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Die Strahlen der frühen Nachmittagssonne schoben sich durch den Gardinenspalt und malten einen gelben Streifen an die Wand. Das Licht fiel auf eine Zeichnung, die Iselin ihm aus dem Kindergarten mitgebracht hatte. Er und sie, Hand in Hand, auf dem Weg zu oder von besagtem Kindergarten. Es war eine farbenfrohe Zeichnung, und der Himmel war – obwohl nach den vielen Jahren verblichen –, noch immer klar und blau. Die trockene Tusche war an ein paar Stellen rissig geworden, und das vergilbte Papier wellte sich ein bisschen. Aber noch wurde das Blatt durch ein paar durchsichtige Klebestreifen an der weiß gestrichenen Raufasertapete festgehalten.

Blix kniff die Augen zusammen und schniefte kurz. Er streckte sich nach der Flasche und dem Glas aus und schenkte sich ein. Sein Rücken schmerzte. Er nahm einen Schluck und spürte das Brennen am Gaumen und in der Speiseröhre, aber nichts konnte die Schreie in seinem Innern dämpfen.

Er war noch nie ein Freund von Wodka oder starkem Alkohol gewesen. Aber das war das Einzige, was er in seinem Barschrank gefunden hatte, die Reste eines Kollegentreffens vor vielen, vielen Jahren.

Vor dem Fenster knallte eine Tür. Ein Auto mit reichlich Pferdestärken unter der Haube startete den Motor und fuhr los. Blix fasste sich an die Stirn, kratzte am Schorf um die Stiche und starrte auf die schwarzen, trockenen Blutkrümel unter seinem Fingernagel. Mithilfe des Daumennagels kratzte er sie weg und ließ sie in die Staubflocken auf dem Boden rieseln.

Auf dem Tisch lagen eine Fernbedienung und ein Blister Schmerztabletten. Daneben eine Kaffeetasse. Ein Buch, das schon Ewigkeiten dort lag. Noch eine Fernbedienung. Sein Handy. Vermutlich entladen. Ein Kopfhörer, der nur noch ein Polster hatte.

Der Fernseher lief, aber die Bilder strengten seine Augen an. Er leerte das Glas, stellte es weg. Überlegte, noch einmal nachzuschenken, starrte aber stattdessen auf die Flasche, bis sie vor seinem Blick verschwamm und er blinzeln musste.

Er zuckte zusammen, als es an der Tür klingelte. Es kam vor, dass Nachbarn, die ihren Schlüssel vergessen hatten, alle Klingeln drückten, um ins Treppenhaus gelassen zu werden. Aber jetzt klingelte es noch einmal. Ein-, zwei-, drei-, viermal.

Dann Stille.

Geh einfach, dachte er. Geh einfach weg.

Er streckte sich nach der Flasche und dem Glas aus. Schenkte nun doch nach. Trank einen Schluck. Ein Tropfen landete auf den Lippen. Er leckte ihn ab und wischte sich mit der Handfläche über den Mund.

Schritte im Treppenhaus. Die näher kamen. In seinem Stockwerk anhielten.

Es klopfte an der Tür.

Dreimal, vorsichtig. Blix hörte Kleider rascheln, ein Nasehochziehen. Es klopfte erneut dreimal, etwas energischer.

»Blix?«

Er schloss die Augen. Erkannte die Stimme. Es war Tine Abelvik.

Er verhielt sich so still, wie er konnte, hoffte, dass sie aufgeben und gehen würde.

»Blix, ich weiß, dass du zu Hause bist.«

Er seufzte.

»Ich bleibe hier, bis du aufmachst.«

Blix fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht.

Von den laufenden Ermittlungen suspendiert, war ihm mitgeteilt worden. Er hatte keine Ahnung, wie die offizielle Version lautete oder was ihm vorgeworfen wurde, aber es würde einiges erfordern, um wieder zurück in seinen Job zu kommen. Mit einer Entlassung käme er noch glimpflich davon. Ein juristisches Nachspiel würde sich kaum vermeiden lassen. Im schlimmsten Fall musste er mit einer langen Haftstrafe rechnen, aber das spielte keine Rolle. Die Wirklichkeit war weit weg und ihm vollkommen egal.

Es klopfte wieder.

Er hievte die Beine vom Sofa, stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und stemmte sich hoch. Schwankte. Die Wände bewegten sich. Übelkeit stieg aus dem Magen auf, blieb aber im Hals stecken.

