68

Blix trat näher an das Regal, in dem er Iselins Telefon versteckt hatte. Er wollte, dass Neumann ihm folgte, damit auch wirklich alles, was gesagt und getan wurde, auf der Aufnahme war.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte Neumann.

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe.«

Neumann hatte eine tiefe Falte auf der Stirn.

»Ja, aber … Sie wollen, dass ich meinen Oberkörper freimache?«

»Ja.«

»Warum das denn?«

Blix ließ ihn nicht aus den Augen.

»Sie wissen, warum.«

Der Psychiater blinzelte ihn an, ohne zu antworten.

»Wegen Iselin«, sagte Blix. »Sie hat mit dem Mann gekämpft, der Kovic erschossen hat. Sie hat ihm ein Brandmal verpasst.«

Neumann blieb stehen und musterte ihn.

»Und Sie glauben, dass ich das war?«

»Ich weiß, dass Sie das waren.«

Neumann schien nach den richtigen Worten zu suchen.

»Sie haben eine Brandwunde auf der Brust, und die will ich sehen.«

Neumann bewegte sich nicht.

»Ich … verstehe nicht …«

»Sie verstehen nicht, warum ich die sehen will?«

»Ich … verstehe nicht, worüber Sie reden.«

Blix hielt Neumann mit den Augen fest.

»Waren Sie nervös, als Iselin an jenem Morgen in Ihre Praxis kam?«, fragte Blix. »Haben Sie befürchtet, dass sie Sie erkennen könnte? An den Augen? Oder vielleicht an Ihrem Geruch?«

Neumann räusperte sich.

»Also, ich verstehe ja, dass das eine schwere Zeit für Sie ist«, sagte er. »Aber zu behaupten, dass …«

Er sah einen Moment weg.

»Zu behaupten, dass ich Ihre …«

Neumann schüttelte den Kopf.

»Das ist so abwegig, dass ich wirklich nicht weiß, was ich sagen soll.«

»Sie brauchen überhaupt nichts zu sagen«, sagte Blix. »Eine DNA-Probe von Ihnen wird uns alles geben, was wir brauchen. Sie wird mit der Probe aus Walter Wiiks Handschuh und von Iselins Lockenstab übereinstimmen. Da spielt es keine Rolle, ob Sie leugnen oder irgendwelche Ausreden erfinden. Ich weiß, dass Sie das waren«, wiederholte er. »Soll ich Ihnen verraten, wieso?«

Neumann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und blinzelte zweimal.

»Oder sind Sie Manns genug, um dem Vater von einem Ihrer Opfer alles zu gestehen?«

»Blix. Also …«

Er suchte nach Worten.

»Vergessen Sie’s«, sagte Blix. »Ich weiß ohnehin, wie das alles zusammenhängt. Eigentlich interessiert mich nur noch das warum

Blix trat einen Schritt von Neumann weg.

»Aber eine Idee habe ich da auch schon. Sie haben von dem Gefühl der Macht gesprochen. Sie haben mich gefragt, ob ich mich mächtig gefühlt habe, als ich Timo Polmar erschossen habe. Ich glaube, es geht genau darum. Um das Gefühl, über Leben und Tod zu entscheiden, so stark und klug zu sein, dass man andere kontrollieren und manipulieren und über ihren Tod entscheiden kann. Ob man das nun selbst tut oder durch andere erledigen lässt, spielt dann keine Rolle mehr. Es geht um den Rausch, den Sie dadurch spüren. Aber in zwei Fällen muss das schiefgelaufen sein.«

Er drehte sich wieder zu Neumann.

»Walter Wiik«, sagte Blix. »Was ist da eigentlich passiert? Wollte er sich nicht das Leben nehmen? Haben Ihre Worte bei ihm nicht funktioniert?«

Neumann schüttelte resigniert den Kopf.

»Hatten Sie Angst, dass er über Ihre Praktiken zu reden beginnen könnte?«, fuhr Blix fort. »Ihre Methoden? Dass er jemandem sagen könnte, dass Sie versucht haben, ihn so zu manipulieren, dass er sich das Leben nimmt? Und dass dann jemand die Selbstmordstatistik Ihrer Patienten unter die Lupe nimmt?«

Er machte einen Schritt auf den Psychiater zu.

»Ich glaube, dass Kovic genau daran gearbeitet hat, nur dass sie am anderen Ende angefangen hat. Sie hat herausgefunden, dass sowohl Tore André Ulateig als auch Jens Aksel Brekke Ihre Patienten waren – zwei Männer, die zu dem Schluss gekommen waren, etwas tun zu müssen. Ulateig wollte seine Frau erschlagen und Brekke Geiseln nehmen und sich so bedrohlich aufführen, dass das SEK keine andere Möglichkeit hatte, als ihn zu erschießen.«

Blix machte eine kurze Pause. Es tat gut, die Anklagen in Worte zu fassen. Sie laut auszusprechen.

