Blix hatte keinen Hunger, aus reiner Vernunft nahm er trotzdem einen Döner mit nach Hause. Er hatte allerdings kaum mit dem Essen angefangen, als ihm übel wurde. Er legte den Döner auf einen Teller und nahm sich ein Glas Wasser. Trank alles in drei großen Schlucken, sodass er anschließend richtiggehend keuchen musste. Der Raum um ihn herum begann zu kreisen.
Sein Handy gab zwei Pieptöne von sich. Er ging auf den Flur, nahm es aus seiner Jacke und sah einen verpassten Anruf von Nora Klementsen, einer Journalistin, die schon lange bei der Zeitung Aftenposten arbeitete.
Diverse Reporter hatten in den letzten Tagen versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen, Blix hatte aber keinen der Anrufe angenommen. Klementsen hatte ihm eine SMS geschickt und um Rückruf gebeten, wenn es passte.
Außerdem waren zwei Nachrichten von Emma gekommen.
Er wartete einen Augenblick, bevor er die erste Nachricht öffnete.
Er runzelte die Stirn.
Petter Valk. Columbo. Er war ein paar Jahre älter als Blix, hatte aber nicht dieselbe Ermittlerkompetenz wie er. Er war vor gut zehn Jahren in die Abteilung gekommen, nachdem er wegen eines Knieschadens nicht mehr im operativen Dienst arbeiten konnte. Valk war der fest eingeplante Nikolaus für alle in der Abteilung, die Kinder hatten. Einige der Polizeischüler, die bei Valk im Ermittlungsdienst hospitiert hatten, hatten sich über die fehlende fachliche Kompetenz als Mentor beklagt und seine unangenehme Art, insbesondere weiblichen Kolleginnen gegenüber, bemängelt.
Blix erinnerte sich an zwei Anlässe, bei denen Valk seinen Platz in der Kantine übernommen hatte, als er früher als Kovic hatte gehen müssen. Valk und Kovic hatten an mehreren Fällen gemeinsam gearbeitet, und er hatte sie auch zusammen aus dem Fahrstuhl kommen sehen. Neumanns Patientenbericht passte also eigentlich auch auf Valk.
Die Gedanken wanderten wie von selbst zu Kovics Notizblock.
T. Klevstrand anrufen
Archiv
Treffen vereinbaren – PV
Termin Dolmetscherdienst
Treffen vereinbaren. Mit PV. Er hatte gedacht, mit dem Kürzel sei der Polizeiverband gemeint gewesen, aber ebenso gut passte die Abkürzung für Petter Valk.
Blix umklammerte das Handy fester, stieg in seine Schuhe und zog seine Jacke an. Sekunden später war er aus der Wohnung, überquerte die Straße und eilte in Richtung Polizeipräsidium. Unterwegs warf er einen Blick auf die Uhr. Kurz nach drei.
Eine uniformierte Beamtin mit Namen Siren saß an der Pforte, als Blix das Präsidium betrat. Normalerweise schenkte sie ihm immer ein Lächeln, heute aber nicht. Sie sah ihn nicht einmal an.
»Ich habe meine Zugangskarte zu Hause vergessen.« Er räusperte sich. »Ich muss nur kurz hoch und etwas holen, das auf meinem Tisch liegt. Ist das in Ordnung? Es wird nicht lange dauern.«
Siren hob nur kurz den Blick, ehe sie kurz nickte und die Tür neben der Sicherheitsschleuse öffnete.
»Danke.«
Siren begleitete ihn zum Fahrstuhl und sorgte dafür, dass er Zugang zur sechsten Etage bekam. Blix dankte ihr noch einmal, erhielt aber wieder keine Antwort.
Auf dem Weg nach oben schien der Boden unter ihm zu schwanken. Seit Iselins Tod war er nicht mehr im Präsidium gewesen. Ein Tag war nahezu unbemerkt in den nächsten übergegangen, Nacht und Tag, Tag und Nacht – zeitweise hatte er komplett das Gefühl für die Zeit verloren.
Es war irgendwie unwirklich, wieder hier zu sein. Als wäre nichts geschehen und er auf dem Weg zur Arbeit. Er würde sich einen Kaffee holen, sich an seinen Tisch setzen, einen Überblick über die aktuellen Ereignisse verschaffen und mit Abelvik und Wibe reden, wenn sie kamen. Sich dann briefen lassen, was in der Nacht in der Hauptstadt passiert war, und die Morgenbesprechung vorbereiten. Den Tag. Was priorisiert werden musste.
Aber alles war anders. Er war anders. Und die anderen auch. Er spürte das, als er das Großraumbüro betrat. Die Geschehnisse hatten niemanden kaltgelassen.
Ella Sandland bemerkte ihn als Erste. Sie sah ihn mit offenem Mund an, als wäre er die letzte Person, die zu sehen sie erwartet hatte.
»Blix«, sagte sie überrascht.
Er trat einen Schritt auf sie zu.
