72

»Kommen Sie schon«, sagte Neumann. »Was wählen Sie?«

Die Kugel wäre die einfachere, schnellere Lösung gewesen und vielleicht auch die beste für ihn, aber Blix dachte an Walter Wiiks Bedenken, dass ein Schuss nicht gut für diejenigen sei, die ihn fanden. Und in diesem Fall wäre das für alle über Emmas Video zu sehen. Und Emma würde es dann ganz sicher mitbekommen. Aber war es besser, ihn am Seil zappeln zu sehen, bis sein Körper schlaff wurde?

»Erschießen Sie mich«, sagte er.

»Okay.«

Neumann hob die Pistole an.

»Aber ich will das nicht kommen sehen«, sagte Blix mit Tränen in den Augen. »Ich will nicht in die Pistolenmündung starren.«

Der Psychiater schien ein paar Sekunden nachzudenken.

»Knien Sie sich hin«, sagte er. »Drehen Sie sich um.«

Blix drehte sich um und kniete sich langsam hin.

Jede Sekunde rechnete er damit, den kalten Stahl der Pistolenmündung an seiner Schläfe zu spüren.

Aus den Augenwinkeln sah Blix die Pistole.

»Warten Sie«, sagte er. »Ich habe mich anders entschieden.«

Neumann seufzte.

»Wollen Sie doch lieber hängen wie Ihre Tochter?«

Blix nickte. Sah nach oben.

Neumann wartete etwas, bevor er sagte:

»Gut, wie Sie wollen. Aber die Schlinge legen Sie sich selbst um. Ich will nicht das Risiko eingehen, dass Sie plötzlich irgendeinen Mist versuchen.«

Neumann warf ihm das Ende des Seils zu. Wie auf Autopilot fing Blix es auf. Starrte ein paar Sekunden darauf, bevor er es sich langsam um den Kopf legte.

Neumann hob die Fernbedienung vom Boden auf. Drückte einen Knopf. Die Winde begann zu brummen, und als Blix den Kopf hob, sah er den Haken ein paar Meter neben sich langsam nach unten kommen. Neumann stoppte ihn in Schulterhöhe. Hakte das Seil ein.

Blix blinzelte. Tränen rannen aus seinen Augen. Das Adrenalin pumpte durch seinen Körper.

Neumann drückte einen weiteren Knopf, und der Haken wurde wieder in die Höhe gezogen. Das Seil straffte sich.

Dann begann es an Blix zu ziehen. Das Seil straffte sich um seinen Hals.

Blix stand auf, er hatte keine andere Wahl, er musste dem Seil folgen. Er stand direkt unter der Winde, die ihn Zentimeter für Zentimeter nach oben zog. In wenigen Augenblicken würde das Seil ihm die Luft abschnüren, und dann würde er nichts mehr sagen können.

Plötzlich überkam ihn Panik.

»Die Polizei ist auf dem Weg«, presste er heraus.

Neumann schnaubte.

»Sie haben alles auf Video«, fuhr Blix fort und spürte das Seil an seinen Nackenwirbeln. Er zeigte auf das Regal, auf dem Iselins Handy stand, ehe er das Seil packte und versuchte, ein paar Finger in die Schlinge zu schieben.

»Video …«

Mehr konnte er nicht mehr sagen.

Neumanns Verunsicherung war zu erkennen. Er drückte wieder auf die Fernbedienung und hielt die Winde an. Blix blieb auf den Zehenspitzen stehen, während seine Finger mit dem Seil kämpften. Er versuchte zu sprechen, aber es gelang ihm nicht.

Neumann drehte sich um, ging zu dem Regal, auf dem das Telefon stand, nahm es und begann zu lachen. Drehte das Display zu Blix, der den Kopf etwas senkte und sah, dass das Display aufleuchtete und man den Code eintippen musste, damit das Gerät entsperrt wurde.

»Hier wird nichts aufgezeichnet, Blix.«

Neumann lachte wieder und warf das Telefon weg. Blix versuchte noch einmal, etwas zu sagen, mehr als ein Röcheln kam aber nicht über seine Lippen. Er fragte sich, was passiert sein konnte, kam aber nur zu dem Schluss, dass die Verbindung zu Emma irgendwie unterbrochen worden sein musste. Es war nicht einmal sicher, dass sie überhaupt etwas mitbekommen hatte. Vielleicht hatten sie Neumanns Geständnis dann doch nicht aufgezeichnet.

Fieberhaft versuchte er, die Finger unter das Seil zu schieben, das sich um sein Kinn nach oben zog. Die Tränen ließen ihn kaum etwas sehen. Er blinzelte ein paarmal. Kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder.

Es war zu spät.

Irgendwo in der Halle schepperte Metall. Als wäre etwas umgefallen. Neumanns Blick schoss zur Seite in Richtung des Ortes, aus dem der Lärm gekommen war. Auch Blix versuchte, den Kopf zu drehen. Er sah nichts. Vielleicht war aber trotzdem jemand da. Oder es war nur der Wind. Blix hoffte auf Abelvik und die anderen, vielleicht sogar das SEK.

Im nächsten Augenblick wurde die Winde über ihm wieder in Gang gesetzt. Das Seil zog Blix in die Höhe, sodass seine Füße den Kontakt mit dem Boden verloren.

Schon jetzt wurde ihm schwarz vor Augen.

Er bekam keine Luft.

Rotierte um die eigene Achse. Drehte sich wie eine Spirale nach oben. Er hörte die Winde arbeiten. Sie zog ihn immer weiter hoch. In ein paar Sekunden würde er das Bewusstsein verlieren, und ein paar Sekunden später wäre er tot.

Alexander Blix hatte immer mit einer Form von Sehnsucht an den Tod gedacht.

Mit dem Wunsch, die Dunkelheit einfach kommen zu lassen.

Und er hatte sich gefragt, woran er denken würde, ob das Größte und Wichtigste, was er im Leben erlebt hatte, vor seinem inneren Auge auftauchte oder ob es ein zufälliges Bild sein würde, die Aussicht von einem Berggipfel, der Duft eines Apfelbaumes, der Geschmack von Wein. Er hatte sich gefragt, ob das Leben noch einmal Revue passierte und er seinen eigenen Geburtsschrei hörte.

Aber es kamen keine Bilder.

Keine Erinnerungen.

Er hörte nur Geräusche.

Schuhe. Trampeln.

Dann ein Ruf.

Dann wurde alles dunkler und dunkler.

Schwerer und schwerer.

Als fiele er.