»Martin Hikes hatte nichts damit zu tun?«, fragte Brogeland, während er sich mit dem oberen Ende des Kugelschreibers an der Stirn kratzte.
»Er durfte einige Zeit später wieder gehen«, erwiderte Blix mit einem Nicken.
»Wie ist das vor sich gegangen?«
»Seine Wohnung wurde durchsucht. Man hat Diebesgut gefunden, aber keine Waffe. Alle seine Schuhe wurden registriert, aber keiner davon stimmte mit den Abdrücken in Kovics Wohnung überein. Außerdem waren weder an seinen Händen noch an seinen Kleidern Schmauchspuren zu finden. Und Blutspuren gab es auch keine. Ganz davon abgesehen, war er einfach nicht der Typ für eine solche Tat. Er ist kein Mörder.«
»Ganz anders Timo Polmar?«, fragte Brogeland.
»Das weiß ich nicht.«
Brogeland zog die Stirn in Falten.
»Du weißt es nicht?«
»Nein, ich weiß nicht, ob er Kovic getötet hat. Aber das habe ich schon gesagt. Es deutet vieles darauf hin, sicher bin ich mir aber nicht. Irgendwas stimmt da nicht.«
»Was stimmt nicht?«
»Das Motiv. Was sollte er für ein Motiv haben?«, antwortete Blix. »Wir sind die Fälle durchgegangen, an denen Kovic gearbeitet hat, und haben Listen von möglichen Tätern erstellt, aber sein Name taucht nirgends auf. Es gibt keine Verbindung zwischen Polmar und Kovic. Ich hatte seinen Namen bis vor ein paar Stunden noch nie gehört und bezweifle, dass Kovic jemals Kontakt zu ihm hatte.«
Blix legte die Hände vor sich auf den Tisch und dachte an die kurze Begegnung mit Polmar, bevor die Schüsse fielen. Der flackernde, verwirrte Blick. Aber da war auch noch etwas anderes, das nicht in das Bild passte, das er sich von Kovics Mörder gemacht hatte. Blix konnte es nur noch nicht in Worte fassen.
Seine Gedanken kehrten zu Iselin zurück.
Was, wenn sie nicht überlebte?
Kalter Schweiß lief ihm vom Nacken über den Rücken.
Brogeland fuhr mit seiner Befragung fort.
»Nach Hikes’ Festnahme – was hast du da gemacht? Bist du zurück zu Iselin in die Notaufnahme gefahren?«
Blix schüttelte den Kopf.
»Ich bin ins Präsidium gefahren«, antwortete er. »Gard Fosse hatte eine Sitzung einberufen.«
Der Sitzungsraum, in dem alle größeren Besprechungen des Dezernats für Gewaltverbrechen abgehalten wurden, war voller, als Blix ihn jemals gesehen hatte. Nicht einmal nach der Bombe am Rathauskai, als ganz Norwegen einen neuen Terroranschlag gefürchtet hatte, hatten die Menschen in zwei Reihen entlang der Wand gestanden.
Sie hatten schon früher Kollegen verloren, aber nicht auf diese Weise. Nicht durch eine regelrechte Hinrichtung. Das wirkte nach. Um sich herum sah er die Gesichter von Kollegen, die eigentlich Urlaub oder frei hatten. Niemand würde sich beschweren, weil er Überstunden machen musste und in den nächsten Tagen wenig Schlaf bekam. Allen kam es nur darauf an, den Täter schnell zur Strecke zu bringen.
Einige hatten die Arme vor der Brust verschränkt, andere starrten leer vor sich hin, in den Händen eine Kaffeetasse.
Es war kurz nach halb acht. Kovic war seit knapp drei Stunden tot.
»Also«, sagte Gard Fosse und versuchte, eine ruhige Stimme zu behalten. Zum ersten Mal spürte Blix, dass ihr Vorgesetzter ihnen nichts vorspielte. »Es sind …«
Fosse hielt inne. Räusperte sich.
»Es sind Tage wie dieser, an denen …«
Wieder musste er eine Pause machen, bevor er weiterreden konnte.
»… alles so sinnlos scheint. An denen das Universum aus dem Gleichgewicht gerät und sich ein tiefer Abgrund unter uns auftut.«
Blix dachte an das, was er am Morgen in Sandvika gesagt hatte. Trauerbewältigung beginnt immer mit der Verzweiflung. Dann kommt die Wut, vielleicht gefolgt vom Hass. Bevor die bodenlose Leere zurückkommt, die Benommenheit.
»In Stunden wie diesen ist es gut, wenn man sich an etwas festhalten kann«, fuhr Fosse fort. »Und das, liebe Kollegen, haben wir. Wir haben unsere Erinnerungen an Sofia Kovic, daran, wie sie mit uns gelacht hat …«
Er räusperte sich hinter vorgehaltener Hand.
