Die Übelkeit kam total überraschend. Blix stürzte an zwei Kollegen vorbei auf den Flur und riss die Tür der Herrentoilette auf. Er schaffte es in eine Kabine und übergab sich in die Kloschüssel. Kaffee und Galle.
Er tastete mit der Hand hinter sich herum und schloss die Tür. Lange blieb er einfach auf dem Boden sitzen, die Arme um die Kloschüssel geschlungen. Die Krämpfe ließen ihn zittern. Er würgte erneut, brachte aber nichts mehr raus.
Jemand kam herein und benutzte die Kabine neben ihm. Blix wartete, bis der Betreffende fertig war. Dann rappelte er sich auf und ging zum Waschbecken. Den Blick in den Spiegel vermied er. Er ließ das Wasser laufen, bis es richtig kalt war, ehe er sich mit den Händen Wasser ins Gesicht spritzte. Anschließend trocknete er sich mit dem rauen Papier aus dem Behälter an der Wand ab und ging zurück.
Ella Sandland arbeitete mit den Videoaufnahmen in einer Ecke der offenen Bürolandschaft. Blix vertraute ihrer Kompetenz, die sie während eines Praktikums bei der Polizei in Manchester erarbeitet und schon mehrfach erfolgreich angewendet hatte. Jetzt zeichnete sich eine tiefe Falte auf ihrer Stirn ab. Sie sortierte die Aufnahmen, justierte die Kontraste und schärfte die Bilder, trotzdem schien sie das nicht weiterzubringen.
»Eine der Kameras muss doch ihre Gesichter eingefangen haben«, stöhnte Blix. »Versuch die nächste!«
Ella Sandland ging mit dem Cursor auf die nächste Datei und öffnete die Aufnahmen einer neuen Überwachungskamera.
Blix lief hin und her und warf unruhige Blicke auf den Bildschirm, an dem sie arbeitete. Sie spulte schnell bis 10.20 Uhr vor und ließ den Film in normalem Tempo laufen.
Vier Minuten später tauchte ein schwarzer BMW auf dem Bildschirm auf. Der Wagen hielt für einen Fußgänger, ehe er weiter in Richtung Parlament fuhr. Beim Gedanken, dass Iselin vielleicht in diesem Wagen gesessen hatte, ballte Blix die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß wurden.
»Verdammt!«, sagte er, als das Auto an der Kamera vorbei war. Sie war so hoch eingestellt, dass nur das Nummernschild, der Kühlergrill und die Motorhaube zu sehen waren.
Tine Abelvik kam mit ein paar Unterlagen in der Hand auf sie zu.
»Was gefunden?«, fragte sie.
Blix schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Der Wagenbesitzer wusste nicht einmal, dass der Wagen gestohlen worden war«, informierte Abelvik ihn und reichte Blix eine Notiz.
Ella Sandland drehte den Kopf vom Bildschirm weg.
»Das heißt, er wurde heute erst geklaut?«, fragte sie.
»Nicht sicher«, antwortete Abelvik. »Der Besitzer hatte ihn bei einem Händler in Helsfyr abgestellt und fuhr einen anderen Wagen zur Probe. Das Auto stand dort zwischen den Gebrauchtwagen. Die Schlüssel müssen im Laufe der Woche aus dem Verkaufsbüro geklaut worden sein. Wir sind dran, um da Klarheit zu bekommen.«
Neue Überwachungsbilder tauchten auf dem Bildschirm auf. Eine Kamera an der Außenseite des Parlamentsgebäudes hatte endlich die Windschutzscheibe aufgenommen, aber der Wagen war weit entfernt. Abelvik blieb stehen.
»Zoom ein bisschen ran«, sagte sie.
Sandland drückte auf Pause, ehe sie einen rechteckigen Ausschnitt vergrößerte. Das Programm erledigte den Rest. Dann schob sie das Rechteck noch genauer auf die leicht reflektierende Frontscheibe. Dahinter war ein Gesicht zu erkennen. Und eine schwarze Strickmütze.
Blix beugte sich vor.
»Verdammt, wer ist das?«, fragte er.
»Das ist auf jeden Fall ein Mann«, sagte Abelvik.
Sandland ließ den Film in langsamem Tempo weiterlaufen, aber es kam kein besseres Bild. Von den Personen auf der Rückbank war nichts zu sehen.
Dann verschwand der Wagen.
»Das ist das Beste, was wir haben«, sagte sie.
»Mach weiter!«, forderte Abelvik sie auf. »Es muss noch mehr Aufnahmen geben. Andere Kameras.«
Die Entführung wirkte geplant, dachte Blix. Als hätten die Täter von dem Termin beim Psychiater gewusst. Es musste einen Zusammenhang mit dem Mord an Kovic geben. Vielleicht wusste Iselin etwas, das den Täter direkt oder indirekt entlarven konnte.
