Jemand hatte einen Rollwagen mit alten PCs auf den Flur gestellt. Blix schob sich an zwei Kollegen vorbei und ging in Fosses Büro, ohne vorher anzuklopfen.
Der Dezernatsleiter hob den Blick und legte den Stift weg, den er in der Hand hielt.
»Kovic ging zu einem Psychiater«, sagte Blix. »Zu Neumann. Sie war am Tag vor dem Mord bei ihm, wir brauchen aber einen Gerichtsbeschluss, um ihre Akte zu bekommen. Neumann wollte sie mir nicht geben.«
Fosse musterte ihn.
»Ich habe mit Abelvik gesprochen«, sagte Fosse. »Du musst das ihr überlassen, Alexander. Es ist nicht richtig, dass du jetzt hier bist. So wie die Situation sich darstellt.«
»Ich stecke da mittendrin, ob ich will oder nicht«, antwortete Blix.
»Hast du mit jemandem vom Polizeiverband gesprochen? Vielleicht kriegst du da Unterstützung?«
Blix winkte ab.
»Das brauche ich nicht«, sagte er. »Ich muss Iselin finden. Und herausfinden, was mit Kovic passiert ist.«
Er trat zu dem freien Stuhl, blieb aber stehen.
»Der Schutz des Patienten wiegt schwer«, begann Fosse.
»Die Patientin ist tot«, erinnerte Blix ihn. »Ich will wissen, was sie bedrückt hat. Schick einen der Staatsanwälte zum Gericht, damit wir die Papiere bekommen.«
Fosse zögerte etwas, dann nickte er.
»Ich bitte Pia Nøkleby, sich darum zu kümmern«, sagte er. »Sie will aber sicher einen Hintergrundbericht.«
Blix seufzte tief.
»Ich kümmere mich darum.«
»Und danach gehst du nach Hause«, befahl Fosse. »Du hast hier nichts verloren.«
»Ich kann hier viel tun!«
»Egal!«, sagte Fosse. »Du hast jetzt eine andere Rolle. Du bist in diesem Fall kein Ermittler. Du bist ein Angehöriger. Dich im Dezernat zu haben ist für die anderen eher hinderlich. Sie wissen nicht, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollen. Sie werden unsicher und verlegen. Scheuen davor zurück, etwas zu unternehmen.«
Eine Ader an seiner Schläfe begann zu pulsieren. Blix spürte jeden Herzschlag. Er biss die Zähne zusammen, konnte sich aber trotzdem nicht zusammenreißen.
»Das wäre alles nicht nötig gewesen«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Abelvik hatte empfohlen, Iselin unter Polizeischutz zu stellen«, sagte Blix. »Aber das hast du abgelehnt.«
»Es war klar, dass Kovic das Ziel des Angreifers war«, sagte Fosse. »Das geht aus Iselins Aussage deutlich hervor. Der Täter hatte es auf Kovic abgesehen. Iselin war zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Sie ist eine gefährliche Zeugin.«
»Sie hat ihn nicht gesehen«, wandte Fosse ein. »Sie hat selbst gesagt, dass sie ihn nicht wiedererkennen würde.«
»Das kann der Täter aber nicht wissen. Außerdem hat sie seine Stimme gehört.«
Fosse stand auf.
»Ich verstehe deine Gedanken«, sagte er. »Aber für den Polizeischutz muss ich all das abwägen.«
Blix trat einen Schritt auf Fosse zu. In seinem Inneren brodelte es. Er wollte die Diskussion fortsetzen, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Fosse drehte sich um. Sein Blick verriet, dass er das Gespräch entgegennehmen musste.
»Fahr nach Hause«, wiederholte Fosse. »Lass uns das machen.«
Blix drehte sich um, verließ das Büro und knallte die Tür laut hinter sich zu. Als er zu seinem Arbeitsplatz ging, schienen all seine Kollegen sehr beschäftigt zu sein.
Fosse hatte recht.
Er verunsicherte die Kollegen, aber nach Hause fahren und Däumchen drehen war keine Alternative. Er gehörte hierher, nur von hier aus konnte er etwas ausrichten.
