47

Obwohl sie einen Schlüssel hatte, klingelte Emma grundsätzlich erst einmal, wenn sie ihre Schwester besuchte. In erster Linie, weil sie wollte, dass ihre Nichte sie über die Gegensprechanlage hörte und ihr mit ausgebreiteten Armen und einem strahlenden Lächeln entgegenstürmte. Heute brauchte Emma das besonders. Aber Martine stand nicht in der Tür, als Emma nach oben kam, dabei hing ihre Jacke im Flur am Haken und der Rucksack, den sie immer mit in den Kindergarten nahm, lag am Boden neben den Schuhen.

»Sie ist krank«, erklärte Irene ihr. »Sie haben heute früh aus dem Kindergarten angerufen und gesagt, dass ich sie abholen soll.«

»Oh je«, sagte Emma und hängte ihre Jacke an die Garderobe. »Wie krank denn?«

Irene zuckte mit den Schultern.

»Sie klagt über Bauchweh und Kopfschmerzen.«

Sie dämpfte ihre Stimme.

»Eigentlich glaube ich, dass sie nur ein bisschen zu Hause sein will. In den letzten Tagen hatte sie morgens nie Lust, in den Kindergarten zu gehen.«

»Wird sie gemobbt?«

»Keine Ahnung«, sagte Irene und breitete die Arme aus. »Ich glaube aber nicht.«

Emma ging ins Wohnzimmer, wo Martine unter einer Decke auf dem Sofa lag. Sie schlief nicht, ihre Augen waren konzentriert auf das iPad gerichtet, das in ihrem Schoß lag. Das Licht des Displays tauchte das kindliche, süße Gesicht in unterschiedliche Farben.

»Hallo, Goldbär«, sagte Emma zärtlich und beugte sich zu ihr hinunter.

»Hallo«, sagte Martine etwas kleinlaut.

»Bist du krank?«, fragte Emma.

Die Frage schien Martine noch kränker werden zu lassen. Sie nickte langsam.

»Du weißt doch, dass kranke Menschen, besonders Kinder, die ihre Tanten lieben, sich wünschen dürfen, was sie essen wollen?«

Martine sah zu ihr auf.

»Süßigkeiten, Chips, Pfannkuchen.«

»Mama, dürfen wir Pfannkuchen machen?«

Emma sah zu ihrer Schwester, die einen missbilligenden Blick in Richtung Sofa warf.

»Hast du denn Lust darauf, Schatz?«

Martine nickte.

»Siehst du?«, sagte Emma und zwinkerte ihr zu. »Tanten kennen sich aus.«

Sie legte ihr eine Locke über die Ohren und studierte dabei Martines Kopfhaut. Es sah nicht so aus, als wären die Haare in letzter Zeit dünner geworden.

Irene hatte ihrer Tochter noch nicht erzählt, dass sie dieselbe Haarkrankheit hatte wie Emma – Alopecia totalis – und dass sie früher oder später all ihre Haare verlieren würde. Emma war unter den verschiedenen Perücken, die sie trug, kahlköpfig. Ihre Jugend war geprägt gewesen von Verbitterung und Wut, und ihr Verhalten war häufig auffällig gewesen, was sie Martine auf jeden Fall ersparen wollte.

»Was siehst du dir an?«, fragte Emma.

»Eine Serie auf NRK Super«, erklärte Martine betont müde.

Emma warf einen Blick auf das Display und sah Kinder in einem Klassenzimmer. Mädchen stritten sich und schienen es geradezu darauf abgesehen zu haben, sich zu verletzen. Genauso hatte Emma die Schulzeit in Erinnerung.

»Ich komme gleich wieder«, sagte sie und stand auf. »Ich muss nur kurz etwas mit deiner Mutter besprechen.«

Irene wartete in der Küche auf sie.

»Tee? Kaffee?«

»Was Besseres hast du nicht zu bieten?«, fragte Emma seufzend.

»Du kannst kriegen, was du willst«, erwiderte Irene und öffnete einen schmalen Schrank neben der Spülmaschine.

»Je stärker, desto besser.«

Irene nahm eine Flasche Talisker heraus und hielt sie ihrer Schwester zur näheren Begutachtung hin.

»Perfekt«, sagte Emma, obwohl sie Whisky eigentlich gar nicht mochte.

Sie setzte sich, während ihre Schwester Gläser für sie beide holte.

»Bleibst du heute Nacht hier?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht«, antwortete Emma. »Eigentlich sollte ich arbeiten.«

»Arbeiten? Jetzt?«

»Ja, ich hinke mit meinem Buchprojekt echt hinterher. Und dann ist da noch der Mord an Kovic. Das geht mir echt unter die Haut.«

»Darüber kannst du doch wohl nichts schreiben, oder? Du bist doch …?«

Emma hob den Blick und sah ihre Schwester an.

»Ach so, diese Art von Arbeit meinst du. Du willst gar nicht darüber schreiben, sondern auf eigene Faust ermitteln?«

»Ich habe noch immer die Fallakten von Blix«, sagte Emma. »Kovic hat vor ihrer Ermordung diese Akten aus dem Archiv angefordert.«

»Ist das nicht illegal?«, wollte Irene wissen. »Polizeiakten bei sich zu haben?«

»Bestimmt«, sagte Emma. »Ich wollte sie Blix längst zurückgeben, damit er sich darum kümmert, aber er … will ja nicht mit mir reden.«

»Ist nicht so erstaunlich, oder? Nach allem, was passiert ist.«

»Tja, vielleicht. Aber ich kann nicht einfach im Präsidium auftauchen, jetzt, da schon so viel Zeit vergangen ist. Ich stecke ja so schon in Schwierigkeiten.«

Sie trank einen Schluck Whisky, der im Hals brannte, und schnitt eine Grimasse.

»Und was willst du herausfinden?«, fragte Irene. »Der Fall ist doch geklärt, oder? Timo Polmar hat sie getötet.«

»Es deutet einiges darauf hin«, sagte Emma. »Aber mir ist das Motiv nicht klar.«

»Musst du denn immer alles verstehen?«

Emma musterte ihre Schwester.

»Wie meinst du das?«

»Es ergibt nicht immer alles Sinn. Die Menschen machen die ganze Zeit dumme, verrückte Sachen.«

»Das reicht mir nicht.«

»Deine Entscheidung.«

»Ja.«

Sie blieben sitzen und tranken schweigend weiter.

»Dann glaubst du nicht, dass er Kovic getötet hat?«

Emma schüttelte den Kopf.

»Und wenn das stimmt«, sagte sie, »läuft da draußen noch ein Mörder rum.«