Kovic hatte zu Iselin gesagt, dass sie mit ihm über etwas sprechen wolle, das sie gefunden hatte, dachte Blix. Weil sie sonst niemandem vertraute.
Blix trat ein paar Schritte zur Seite und blieb mit dem Rücken an der Wand stehen. Sein Blick schweifte über die Kollegen, mit denen er schon länger zusammenarbeitete, als er sich erinnern konnte. Er vertraute ihnen blind.
Das Telefon klingelte. Blix warf einen Blick auf das Display und zögerte einen Moment. Am Morgen hatte er eine lange SMS an Merete geschickt, Iselins Mutter, und ihr erzählt, was in Kovics Wohnung vorgefallen war. Die Details über Iselin hatte er zurückgehalten, aber versprochen, sie im Laufe des Tages zurückzurufen. Er war nur noch nicht dazu gekommen. Und jetzt wusste er wirklich nicht, wie er seiner Ex-Frau sagen sollte, was passiert war.
»Ich muss da rangehen«, sagte Blix zu den anderen und verschwand in einen angrenzenden Besprechungsraum.
Er wischte mit dem Daumen über das Display und setzte sich. Legte das Telefon ans Ohr.
»Hallo Merete«, sagte er mit trockener, zögerlicher Stimme.
»Hallo«, antwortete sie lebhaft.
Sie tauschten schon lange keine Höflichkeitsfloskeln mehr aus, wenn sie telefonierten. Aber nun erkundigte sich Blix, wie es ihr ging, um das Unausweichliche ein bisschen aufzuschieben.
»Wie geht es Iselin?«, konterte Merete.
»Sitzt du?«, fragte Blix.
»Nein, ich bin im Badezimmer. Ich gehe jetzt gleich schlafen. Was ist los?«
»Setz dich hin, Merete.«
Sie zögerte eine Sekunde.
»Was ist los? Ist was passiert?«
Blix’ Brust schnürte sich zusammen.
»Iselin ist verschwunden«, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme.
»Was? Wie meinst du das?«
Blix schluckte, musste sich sammeln, um etwas sagen zu können.
»Sie wurde entführt.«
Er kniff die Augen zusammen und spürte, wie sein Herz sich überschlug und ganz hoch in seinem Hals zu schlagen begann.
»Verdammt, was sagst du da?«
Blix versuchte ihr zu erklären, was passiert war. Die Worte fielen ihm nicht leicht, obwohl Merete ihn jetzt nicht mehr unterbrach. Als er fertig war, wurde es still. Lange. Einen Moment lang war er unsicher, ob Merete noch da war.
»Glaubst du … dass sie tot ist?«, presste sie schließlich hervor.
»Das ist unmöglich zu sagen, vorläufig gehen wir …«
»Warum …?«, begann Merete, unterbrach sich aber selbst. »Habt ihr Kontakt zu den Entführern?«, fragte sie stattdessen. »Haben sie Forderungen gestellt?«
»Nein.«
»Wisst ihr, wer das getan hat?«
»Noch nicht.«
»Dann …«
Sie rang mit den Worten.
»Ich verstehe das nicht«, fuhr sie fort. »Wie konnte das geschehen? Hat denn niemand auf sie aufgepasst? Hast du nicht auf sie aufgepasst?«
Blix schloss die Augen. Er wusste, dass sie ihm Vorwürfe machen würde. Und sie hatte dazu alles Recht der Welt. Er hätte anders mit der Situation umgehen müssen. Besser. Er hätte alle nur erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen.
Blix stotterte eine Antwort. Wappnete sich gegen die Tirade, die nicht kam.
»Ich komme nach Hause«, sagte sie stattdessen.
»Wann?«, fragte er. Eigentlich nur, um etwas zu sagen. »Wann kannst du hier sein?«
»Irgendwas zwischen fünfzehn und zwanzig Stunden, je nachdem welchen Flug ich kriege«, sagte sie. »Aber spielt das eine Rolle? Jetzt geht es einzig und allein darum, unsere Tochter zu finden und diese … Entführer zur Rechenschaft zu ziehen.«
Ihre Stimme hatte einen schrillen, aggressiven Tonfall angenommen.
»Nein«, sagte er leise.
»Finde sie!«, sagte Merete. Jetzt weinte sie. »Finde sie, verdammt nochmal!«
Blix schluckte und schlug die Hände vor das Gesicht.
»Ich werde sie finden«, sagte er. »Ich verspreche es.«