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Das Schloss klemmte mal wieder, Iselin musste den Schlüssel mehrmals hin und her bewegen, bis er sich drehen ließ.

Kovics Wohnung erstreckte sich über zwei Etagen, sie nutzte aber nur das untere Stockwerk. Iselin hatte die Dachwohnung jetzt seit einem halben Jahr.

Sie lächelte bei dem Gedanken an die fünfundzwanzig Quadratmeter ganz für sich allein, inklusive eines kleinen Bades. Sie fühlte sich hier viel freier als in der Zeit, in der sie bei ihrem Vater gewohnt hatte.

Iselin streifte unten im Flur die Schuhe ab und ging hinein.

Kovic stand am Küchentisch und studierte ein paar Papiere, die sie in der Hand hielt. Sie schien Iselin nicht zu bemerken.

»Hallo!«, sagte Iselin.

Kovic nahm den Blick langsam von den Papieren.

»Hm?«

»Viel zu tun?«, fragte Iselin.

»Oh, ja …«

Kovic legte die Zettel in eine der grünen Polizeimappen und begann aufzuräumen. Stellte gebrauchte Gläser und Teller ins Spülbecken.

»Wolltest du diese Woche nicht freimachen?«, fragte Iselin.

Kovic klappte ihren Laptop zu.

»Das ist manchmal nicht so einfach mit dem Freimachen«, sagte sie seufzend und deutete mit der Hand zum Tisch. »Irgendwie passt das nie. Insbesondere jetzt, da ich …«

Sie hielt inne.

»Das wird bei dir nicht anders werden«, fuhr sie müde lächelnd fort. »Gewöhn dich schon mal an den Gedanken, Mini-Blix.«

Iselin lächelte schief. Sie mochte den Spitznamen, den Kovic ihr gegeben hatte, nicht sonderlich. Dass sie in die Fußspuren ihres Vaters treten wollte, war im Präsidium allgemein bekannt, da brauchte sie nicht noch einen Spitznamen, der allen diese Verbindung nochmal extra unter die Nase rieb.

Manchmal fragte sie sich, ob es ein Fehler gewesen war, an der Polizeischule anzufangen. Sie hatte die Schule in Stavern gewählt wegen des Abstands zum Präsidium in Oslo und würde doch immer, egal was sie tat, mit ihrem Vater verglichen werden. Iselin hoffte, niemals etwas zu tun, das ihn in Verlegenheit brachte.

Für gewöhnlich freute Kovic sich über Gesellschaft. In der Regel begrüßte sie Iselin mit einer Umarmung und bombardierte sie mit Fragen, wie die Woche gelaufen war. Heute schien sie aber lieber allein sein zu wollen. Irgendetwas bedrückte sie. Um das zu erkennen, musste Iselin nicht auf die Polizeischule gehen.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie mit einem Nicken in Richtung Küchentisch. »Brainstormen kann ich ziemlich gut.«

Kovic schüttelte den Kopf.

»Aber danke für das Angebot«, sagte sie mit einem Lächeln.

Iselin hörte ein »Du hast nicht genug Erfahrung, um mir helfen zu können« heraus.

»Ich muss mit deinem Vater reden. Dringend.«

»Kannst du ihn nicht erreichen?«

»Nein, ich glaube, er hält heute ein Seminar. Sein Telefon ist ausgeschaltet. Dein Vater ist ein sehr beschäftigter Mann.«

Iselin nickte.

»Kannst du mit niemandem sonst im Präsidium reden?«

Kovic sah Iselin einen Augenblick an, ohne zu antworten.

»Abelvik, Wibe … Fosse?«

Kovic rümpfte die Nase.

»Ich hör ja schon auf«, sagte Iselin und hob die Hände. »Ich geh hoch und chille ein bisschen. Heute Abend gehe ich mit Ida und Cecilia noch in die Stadt.«

Sie nahm ihre Tasche mit nach oben in ihr Zimmer, packte ihren Kulturbeutel aus und legte die Lehrbücher, die sie sich über das Wochenende anschauen wollte, auf den Schreibtisch. Die Luft im Raum war abgestanden, weshalb sie ein Fenster öffnete und nach draußen sah. Das Gerüstbrett vor ihrem Fenster lag voller altem Putz.

Sie chattete mit ihren Freundinnen, dann ging sie ins Bad und duschte ausgiebig. Anschließend stand sie in Unterwäsche vor dem Spiegel und gab ihren Haaren mit dem Lockenstab etwas mehr Volumen.

Unten klingelte es.

Ein Küchenstuhl kratzte über den Boden, als Kovic aufstand und zur Tür ging. Eine Männerstimme. Iselin lächelte. Es war noch nicht lange her, dass Kovic ihre letzte Beziehung beendet hatte.

Sie wickelte gerade eine Locke um den warmen Stab, als sie von unten einen Schrei hörte. Iselins Blick zuckte zur Tür. Sie hörte etwas zu Boden fallen, dann ein gedämpftes Poff.