»Blix!«

Er setzte einen Fuß vor den anderen. Dann den nächsten. Zog sich einen Pullover über, der auf dem Boden lag, und nahm Kurs auf den Flur. An der Tür angekommen, legte er eine Hand auf den Riegel. Aufschließen und Öffnen erfolgten in einer Bewegung.

Tine Abelvik trug ihre Dienstuniform.

Blix sah, dass sie geweint hatte. Ihre Wangen waren gerötet. Sie sah ihn mit traurigen Augen an.

»Hallo, Blix«, sagte sie.

Sie standen voreinander und sahen sich an.

»Darf ich reinkommen?«

Blix trat einen Schritt zur Seite und schob die Tür weiter auf, ehe er sich umdrehte und in die Wohnung ging. Er hörte, wie sie hinter sich die Tür schloss, Jacke und Schuhe auszog. Er hatte ihr sagen wollen, dass sie die Schuhe anlassen könne, aber es war ihm gerade alles egal. So scheißegal.

Blix nahm auf dem Sofa Platz, schaltete den Fernseher aus.

»Magst du was trinken?«, fragte er und griff nach seinem Glas.

»Nein danke«, sagte Abelvik und setzte sich auf den Sessel neben dem kleinen Tisch zwischen Sofa und Fernseher. »Ich komme von der Beerdigung.«

Blix seufzte.

»War das heute?«

Abelvik ließ seine Frage unkommentiert.

»Ich hätte dort sein sollen«, murmelte er.

Er schaute in das Glas, das er in den Händen kreisen ließ.

»Niemand hat dich dort erwartet, Alexander. Alle wissen, warum du das nicht schaffst.«

Blix nickte langsam.

»Wie war es?«, fragte er.

»Wie die meisten Beerdigungen«, antwortete Abelvik und schnaufte. »Schrecklich. Schön. Schmerzhaft. Und das Ganze multipliziert mit hundert, wenn es um eine Kollegin geht, die gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt geworden ist und die man mit einem Einschussloch in der Stirn auf dem Boden liegen gesehen hat.«

»Gibt’s was Neues in dem Fall?«, fragte er.

»Die Mordwaffe konnte identifiziert werden«, antwortete Abelvik. »Es handelt sich um die gleiche Waffe, die Timo Polmar bei sich hatte.«

»Dann war er es?«

Abelvik antwortete nicht direkt.

»Es scheint alles darauf hinzudeuten.«

Abelvik stand auf und trat ans Fenster, zog die Gardinen auf und öffnete es. Eine kühle Herbstbrise drängte ins Zimmer. Blix begann sofort zu frösteln. Stand auf wackeligen Beinen auf und holte sich die Jacke, die über der Rückenlehne eines Küchenstuhls hing.

»Höre ich da ein ›Aber‹ heraus?«, fragte er.

Abelvik drehte sich mit dem Rücken zum Fenster.

»Hattest du nicht schon mal was mit Polmar zu tun?«, fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

Blix schüttelte den Kopf.

»Du?«

»Mehrfach«, antwortete Abelvik. »Erinnerst du dich an den Fall Elise Hurdal?«

Blix grub in seiner Erinnerung, schüttelte aber schließlich den Kopf.

»Ein Vermisstenfall. Das war damals, als du an der Polizeihochschule unterrichtet hast. Ein junges Mädchen war nach Schulschluss verschwunden. Die Medien und wir haben es als Kriminalfall behandelt. Es gab fette Schlagzeilen. Polmar kam in Begleitung eines Pastors zu Petter Valk und legte ein Geständnis ab, er gab an, das Mädchen ermordet und die Leiche im Bunnefjord versenkt zu haben. Wir haben mehrere Tage nach ihr gesucht, bis sie schließlich in der Nordmarka gefunden wurde. Sie hatte Schlaftabletten genommen und einen Abschiedsbrief hinterlassen. Alles, was Polmar erzählt hatte, war gelogen. Reine Fantasie.«

»Dann …«

Blix fasste sich an die Stirnwunde. Allein das Denken tat ihm weh.

»Er hat auch noch diverse andere Taten gestanden«, fuhr Abelvik fort. »Polmar war psychisch krank. Er war immer wieder in Behandlung. Es gibt Lücken in seiner Erinnerung, die er aus unerfindlichen Gründen mit erfundenen Geschichten füllt, in denen er sich für Dinge bekennt, die in den Medien geschildert werden.«

»Verstehe«, sagte Blix, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach.

