»Dann wollte Blix, dass Sie babysitten?«
Hege Valle schloss den Mund, und es sah so aus, als zögen ihre Lippen sich zusammen.
»Iselin ist dreiundzwanzig Jahre alt«, antwortete Emma etwas säuerlicher als beabsichtigt. »Außerdem glaube ich nicht, dass Blix wollte, dass ich komme. Er sah aber wohl ein, dass das eine gute Lösung wäre. Auf jeden Fall eine praktikable. Für alle Beteiligten.«
»Und Sie konnten so kurzfristig?«
»Ich habe eine nette Chefin.«
»Anita Grønvold?«
Emma nickte. Sie war von der Redaktion teilweise freigestellt worden, um an ihrem Buch arbeiten zu können, und musste nur einspringen, wenn Not am Mann war.
Valle lächelte.
»Ich mag Anita«, sagte sie. »Sie ist eine toughe Frau.«
Ihre weißen Zähne glänzten im Licht der Deckenlampe.
»Blix hielt Sie also für qualifiziert genug, um auf seine Tochter aufzupassen?«
Der Sarkasmus in ihrer Stimme machte Emma unruhig.
»Ich glaube, ihm war es einfach wichtig, dass jemand bei ihr war«, antwortete sie. »Dass sie nicht allein war.«
»Und Sie hatten keine Angst, dass der Mann, der Kovic getötet hatte, auch versuchen könnte, Iselin zu töten?«
Emma zögerte.
»Nicht wirklich.«
Valle hielt eine Sekunde inne. Wischte sich einen Speicheltropfen vom Mundwinkel, ehe sie fortfuhr.
»Was war dann der Plan – wollten Sie den ganzen Tag bei ihr sein, bis Blix wieder zurück war?«
»In erster Linie wollte ich da sein«, antwortete Emma. »Und sie zum Psychiater begleiten.«
»Ich will da nicht hin.«
Iselin sah Emma an. Sie saßen am Küchentisch, beide mit einer Tasse Tee vor sich.
»Dein Vater hat mich gewarnt, dass du das sagen würdest«, erwiderte Emma und lächelte warmherzig.
»Was hat er noch gesagt?«
»Dass ich die ganze Zeit über bei dir sein soll.«
Iselin nickte.
»Wovor graut dir am meisten?«, fragte Emma.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Es nochmal zu durchleben vielleicht. Obwohl der Film hier drinnen in einer Endlosschleife läuft.«
Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Verstehe«, sagte Emma und legte die Hand auf ihre. »Aber dein Vater wird mich umbringen, wenn ich dich nicht dahin begleite. Wenn du es also nicht dir zuliebe tun willst, tu es mir zuliebe. Okay?«
Emma blinzelte. Iselin hob den Blick und lächelte.
»Mach dich fertig«, sagte Emma. »Ich überprüfe in der Zwischenzeit, dass draußen auch keine bösen Buben stehen.«
Sie tätschelte Iselins Hand und stand auf.
»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass draußen jemand auf uns lauert?«, fragte Iselin.
Ihre Stimme klang mit einem Mal ängstlich.
»Nein«, sagte Emma. »Aber ich nehme meinen Job als Bodyguard ernst.«
Iselin lachte.
Fünfundzwanzig Minuten später verließen sie Blix’ Wohnung. Es war ein kalter Vormittag. Der eisige Wind ließ sie die Schals enger um den Hals legen. Emma hatte ein Taxi bestellt, da sie möglichst wenig Zeit mit Iselin draußen verbringen wollte. Kurz vor neun hielt der Wagen vor der Osloer Domkirche.
Sie hasteten über die Straßenbahnschienen in die Torggata und liefen an zwei Männern vorbei, die die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Klassekampen verteilten.
Die Praxis von Eivind Neumann lag in der fünften Etage eines Hauses am Anfang der belebten Fußgängerzone. Emma fand den Namen des Psychiaters auf der Klingelanlage und tippte den Klingelcode – 604. Emma zog Iselin an sich, damit sie beide im Bild der Kamera waren. Nach ein paar Sekunden wurden sie eingelassen.