»Weißt du, ob Petter Valk hier ist?«
»Petter?«, fragte sie. »Nein. Was …«
»Ich muss mit ihm reden.«
»Aber …«
Blix war bereits an ihr vorbei. Scannte die Umgebung. Sah Gesichter von Bildschirmen, Notizblöcken und Telefonen aufblicken. Hatte das Gefühl, dass alle Geräusche mit einem Mal aus dem Raum gesaugt wurden.
Er erblickte Tine Abelvik, die mit ernster Miene auf ihn zukam.
»Blix«, sagte sie. »Was machst du denn hier? Jetzt?«
Blix sah sich um. Alle schienen genau zu verfolgen, was vor sich ging. Ihm wurde heiß.
»Petter Valk«, sagte er. »Wo ist Petter? Er ist es, der …«
Er hielt inne. Sah, dass Abelvik die Augen zusammenkniff, als fragte sie sich, was er sagen wollte.
»Petter ist krankgeschrieben«, sagte sie. »Er ist schon seit einigen Tagen nicht mehr hier.«
»Krankgeschrieben«, sagte Blix sarkastisch. »Petter Valk ist PV. Vielleicht. Denk an Kovics Notizen. Ich muss mit ihm reden. Er ist der gemeinsame Nenner. Er hatte sowohl mit der Geiselnahme in Aker Brygge als auch mit dem Hammermord in Drammen zu tun. Und mit Thea Bodin.«
Blix trat einen Schritt zur Seite und blinzelte ein paarmal.
»Wovon redest du, Blix?«
Er wollte den Gedankengang noch einmal wiederholen, als ihm bewusst wurde, dass er der Einzige im Raum war, der Kovics Notizen und die beiden Akten kannte.
»Petter Valk hat an dem Fall Aksel Jens Brekke gearbeitet«, erklärte er und fasste sich an den Kopf. »Er ist der Schwager von Tore André Ulateig in Drammen.«
»Ulateig … Was hat das mit dem Fall zu tun?«
»Er … Ich … ich muss mit ihm sprechen.«
Die anderen verfolgten noch immer das Gespräch, offensichtlich ungläubig, als wäre es ein Schock für sie, dass er da war.
Es geschah nicht oft, dass Ermittler oder Beamte suspendiert wurden. In der Regel handelte es sich dabei aber nur um Formalitäten, sodass die Kollegen sich gegenseitig unterstützten, außer jemand hatte ganz offensichtlich gegen das Gesetz verstoßen.
Sie wissen es, dachte er.
Sie wissen von dem Patientenbericht.
»Denkt doch, was ihr wollt.«
Die Worte kamen laut.
»Ich habe sie niemals berührt«, fuhr Blix fort. »Kovic. Niemals. Nie … ich … wir …«
Blix sah den verwirrten Ausdruck in Abelviks Augen, die Blicke der anderen brannten auf seiner Haut.
Er drehte sich um und ging los. Abelvik rief hinter ihm her, aber Blix ging einfach weiter. Er spürte den Boden unter sich nicht mehr, und alles um ihn herum war unscharf.
Abelvik holte ihn ein und hielt ihn am Arm fest.
Blix blieb stehen.
»Es ist jemand von uns«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Jemand, mit dem Kovic gearbeitet hat, jemand, der über … Das war einer von uns … Ich weiß nicht, ob es Petter Valk war«, sagte er und richtete den Blick auf sie. »Oder du.«
Nicolai Wibe war zu ihnen getreten.
»Oder du. Oder jemand anderes hier …«
Er zeigte auf weitere Kollegen, auf die Gesichter, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.
»Alexander«, sagte Abelvik. »Wir alle verstehen, wie schwierig das gerade für dich ist.«
Wibe trat einen Schritt vor und legte Blix die Hand auf die Schulter.
»Komm«, sagte er freundlich. »Lass uns in den Besprechungsraum gehen und in Ruhe reden.«
Blix ließ sich führen. Nahm alles um sich herum ungefiltert wahr. Die grellen Geräusche. Der Kopierer am anderen Ende des Raums, das Telefon, das auf dem Tisch direkt neben ihm klingelte. Oder der Laut seiner Schritte. Das Licht unter der Decke war greller als sonst und stach ihm in die Augen. Er blinzelte, blieb stehen. Erblickte Gard Fosse am Ende des Raums. Der missbilligende Blick seines Chefs brachte das Fass zum Überlaufen.
»Hat jemand ihm Bescheid gesagt?«, fragte er. »Damit die Demütigung komplett ist?«
Blix lächelte höhnisch.
»Komm und nimm mich fest, Gard«, rief er durch den Raum. »Ich habe es getan. Ich habe Kovic getötet! Und anschließend habe ich versucht, Iselin zu töten, was mir dann ja auch gelungen ist.«
Speicheltropfen spritzten von Blix’ Lippen.
»Bitte«, sagte Wibe. »Komm mit uns. Komm einfach mit.«
Blix wollte etwas erwidern, aber Zunge und Lippen gehorchten nicht mehr. Tränen quollen aus seinen Augen, brannten auf den Wangen. Er schluchzte laut. Er fühlte sich, als würde er unter Wasser schwimmen. Abelvik und Wibe rechts und links neben ihm.
Es wurde dunkel.
Kalt.
Und er bekam keine Luft mehr.