommen hatte. Dennis Skofterud. Er war bei der Festnahme handgreiflich geworden und hatte ihr ein ordentliches Veilchen verpasst. Außerdem hatte er ihr gedroht, sie umzubringen, als sie ihn in den Streifenwagen verfrachtet hatte. Kovic hat mir davon erzählt, als wir mal am Ort seiner Festnahme vorbeigeradelt sind.«
Valle nickte, als wäre ihr das alles bekannt.
»Haben Sie Blix von dieser Person und dem Zwischenfall erzählt?«
»Nicht unmittelbar.«
»Warum nicht?«
»Weil ich vorher noch mehr über den Mann herausfinden wollte.«
»Und haben Sie mehr herausgefunden?«
Emma nickte.
»Es zeigte sich, dass er schon früher einmal wegen Mordes verurteilt worden war. Vor mehr als zwanzig Jahren.«
»Und damit sind Sie dann zu Blix gegangen?«
»Ich wollte es, aber er war beschäftigt. Die Morddrohung war im Prozess zur Sprache gekommen, weshalb ich davon ausgegangen bin, dass Blix und die Polizei auch selbst auf ihn kommen würden.«
Valle machte sich eine Notiz.
»Und was haben Sie danach gemacht?«
Emma wandte den Blick ab. Fand einen Punkt an der Wand, an dem sie sich festhalten konnte.
»Ich habe ein Treffen vereinbart.«