Ein etwa fünfzigjähriger Mann im Anzug wartete oben vor dem Aufzug auf sie.
»Guten Morgen«, sagte er mit warmer Stimme. »Sie müssen Iselin sein.«
Er streckte ihr die Hand entgegen und schien sie eine Sekunde zu mustern.
»Sie ähneln Ihrem Vater.«
Er lachte kurz. Iselin nahm seine Hand und begrüßte ihn leise.
»Und Sie sind …?«
Neumann richtete sich an Emma.
»Ich bin eine Freundin«, sagte sie. »Ich unterstütze sie ein bisschen. Danke, dass Sie Iselin an einem Samstag empfangen können.«
Der durchdringende Blick des Psychiaters blieb etwas länger an ihr hängen, als ihr lieb war.
»Ich weiß, wie wichtig es ist, möglichst schnell mit der Aufarbeitung zu beginnen«, antwortete er und nahm Emmas ausgestreckte Hand. »Dann schafft man es schneller zurück in einen normalen Alltag.«
Er wandte sich an Iselin, nickte ihr zu und sah dann noch einmal zu Emma.
»Es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, draußen zu warten.«
Er zeigte auf ein kleines, leeres Wartezimmer.
»Da drinnen gibt es Kaffee, wenn Sie wollen«, sagte er.
Emma sah, dass Iselin sich nicht wohlfühlte.
»Alles wird gut«, beruhigte Emma sie. »Ich bin direkt vor der Tür.«
Emma schaute hoch zu der blinkenden Neonröhre unter der Decke des Verhörraums.
»Aber Sie haben dann doch nicht draußen gewartet, oder?«
Hege Valle sah Emma eindringlich an. Emma senkte den Blick. Spürte die Schuldgefühle.
»Nein. Ich hatte ein Treffen mit Dennis Skofterud in einem Café in der Nähe vereinbart. Iselin sollte neunzig Minuten bei dem Psychiater sein. Ich dachte, dass ich die Wartezeit nutzen könnte. Iselin musste das ja nicht unbedingt wissen.«
»Sie wollten sie nicht beunruhigen?«
»Ja.«
»Hatten Sie das mit Blix im Vorfeld besprochen?«
»Nein.«
Valle machte sich ein paar Notizen.
»Wie konnten Sie Skofterud zu dem Treffen überreden?«
»Ich habe ihm gesagt, dass ich an einer Dokumentation über extreme Gewalt arbeite – einem Buch über Angehörige von Gewaltopfern – und dass ich Einblick in die Täterperspektive bräuchte.«
»Und das hat ihn bewogen zu kommen?«
»Er hat eingewilligt.«
»Und Sie fanden das nicht ein bisschen naiv?«
»Wie meinen Sie das?«
Emma sah zu Valle.
»Einen wegen Mordes verurteilten Mann zu treffen, der Kovic bedroht hatte? Hatten Sie keine Angst, dass er tatsächlich Kovics Mörder sein könnte?«
Emma überlegte, wie sie sich ausdrücken konnte.
»Ich hatte das schon irgendwie im Hinterkopf«, antwortete sie. »Deshalb habe ich ja um ein Treffen in einem Café gebeten, in dem auch andere Menschen sind. Außerdem lag der Fall, für den er verurteilt worden war, anders.«
»Wie anders?«
»Das war ein interner Streit im Drogenmilieu. Er schuldete jemandem Geld und war lange bedroht worden. Sein Verteidiger hat auf Notwehr plädiert. Die Jury war geteilter Meinung. Außerdem liegt das jetzt zwanzig Jahre zurück. Er hat die Strafe abgesessen und ist schon viele Jahre wieder auf freiem Fuß.«
Valle sah sie wortlos an.
»Wurde das Opfer nicht in seiner eigenen Wohnung erschossen?«
Emma nickte und machte eine vage Handbewegung.
»Das machte ihn natürlich verdächtig, ich habe ihn aber trotzdem nicht als Bedrohung aufgefasst.«