»Timo Polmar haben Sie auf andere Weise manipuliert«, fuhr er fort. »Erst haben Sie ihn dazu gebracht, die Schäden an Ihrem Wagen zu reparieren, nachdem Sie Thea Bodin mit Ihrem dunkelblauen Mercedes angefahren hatten. Dann haben Sie ihn motiviert, seine Fantasien in die Tat umzusetzen und wirklich eine Frau zu entführen und zu töten. Das Problem war nur, dass so etwas in Wirklichkeit gar nicht in ihm steckte. Er schaffte es nicht, sie zu töten, weshalb er sie schließlich mit hierher genommen hat.«

Neumann schüttelte den Kopf, protestierte aber nicht.

»Kovic war Ihnen auf der Spur«, fuhr Blix fort. »Sie wusste, dass Sie eine Art Charles Manson sind, der andere Menschen dazu bringt, für ihn zu töten. Sie musste nur eine Möglichkeit finden, Ihnen das nachzuweisen. Deshalb ist sie bei Ihnen in Therapie gegangen. Sie wollte es erleben. Wollte sehen und hören, was Sie sagen, erfahren, wie Sie arbeiten. Ob Sie dem Lehrbuch folgen oder davon abweichen.«

Blix ging um Neumann herum.

»Es kann gut sein, dass Kovic im Präsidium belästigt worden ist. Es gibt dort genug Schweine und Dinosaurier, aber ich kannte Kovic. Ich weiß, wie stark sie war. Ein Klaps auf den Po oder eine unanständige Berührung hätte sie niemals aus der Bahn geworfen. Sie hätte den Mund aufgemacht. Dem Betreffenden eine Standpauke erteilt, aber damit wäre das für sie dann auch erledigt gewesen. Das haben Sie erfunden, um der Patientenakte einen glaubwürdigen Inhalt zu geben und die Ermittlungen von sich wegzulenken.«

Neumann hob abwehrend die Hände.

»Das brauche ich mir nicht anzuhören«, sagte er und trat ein paar Schritte zurück.

Blix folgte ihm, achtete aber darauf, ihn nicht aus dem Kamerawinkel zu treiben.

»Sie können ganz ruhig bleiben«, sagte er, schob die Jacke zur Seite, drehte die Taschen nach außen und zog den Pullover hoch, sodass Bauch und Brust zu sehen waren. »Ich trage keine Wanze an mir. Ich bin nicht im Dienst. Ich bin nur aus eigenem Antrieb hier. Weil ich Antworten will.«

»Sie behaupten, es gibt DNA-Spuren«, kam es von Neumann. »Dann kriegen Sie doch Ihre Antwort.«

Blix schüttelte den Kopf.

»Die Laborergebnisse deuten nur auf gewisse Antworten hin«, sagte er. »Ich will wissen, wie das alles abgelaufen ist. Wie es dazu kam.«

Neumann verdrehte die Augen, begann einen Satz, brachte ihn aber nicht zu Ende.

»Sie haben von mir gesprochen, von den Menschen, die durch mich zu Tode gekommen sind«, fuhr Blix fort. »Wie viele Leben haben Sie auf dem Gewissen? Es müssen viele sein, sonst hätten Sie sich nicht gezwungen gesehen, Walter Wiik zu töten. Zu tun, was er selbst nicht tun wollte.«

Er trat einen weiteren Schritt auf Neumann zu.

»Wann hat das angefangen?«, fragte er. »Wie lange machen Sie das schon?«

Neumann presste die Hände gegeneinander.

»Wann sind Sie einen Schritt weitergegangen?« Blix erhöhte den Druck. »War es besser, Angesicht zu Angesicht vor Ihren Opfern zu stehen? Ihnen in die Augen zu sehen? Wie in dem Moment, in dem Sie Kovic aus dem Weg geräumt haben? Hat Ihnen das einen Extrakick gegeben?«

Neumann zog einen Handschuh aus und knöpfte seinen Mantel auf. Er sah dabei zu Blix. Dann schob er die Hand hinein und zog eine Pistole heraus.

Im nächsten Augenblick schien ein Schleier aus Kälte vor den Augen des Psychiaters zu liegen. Sie blieben stehen und musterten sich einen Augenblick. Blix’ Blick senkte sich hin und wieder in Richtung der Waffe.

Er schluckte.

»Geben Sie mir Ihr Telefon«, sagte Neumann.

Blix zögerte.