»… und an ihr Lächeln, mit dem sie einen ganzen Raum zum Strahlen bringen konnte.«
Fosse hatte beim Reden auf einen Punkt vor sich gestarrt. Jetzt hob er den Blick und sah über die Anwesenden hinweg.
»Daran müssen wir denken, wenn wir uns diesem Fall widmen und unsere Arbeit tun. Wenn wir denjenigen finden wollen, der sie getötet hat.«
Letzteres sagte er mit Nachdruck, sodass alle im Raum zu ihm aufsahen.
»Also lasst uns anfangen.«
Leben kam in die Anwesenden. Fosse gab zu verstehen, dass er mit den zentralen, erfahrenen Ermittlern sprechen wollte: Alexander Blix, Tine Abelvik und Nicolai Wibe.
Er legte Blix die Hand auf die Schulter.
»Wie geht es deiner Tochter?«
Blix hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.
»Sie war in der Notaufnahme. Es geht ihr, den Umständen entsprechend, ganz gut. Ich habe einen Termin mit Eivind Neumann vereinbart, dem Psychiater. Er hat morgen Zeit für sie.«
»Das hört sich vernünftig an. Hat sie etwas über den Tathergang sagen können?«
»Sie wird gleich offiziell befragt, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie viel sagen kann.«
»Wir nehmen, was wir kriegen können«, sagte Fosse und nickte. »Normalerweise würde ich dich bitten, die Leitung zu übernehmen, aber da deine Tochter eine so wichtige Rolle spielt, soll Abelvik das dieses Mal machen.«
Blix drehte sich zu Tine Abelvik. Sie sah ebenso überrascht aus wie alle anderen.
»Sie schaffen das doch?«, fuhr Fosse fort.
Abelvik zögerte ein paar Sekunden.
»Ja, ja«, sagte sie schließlich. »Klar.«
»Gut. Ich muss jetzt gehen und die Pressekonferenz vorbereiten.«
Fosse drehte sich um und verschwand. Abelvik blieb einen Moment stehen und starrte vor sich hin. Sie schien sich in der ungewohnten Rolle nicht wohlzufühlen.
Wibe wurde unruhig. Schließlich trat Abelvik an das Whiteboard und nahm einen Stift.
»Okay«, sagte sie. »Wie ich das sehe, gibt es drei Möglichkeiten.«
Sie drehte sich zur Tafel und schrieb eine Eins.
»Es kann sich um ein persönliches Motiv handeln«, sagte sie und schrieb mit eckigen Buchstaben: privat. »Ein Lover, ein Ex, andere Kontaktpersonen … Wir müssen all ihre persönlichen Kontakte durchforsten.«
Blix räusperte sich.
»Sie hat wohl gerade mit jemandem Schluss gemacht«, sagte er.
Abelvik suchte seinen Blick.
»Mit wem?«, wollte Nicolai Wibe wissen.
Blix schluckte.
»Ein zweiunddreißigjähriger Klempner aus Drammen«, sagte er. »Jo Inge Fjellvik. Ich habe angefangen, Informationen über ihn zusammenzutragen.«
»Gut«, sagte Abelvik nickend und schrieb eine Zwei unter die erste Ziffer.
»Kovic kann ein zufälliges Opfer sein. Auch wenn Hikes eine falsche Fährte war, kann es sich noch immer um einen schiefgelaufenen Einbruch handeln. Vielleicht war sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Ziemlich unwahrscheinlich«, kommentierte Wibe. »Die Art, wie sie getötet wurde, deutet darauf hin, dass der Täter wusste, was er tut. Er war da, um sie umzubringen. Trotzdem müssen wir jeden Stein umdrehen und dürfen nichts auslassen.«
Abelvik nickte und setzte wieder den Stift an.
»Drittens kann der Mord auch mit einem ihrer Fälle zu tun haben«, sagte sie.
Blix nickte. Dort würde er ansetzen. Vielleicht war sie bedroht worden, oder jemand hatte seinen Hass auf sie fokussiert.
»An welchen Fällen hat sie zuletzt gearbeitet?«, fragte Wibe.
Er drehte sich zu Blix.
»Ihr habt am engsten zusammengearbeitet.«
»Ich habe angefangen, eine Übersicht über die Fälle der letzten sechs Monate zu erstellen. Die meiste Zeit hat sie zweifelsohne auf den Thea-Bodin-Fall verwendet – diese Fahrerflucht, die noch nicht aufgeklärt ist. Wir haben da noch immer keine konkrete Spur. Parallel hat sie ein paar Fälle häuslicher Gewalt untersucht, und ansonsten hat sie uns zugearbeitet.«
»Sind Fälle dabei, bei denen es zu Konflikten gekommen ist?«
»Die gibt es doch immer«, sagte Blix. »Aber konkret fällt mir da nichts ein.«
»Kann sie auf etwas gestoßen sein, das sie in eine bedrohliche Situation gebracht hat?«
Blix hatte sich diese Frage auch schon gestellt. Bei jeder Ermittlung ging es ja darum, Geheimnisse und Lügen aufzudecken, die Menschen gerne versteckt halten wollten.
