Brogeland hob das Kinn, und Blix schob die Schultern nach hinten. »Zu dem Zeitpunkt wusstest du noch nicht, was in Kovics Wohnung vorgefallen war?«
»Nein, ich wusste nur, dass etwas vorgefallen war. Ich hab versucht, sie anzurufen – also Kovic –, nachdem ich mit Iselin gesprochen hatte, aber ihr Handy war ausgeschaltet. Oder – jedenfalls hat sie nicht geantwortet.«
»Du …«
Brogeland blätterte den Papierstapel vor sich durch.
»Du hast um … 16.42 Uhr angerufen?«
»Wenn das so in den Unterlagen steht«, sagte Blix mit einem Nicken auf den Papierstapel. »Ich hab nicht so genau auf die Uhrzeit geachtet.«
»War Emma Ramm da schon bei dir?«
»Nein, ich habe die Veranstaltung allein verlassen.«
»Du hast nicht mit ihr gesprochen, bevor du aufgebrochen bist?«
Blix zögerte kurz, ehe er den Kopf schüttelte.
»Ich hab ihr nur mitgeteilt, dass ich es eilig hätte.«
»Du hast nicht gesagt, dass etwas passiert ist?«
»Nein, aber ich denke, das war ihr schon klar.«
Brogeland kritzelte eine rasche Notiz aufs Papier. Blix erwartete weitere Fragen zu seiner Beziehung zu Emma. Er fragte sich, wie viel Brogeland wusste.
»Okay«, sagte der Sonderermittler. »Du hast also das Seminar verlassen und bist zurück nach Oslo gefahren. Und dann?«
Die anderen Autofahrer wichen vor dem Blaulicht auf dem Autodach brav an die Straßenränder aus. Blix justierte das Headset, um besser zu hören. Er hatte Iselin am Ohr, seit er ins Auto gestiegen war, aber die Kommunikation verlief eher einseitig.
Er versuchte, aus ihr herauszubekommen, was eigentlich passiert war, aber Iselins Antworten waren unkonzentriert und einsilbig.
In Höhe der Ausfahrt nach Smestad fragte Blix, ob die Streife schon zu sehen war, die sie holen sollte.
»Sie kommen.«
»Kannst du sie sehen?«
Keine Antwort.
»Geh ihnen entgegen«, sagte er.
In der Zwischenzeit hatte er versucht, sie zu beruhigen, dass der Mann, der auf sie geschossen hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Flucht war und sie nicht zum St. Hanshaugen verfolgt hatte. Er war nur nicht sicher, ob er zu Iselin durchdrang.
»Konzentrier dich auf den Polizeiwagen«, sagte er und schob sich an einem Taxi vorbei. »Gib dich zu erkennen.«
Immer noch keine Antwort.
»Iselin«, sagte er streng. »Gib dich zu erkennen. Wink ihnen zu. Lass sie wissen, dass du diejenige bist, die sie abholen sollen.«
Iselin holte tief Luft, als wollte sie sich Mut machen.
Er hörte Stimmen im Hintergrund, die er nicht wiedererkannte, dachte aber, dass die meisten Kollegen aus dem Präsidium Iselin kannten, da sie ihn schon mehrmals dort abgeholt hatte.
Der Anruf wurde unterbrochen.
Blix starrte auf das Display. War Iselins Panik etwa doch berechtigt gewesen? Er wollte sie gerade wieder anrufen, als eine Textnachricht von einer unbekannten Nummer kam.
Ihre Tochter ist in Sicherheit. Eriksen.
Blix hatte keine Ahnung, wer Eriksen war, aber das spielte auch keine Rolle. Das Wichtigste war, dass Iselin in Sicherheit war und er sich wieder etwas entspannen konnte.
Er fuhr in Majorstua ab, dankbar, dass sein Blaulicht die Straße wie ein Schneepflug freiräumte. Kurz darauf war er im Geitmyrsveien, wo Kovic seit elf Monaten wohnte. Blix war schon einige Male bei ihr gewesen, das erste Mal bei der Einweihungsparty. Er hatte sich zwischen all ihren Freunden und Bekannten und den vorwiegend jüngeren Kollegen alt gefühlt und sich wie auf fast allen Festen früh verabschiedet. Kovic war deswegen etwas enttäuscht gewesen.
Als er die zahllosen Blaulichter vor sich sah, versetzte es ihm einen Stich in der Brust. Er sah Uniformen auf der Straße, Schaulustige, die vor der Absperrung zusammengeströmt waren, filmten und Fotos machten und besorgte Blicke tauschten.
Ein Rettungswagen bog auf die Fahrbahn ab und fuhr davon. Blix übernahm den frei gewordenen Platz und war aus dem Wagen gesprungen, ehe dieser ganz stand. Über ihm ratterten die Rotorblätter des Polizeihelikopters.
Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn dem Beamten vor die Nase, der die Absperrung bewachte, duckte sich unter dem Band hindurch und lief zur offenen Haustür.
Im Treppenhaus hallten seine Schritte von den Wänden wider, als er, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hochrannte. Vor dem Eingang zu Kovics Wohnung stand ein weiterer Beamter, der aber sofort Platz machte, als er Blix kommen sah. Er drückte ihm ein Paar blaue Plastiküberzieher für seine Schuhe in die Hand.
Blix blieb auf der Türschwelle stehen und holte tief Luft. Versuchte, sich innerlich zu wappnen. Er hatte schon so viele Tatorte gesehen, auch von Menschen, die er kannte oder von denen er zumindest wusste, wer sie waren. Aber das hier war etwas anderes.
Er zog die Schuhhüllen an und trat in die Wohnung. Erst einen Schritt, dann den nächsten. Den Blick verkrampft auf den Boden gerichtet.
Er schloss die Augen. Atmete tief ein. Machte sie wieder auf. Und wie eine Kamera, die einen Film in Zeitlupe aufnahm, hob er den Blick langsam in Richtung Wohnzimmer.
Er blinzelte mehrmals, weil das Bild nicht recht scharf werden wollte. Trotzdem sah er hinter und zwischen den uniformierten Kollegen auf dem Boden einen auf dem Rücken liegenden Körper, einen Arm zur Seite, den anderen über den Kopf gestreckt, als würde sie sich zu Wort melden.
Links an der Stirn war ein Einschussloch und unter ihr eine Blutlache. Ihre Augen waren offen. Blix musste schlucken, einmal, noch einmal.
»Mein Gott«, murmelte er leise.
Sofia Kovic war hingerichtet worden.