Intuitiv dachte Iselin an einen Schuss mit Schalldämpfer. Das folgende Geräusch klang nach einem zu Boden gehenden Körper.

Sie legte den Lockenstab weg. Dachte, dass sie sich verhört haben musste. Das konnte nur ein Irrtum sein.

Sie hob die Pyjamahose vom Boden auf und blieb lauschend stehen.

Unten waren Bewegungen zu hören, aber niemand sagte etwas. Sie zog die Hose an, trat einen Schritt näher zur Tür und fragte sich, ob sie nach unten rufen sollte, ob alles okay sei. Stattdessen legte sie den Kopf schräg, um besser zu hören.

Stille.

Nein.

Schritte. Langsame. Ein Schlurfen wie von Sohlen auf Parkett. Dann die Gardine, ein Stecker, der aus der Steckdose gezogen wurde, und das Rascheln von Papier.

Iselin hielt das Handy in der Hand und tippte den Notruf, als sie die Schritte Richtung Haustür gehen hörte. Und wie sie plötzlich innehielten.

Sie dachte an ihre Schuhe, die sie hinter der Tür ausgezogen hatte.

Ihre Jacke hing am Haken. Iselin hielt die Luft an und wich unbewusst von der Tür in den Raum zurück. Dabei stieß sie mit dem Ellenbogen an eins der Bücher auf dem Schreibtisch. Sie schwang schnell herum, konnte aber nicht verhindern, dass der ganze Stapel zu Boden ging. Erstarrt vor Schreck, blieb sie stehen und lauschte.

Schritte.

Vor der Treppe.

Auf der Treppe, auf dem Weg zu ihr.

Angst zog ihr den Magen zusammen. Sie überlegte kurz, sich unter dem Bett oder im Schrank zu verstecken. Dann suchte sie nach etwas, womit sie sich verteidigen konnte, fand aber nur den Stuhl. Sie hob ihn an der Lehne an, stellte sich neben der Tür an die Wand. Hob ihn über den Kopf. Hörte die Schritte jetzt ganz nah.

Der Anblick lähmte sie einen Augenblick. Ein Mann mit Sturmhaube, nur der Mund und zwei dunkle Augenhöhlen waren zu sehen. Schwarze Handschuhe. Eine Pistole in der Hand.

Sie ließ den Stuhl fallen. Nutzte all ihre Kraft.

Der Eindringling sah sie, konnte aber nicht mehr ausweichen. Zwei Stuhlbeine trafen den rechten Arm, die Pistole glitt ihm aus den Fingern und fiel zu Boden. Er bückte sich danach. Iselin hob den Stuhl zu einem weiteren Schlag und traf diesmal den Rücken des Mannes. Es gelang ihr, ihn mit dem Stuhl ein Stück von der Waffe wegzudrücken.

Der Mann bekam zwei Stuhlbeine zu fassen. Er brüllte, riss ihr den Stuhl aus den Händen und schleuderte ihn durch das Zimmer. Dann packte er sie, warf sie zur Seite und machte einen Schritt auf die Waffe zu.

Es fühlte sich an, als bräche eine Rippe, als sie gegen den Schreibtisch schlug. Der Spiegel fiel von der Wand und zerbrach.

Iselin schnappte nach Luft und stürzte nach vorn, um vor dem Mann die Waffe zu erreichen. Sie krabbelte über Kleider, Bücher, Schminkzeug.

Er war wieder über ihr und drückte sie zu Boden, während er sich nach der Waffe ausstreckte. Iselin ruderte mit den Armen, zog die Knie an. Spürte seinen Atem. Den Geruch eines schweren, würzigen Herrenparfüms.

Ihr linker Arm berührte etwas. Sie verbrannte sich. Der Lockenstab. Sie bekam den Griff zu fassen und drückte den Stab gegen die Brust des Mannes über ihr. Fand einen Spalt zwischen Haube und Pulloverkragen.

Der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus, drehte sich zur Seite und bekam das Kabel zu fassen. Er riss ihr den Lockenstab aus der Hand und schleuderte ihn durch den Raum.

Iselins Finger berührten die Pistole, bekamen sie aber nicht richtig zu fassen, stattdessen stieß sie sie unter das Bett, außer Reichweite.

Der Mann schlug zu, seine Faust traf sie seitlich am Kinn. Ihre Lippe platzte auf. Blutgeschmack füllte ihren Mund.

Es gelang ihr, sich aufzurichten und sich von ihm wegzuschieben.

Der Mann schob das Bett zur Seite. Hockte sich hin. Streckte sich nach der Waffe aus.

Iselin stand auf. Der Eindringling war zwischen ihr und der Tür.

Das Fenster.

Das Gerüst.

In drei langen Schritten war sie dort und riss das Fenster ganz auf, stellte erst einen, dann den anderen Fuß auf das Gerüst.

Da hörte sie hinter sich ein Poff.