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Der Tag, an dem Iselin Blix Skaar zu Grabe getragen wurde, begann mit ein paar wenigen Plusgraden und grauem Nebeldunst, der nach und nach einen eisblauen Himmel und eine grelle Sonne freigab, die die Trauergemeinde vor der Kirche in Ris blinzeln ließ.

Emma fror.

Kovics Beerdigung war gerade einmal zwei Tage her. Vor kaum achtundvierzig Stunden hatte sie sich von einer guten Freundin verabschiedet. Danach war sie nach Hause gegangen und hatte alle Anrufe und Textnachrichten ignoriert – einen ganzen Tag lang.

Sie dachte an Kasper, den sie nach Dänemark zur letzten Ruhe begleitet hatte. Davor hatte sie ihren Großvater verloren – als Teenager. Als Vollwaise hatte sie mehr als ausreichend mit dem Tod zu tun gehabt, speziell in seiner jähen und unerwarteten Form. Sie hatte Menschen direkt vor ihren Augen sterben sehen und mehrmals geglaubt, selbst sterben zu müssen. Hatte man solche Dinge erlebt wie sie, hatte man den Tod gerochen und die Furcht vor ihm auf der Zunge geschmeckt, wurde er irgendwann und auf ewig zu einem Teil von einem selbst. Wie eine unsichtbare, unheimliche Tätowierung.

Vielleicht solltest du lieber gehen, dachte sie bei sich, als sie mit der träge voranschwappenden Menschenmenge in die Kirche geschoben wurde. Weg aus Oslo und Norwegen. Such dir einen anderen Job, etwas, das nicht so gefährlich für dich selbst ist und nicht so verflucht fatal für andere.

Es reichte wirklich.

War mehr als genug.

Wurde höchste Zeit, ihrer Großmutter mal wieder einen Besuch abzustatten, der letzte war schon viel zu lange her. Die feine, alte Dame war trotz aller Widrigkeiten noch am Leben.

Emma bekam ein Gedenkheft mit einem Foto von Iselin auf dem Deckblatt in die Hand gedrückt. Auf dem Bild war sie vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie lächelte. So würde Emma sich an sie erinnern. Sie hatte Iselin immer als junge Frau gesehen, deren Erlebnisse und Erfahrungen sie äußerlich stark gemacht hatten. Eine Stärke, die auf einem Fundament ruhte, das zu wackeln und bröckeln begann, sobald jemand ihr offen widersprach oder sie kritisierte. Emma hatte das in Iselins suchendem, leicht unsicherem Blick gesehen, wenn sie über einer Tasse Tee oder einem Glas Wein ihre Sichtweise und Meinung geäußert hatte. Und daran, wie schnell Iselin ihr immer zugestimmt hatte.

Vor allen Dingen aber dachte sie an Iselin als eine liebenswerte, hübsche, intelligente junge Frau, die garantiert eine hervorragende Polizistin geworden wäre, eine liebevolle Partnerin und Mutter. Ein Mitmensch, der sich Klein und Groß angenommen hätte, Jung und Alt. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einer offenen, freundlichen Hand.

Emma schlug das Heft auf, sie kannte ein paar der Lieder, die gesungen werden sollten. Namen von Solisten und Musikern. Wer ein paar Worte sagen würde, war nicht angegeben. Emma hoffte, dass Blix es sich nicht antat.

Er saß vorne in der ersten Reihe. Im schwarzen Anzug, unbeweglich. Er erhob sich nicht, wenn jemand bei ihm vorbeikam, rührte keinen Finger und reagierte nicht auf die tröstende Zuwendung. Emma überlegte kurz, zu ihm zu gehen, ließ es dann aber bleiben. Sie hatte mehrfach versucht, ihn anzurufen, und ihm ein paar Textmeldungen geschrieben, ihm ihr unendliches Bedauern ausgedrückt und ihm angeboten, sich bei ihr zu melden, wenn sie irgendetwas für ihn tun konnte. Bislang hatte Blix sich noch nicht bei ihr gemeldet.

Der Platz links neben ihm war frei. An seiner rechten Seite saß mit einem Meter Abstand eine Frau, die gut einen Kopf kleiner als er war. Sie klammerte sich an den linken Arm eines anderen Mannes und hatte den Kopf an seine Schulter gelegt. Das musste Merete sein, dachte Emma, Iselins Mutter.

In der Kirche wimmelte es von uniformierten Polizeibeamten. Sie sah Gard Fosse, tadellos gekleidet in frisch gebügelter Dienstuniform mit weißem Hemd und schwarzem Bandelier. Er stand im Mittelgang und dirigierte die übrige Belegschaft auf ihre Plätze, darunter Tine Abelvik und Nicolai Wibe. Sie hatte eigentlich auch mit Hege Valle vom Kriminalamt gerechnet, aber die Frau, die Emma dreieinhalb Stunden verhört und versprochen hatte, nicht lockerzulassen, war nicht zu sehen. Emma ging davon aus, dass die meisten Mitschüler aus Iselins Klasse anwesend waren. Freunde. Ein Mann drehte sich um und schaute nach hinten. Emma erkannte ihn aus dem Produktionsteam von »Worthy Winner« wieder, der Reality-Show, an der Iselin teilgenommen hatte. Ansonsten gab es viele Menschen, die sie noch nie gesehen hatte.

Der Organist beendete sein langsames, trauriges Stück, und die Kirchenglocken begannen zu läuten. Emma fand einen freien Platz direkt am Mittelgang, ziemlich weit hinten und dicht neben einem Mann, der unangenehm nach Zigarettenrauch stank. Es senkte sich eine Form von Ruhe auf die Gemeinde herab, nur unterbrochen von leisem Flüstern in den Bankreihen, raschelnden Kleidern, vereinzeltem Husten und Räuspern.

Emma senkte den Blick.

Sie dachte an Blix. Wie einsam musste er sich in diesem Moment fühlen, in seiner Trauer und Verzweiflung, wie schwer würde sein Leben von nun an sein. Würden sie beide nach allem, was passiert war, jemals wieder normal miteinander umgehen können? Sie weinte wegen all der Dinge, die sie getan hatte.

Der Organist setzte sein Stück fort. Die Trauergäste sollten sich erheben und singen. Emma war froh, etwas zu haben, worauf sie sich konzentrieren konnte.

Sie wusste nicht, was sie unerträglicher fand – am offenen Grab Erde auf den Sarg zu werfen oder den Leichenwagen mit dem Sarg davonfahren zu sehen. Beides war gleichermaßen grausam.

Iselin wurde in einem großen schwarzen Mercedes mit unanständig großem, prominent auf der Seite prangendem Firmenlogo weggebracht. Ganz langsam rollte der Wagen davon. Kies und Schotter knirschten unter den Reifen. Mit jedem Meter, jeder Sekunde entfernte Iselin sich weiter von ihnen.

Das war das Letzte, was sie von ihr sehen würden.

Ein Leichenwagen. Ein paar Bäume. Und der sattblaue Himmel über ihnen.

Der Wagen entfernte sich immer weiter. Häuser. Eine milchig weiße, freundliche Wolke. Der Kondensstreifen eines Flugzeugs, das schon vor längerer Zeit vorbeigeflogen war.

Noch weiter weg.

Noch eine Sekunde mehr, nur eine Sekunde, dann verschwand der Wagen hinter einer Kurve. Und Iselin mit ihm.