Er brauchte zehn Minuten, um den Bericht für Nøkleby zu schreiben, damit er Kovics Patientenakte bekam. Der Antrag auf Aushändigung würde aber erst am Montag gestellt werden, und bis dieser alle Instanzen durchlaufen hatte, würde sicher noch ein weiterer Tag vergehen.
Er schob den Stuhl zurück und starrte auf Kovics leeren Platz.
Dort lagen noch immer ihr Notizblock und drei Fallakten. Die Fahrerflucht, in der sie ermittelt hatte, die noch nicht abgeschlossen war. Dann eine Vergewaltigung, bei der sie den Ermittlern zugearbeitet hatte, ebenfalls noch nicht abgeschlossen. Die dritte Akte aus ihrer Schreibtischschublade war ein abgeschlossener Fall, mit dem Kovic nichts zu tun gehabt hatte. Er verstand nicht, warum diese Akte bei ihr war. Und genau das machte sie interessant. Genau diese Unstimmigkeiten waren es, auf die man bei jeder Ermittlung achtete. Kleine Details, die komplett aus dem Rahmen fielen.
Ein Gespräch an einem der Arbeitsplätze wurde immer lauter. Nicolai Wibes Stimme war deutlich rauszuhören. Blix bekam nicht mit, um was es ging, sein Kollege schien aber sehr zufrieden zu sein. Er nahm einen Laptop mit und begab sich in den Gemeinschaftsbereich.
Blix stand auf und ging zu ihm.
»Neuigkeiten?«
»Das Auto, das die Kidnapper benutzt haben«, begann er. »Mit etwas Glück haben wir Aufnahmen von dem Autodieb.«
Er klappte seinen Laptop auf.
»Die Schlüssel sollen im Laufe der Woche aus dem Verkaufsbüro des Autohändlers gestohlen worden sein, aber wenn die Entführung mit dem Mord an Kovic zusammenhängt, hatten die Täter in der Realität nur ein paar Stunden nach der Öffnung des Büros am Samstagmorgen.«
Blix nickte. Er war gespannt auf die Resultate.
»Wir haben einen Mann auf den Videoaufzeichnungen aus dem Verkaufsbüro und zwei Angestellte«, fuhr Wibe fort.
Ein paar Fotos erschienen auf dem Bildschirm. Ein Mann in schwarzer Jacke, Wollmütze und einem schwarzen Pullover befand sich mitten in der Ausstellungshalle. Am Ende des Saals waren die abgetrennten Büros der Verkäufer zu sehen.
»Die Schlüssel werden in einem Schrank hier in diesem Büro aufbewahrt«, erklärte Wibe und zeigte auf das Büro ganz rechts. »In dem Büro selbst ist keine Kamera, dies hier ist die beste vorhandene Perspektive. Im Laufe des Samstagvormittags waren sechs Leute in diesem Büro. Die Angestellten können fünf davon erklären, nicht aber diesen Mann.«
Er zeigte auf den Mann auf dem Foto. Das Bild war deutlich besser als die Aufnahmen der Überwachungskameras im Zentrum von Oslo. Die Mütze und die Statur glichen dem Fahrer des Wagens, in dem Iselin entführt worden war.
Blix hielt sein Telefon vor den Bildschirm und machte ein Foto.
»Wir schicken intern eine Fahndungsmeldung an alle Streifenwagen«, fuhr Wibe fort. »Seinen Namen sollten wir im Laufe einer Stunde haben.«
Blix warf einen Blick auf die Uhr. Seit Iselins Verschwinden waren jetzt mehr als acht Stunden vergangen. Die Gedanken drehten sich im Kreis, und er bekam das Worst-Case-Szenario einfach nicht aus dem Kopf. In fünfundsiebzig Prozent aller Entführungsfälle wurden die Opfer im Laufe der ersten drei Stunden getötet.
»Wo willst du hin?«, fragte Wibe.
»Raus!«, antwortete Blix. »Nach Hause.«
Er warf einen Blick auf die Akte, die auf Kovics Tisch lag. »Ich muss nur noch was holen«, fügte er hinzu und wartete, bis Wibe weitergegangen war.