»Kommen Sie schon«, fuhr Neumann fort. »Geben Sie mir Ihr Telefon.«

Blix steckte die Hand in die Jackentasche und nahm das Handy heraus.

»Entsperren Sie es und legen Sie es auf den Boden. Und dann schieben Sie es mit dem Fuß zu mir herüber.«

Blix tat, was er verlangt hatte. Neumann bückte sich und hob es auf, zielte dabei aber weiterhin mit der Waffe auf Blix. Dann warf er rasch einen Blick auf das Telefon.

Blix wusste, worauf Neumann aus war. Keine abgehenden Anrufe, keine aktive Aufnahme oder aktuelle SMS. Keine Alliierten. Niemand wusste, wo er war oder mit wem er zusammen war.

Neumann hob den Blick.

»Wissen Sie«, sagte er und lächelte. »Ich hatte schon so ein Gefühl, dass mit Ihrem plötzlichen Drang, sich das Leben zu nehmen, etwas nicht stimmte. Dass das ein Vorwand war.«

Er blickte kurz auf seine Waffe, um zu zeigen, dass er sich entsprechend vorbereitet hatte.

»Ich dachte mir schon, dass Sie nichts ungeklärt lassen wollten. Und das verstehe ich gut. Ihre Tochter …«

Neumann schüttelte den Kopf.

»Wenn Ihnen das ein Trost ist«, fuhr er fort. »Es war nie geplant, dass sie da reingezogen wird.«

»Das habe ich verstanden.«

»Ich hatte eigentlich vor, mit Kovic dasselbe zu machen wie mit Walter Wiik«, fuhr Neumann fort. »Es sollte so aussehen, als hätte sie das selbst gemacht, aber Ihre Tochter hat meinen Plan durchkreuzt. Deshalb brauchte ich Timo Polmar, um hinter mir aufzuräumen.«

»Ein ziemliches Risiko«, kommentierte Blix.

»Eine Notlösung«, sagte Neumann. »Aber Timo war verfügbar. Er hatte am folgenden Tag einen Termin bei mir und war einfach zu steuern. Man musste bei ihm nur auf die richtigen Knöpfe drücken. Wäre er gefasst worden, hätte niemand seiner Aussage geglaubt. Er war ein kranker Mann, der vor der Polizei schon zu oft gelogen und fantasiert hatte.«

Er machte eine kurze Pause.

»Außerdem hatte ich keine Alternative. Ich konnte es ja nicht ablehnen, Ihre Tochter zu empfangen. Im Übrigen war das die perfekte Möglichkeit, um herauszufinden, ob sie etwas wusste oder sich erinnerte. Als ich sie begrüßte, deutete nichts darauf hin, dass sie mich wiedererkannte, aber ich weiß genug über Traumata, um zu wissen, dass die Erinnerungen auch später noch zurückkommen können. Deshalb habe ich Timo seine Fantasien ausleben lassen.«

Blix spürte, wie sein Bauch sich zusammenzog.

»Er sollte sie erschießen und irgendwo ablegen, aber er hat die Sache vermasselt«, fuhr Neumann fort. »Ich hätte das ahnen können, schließlich wusste ich, dass er das eigentlich nicht in sich hatte, wenn es wirklich darauf ankam.«

Er sah nach oben zu der Winde.

»Aber er wusste, dass er sie töten musste, da sie sein Gesicht gesehen hatte. Deshalb hat er eine Alternative gefunden. Eine Art und Weise, bei der er Abstand halten konnte. Quasi ein ferngesteuerter Mord, sodass er direkt gar nicht involviert war. Mir war es egal, wie er das machte, und die Sache hätte ja funktioniert. Aber dann kamen Sie, und damit hat sich alles dramatisch geändert, auch wenn das Endergebnis dasselbe ist. Das Beste von allem ist allerdings, dass Sie mir die Aufräumarbeiten erspart haben, sodass ich mich gar nicht selbst um Timo kümmern musste. Weder Timo noch Ihre Tochter würden mich in Gefahr bringen können, da sie beide tot waren. Und in beiden Fällen war es Ihre Schuld.«

Draußen hatte der Regen an Stärke zugenommen. Er trommelte auf das Dach.

»Es versteht jeder, dass Sie das depressiv gemacht hat«, fuhr Neumann fort. »Dass Sie in einem tiefen Loch stecken. Auf der Kippe standen und sich schließlich für die falsche Seite entschieden haben.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Blix.

»Ihre Entscheidung«, antwortete Neumann und richtete die Waffe auf ihn. »Sie haben gesagt, dass Sie wie Ihre Tochter sterben wollen. Eine gute Idee, finde ich. Eine feine, fast poetische Art, Ihr Leben zu beenden. Ich bin bereit«, sagte er. »Wie ist das mit Ihnen?«