Er breitete die Arme aus.
»Ich habe in den letzten Tagen nicht mit ihr gesprochen. Heute am frühen Nachmittag hat sie zweimal versucht, mich zu erreichen, allerdings ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Der letzte Anruf war knapp eine Stunde vor ihrem Tod.«
Abelvik drehte den Stift in den Fingern.
»Ich setze eine Gruppe daran«, sagte sie. »Wir müssen alle Fälle durchgehen, an denen sie gearbeitet hat, seit sie hier angefangen hat. Wir müssen herausfinden, wen sie verhaftet hat und wer wieder auf freiem Fuß ist.«
»Wir müssen auch die Tür-zu-Tür-Aktion systematisieren«, sagte Wibe. »Und die Befragung auf das ganze Viertel ausweiten, nicht bloß auf die direkte Nachbarschaft. Wir müssen festhalten, wer sich auf den Straßen in der Umgebung wohin bewegt hat.«
Blix stimmte zu. Der Mord war zu einem für den Täter günstigen Zeitpunkt begangen worden – mitten an einem Freitagnachmittag, an dem viele Menschen unterwegs waren.
»Und wir müssen alles beschaffen, was es an Überwachungsvideos und -bildern in der Gegend gibt«, sagte Abelvik.
»Ist schon angeleiert«, sagte Blix.
»Wir müssen Kovics Privatleben unter die Lupe nehmen«, fuhr sie fort. »E-Mails, Handydaten, soziale Medien, Freunde, Nachbarn, Familie. Ihre PCs. Wir müssen alles durchforsten. Ihre letzten physischen Bewegungen. Bankkonten. Ist sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren und, wenn ja, wohin …?«
»Ich werde mit ihrer Mutter sprechen«, sagte Blix. »Wir sollten nur warten, bis der erste Schock sich gelegt hat.«
»Gut«, sagte Abelvik. »Gibt es noch irgendetwas, das wir vorrangig angehen sollten?«
Es kam keine Antwort. Sie drückte die Kappe auf den Stift und nickte ihnen als Zeichen, dass sie fertig war, zu.
Wibe ging in Richtung Tür. Abelvik nahm Blix’ Arm und hielt ihn zurück.
»Das ist ziemlich merkwürdig …«, begann sie.
»Was?«
»Ich in deiner Rolle. Tut mir leid, ich habe das nicht kommen sehen.«
»Mach dir da mal keine Gedanken«, sagte Blix mit einem Lächeln. »Das ist vollkommen in Ordnung und sicher die beste Lösung.«
Sie sah ihn an, als glaubte sie ihm nicht recht, schien sich dann aber doch mit der neuen Situation abzufinden.
»Noch etwas«, sagte sie. »Könnte Iselin möglicherweise das Ziel gewesen sein?«
Blix sah sie an und bat sie, ihren Gedanken zu konkretisieren.
»Der Täter schlägt zu, kurz nachdem sie nach Hause gekommen ist«, erklärte Abelvik. »Kovic ist ein Hindernis, vielleicht hat sie ihm den Weg versperrt. Er eliminiert sie und sucht weiter nach seinem eigentlichen Ziel.«
Blix hatte das Gefühl, als wäre es im Raum kälter geworden. Er musste sich auf einen Stuhl stützen. Der Gedanke war ihm noch nicht gekommen.
»Warum sollte es jemand auf Iselin abgesehen haben?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht, aber wir wissen ja auch nicht, weshalb es jemand auf Kovic abgesehen haben sollte. Wie auch immer ist Iselin die einzige Zeugin, die wir haben. Der Täter könnte sie als potenzielle Bedrohung auffassen. Sie kann in Gefahr sein.«
Blix nickte.
»Ich werde entsprechende Maßnahmen treffen«, fuhr Abelvik fort. »Polizeischutz und Aufenthalt an einem unbekannten Ort.«
»Ich nehm sie nachher mit zu mir nach Hause«, sagte er. »Ein sicherer, vertrauter Rahmen. Sie würde sich aber bestimmt noch sicherer fühlen, wenn draußen ein Wagen stünde.«
»Die Entscheidung liegt bei Fosse«, sagte Abelvik. »Was dich angeht, entscheidest du selbst, was du in den nächsten Tagen tun willst. Wie du uns helfen kannst und wie viel Zeit du hier verbringen willst.«
Blix hatte nichts anderes vor, als rund um die Uhr zu arbeiten. Wenn es sein musste, auch von zu Hause aus.
»Danke Tine, vielen Dank«, sagte er trotzdem.