Abelvik setzte sich wieder.

»Polmar war Eivind Neumanns Patient«, sagte sie. »Er hat ihn von einer Kollegin übernommen, die für ein Jahr in Elternzeit gegangen ist. Neumann hat eine Stunde von Polmar abgesagt, damit Iselin zu ihm konnte. Das könnte das Zusammentreffen der beiden vor Neumanns Praxis erklären. Iselin ist aller Voraussicht nach ein zufälliges Opfer, das ihm ermöglicht hat zu verwirklichen, wovon er schon so lange fantasiert hat.«

Blix brauchte eine Weile, das Gesagte zu erfassen. Er bekam die Versatzstücke nicht zusammen. Das hieß, dass Polmar sich zu exakt dem Zeitpunkt in der Torggata aufgehalten hatte, als Iselin aus der Praxis kam. Das würde eine spontane Aktion erklären, nicht aber eine Entführung, so etwas setzte Planung voraus.

»Was ist mit der DNA?«, fragte er. »Von dem Lockenstab?«

»Bis jetzt ist nur Iselins DNA gesichert worden.«

Blix starrte Abelvik so lange an, bis sie eine Erklärung nachschob.

»Die Techniker sind unsicher, ob der Stab tatsächlich so eingesetzt wurde, wie Iselin es beschrieben hat«, sagte Abelvik. »Aber vielleicht wurde das Zellmaterial auch durch die Hitze zerstört.«

»Da muss doch irgendwas zu finden sein«, protestierte Blix.

»Sie sind mit dem Stab noch nicht fertig, aber die Maximaltemperatur von 240 Grad reicht dicke für eine Sterilisierung.«

Blix wollte Fragen zur Obduktion stellen, ob an Polmars Körper Brandwunden nachzuweisen waren, aber so weit kam er nicht.

»Davon abgesehen besteht kein Zweifel daran, dass Polmar für den Tod deiner Tochter verantwortlich ist«, sagte Abelvik. »Und natürlich …«

»Ich bin für ihren Tod verantwortlich«, fiel Blix ihr ins Wort und sah Abelvik an. »Ich bin für ihren Tod verantwortlich«, wiederholte er.

»Blix …«

»Ich habe es nicht geschafft, sie zu retten.«

»Du hättest nichts …«

»Genau das hätte ich aber tun sollen und müssen.«

»Die Chance, den Sturz aus dieser Höhe zu überleben, war groß. Du konntest nicht vorhersehen, dass es schiefgeht. Es war die beste Alternative. Die einzige.«

Blix hob erneut zum Protest an, bekam aber kein Wort heraus.

»Iselins Tod ist einzig und allein Polmars Schuld, Alexander«, sagte Abelvik entschieden.

Gluthitze schoss ihm in die Wangen. Seine Augen flossen über. Er sah sich nach etwas um, das er packen, zerquetschen, zerreißen, an die Wand schleudern konnte.

»Sieh mich nicht so an«, sagte er. »Sieh mich bitte nicht so an. Ich ertrage kein Mitleid.«

»Okay. Gut. Tut mir leid.«

Blix faltete die Hände und stützte sich mit den Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. Er starrte zu Boden. Auf dem einen Pantoffel hing ein Staubfussel.

»Ich … werde dich in Ruhe lassen«, sagte Abelvik und stand auf. »Aber Fosse möchte dich gerne sprechen.«

»Ich ihn aber nicht.«

»Ich würde sagen, dass du in diesem Fall keine Wahl hast«, sagte sie.

Blix schüttelte resigniert den Kopf. Vermutlich ging es um die Formalitäten in Bezug auf die Suspendierung.

»Kriminalamt und Sondereinheit sind noch bei der Untersuchung der genaueren Umstände aller Geschehnisse in der Werkstatt und der Zeit davor. Und dann ist da noch irgendwas mit einem Bericht. Oder einem Protokoll, ich weiß es nicht genau.«

Blix wollte antworten, hielt aber inne. Dann sagte er es doch.

»Er muss sich noch ein bisschen gedulden. Ich, wir, wollen Iselin am Freitag beerdigen. Ich kann momentan … an kaum etwas anderes denken.«