Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber Maridalen strahlte bereits in einer ganz eigenen Idylle. Meterdicker Morgennebel lag über den Feldern, aus den Schornsteinen der umliegenden Höfe stieg Rauch auf. Hin und wieder waren die Geräusche wilder Tiere zu hören, die in der fruchtbaren Gegend nach Nahrung suchten. Zu dieser Tageszeit konnte man leicht glauben, dass der Rest der Welt stillstand und man sich um nichts Sorgen machen musste.
Emma sog die kalte, klare Morgenluft tief in ihre Lunge. Ein rascher Blick auf ihre GPS-Uhr verriet ihr, dass sie vor dreiundzwanzig Minuten ihre Wohnung im Osloer Zentrum verlassen hatte, ihr Herz einhundertfünfundvierzig Schläge in der Minute leistete und sie im Augenblick eine Geschwindigkeit von 24,2 Stundenkilometern fuhr.
Den Tag auf diese Art zu beginnen war ihr zu einer festen Routine geworden, trotzdem war es eine Weile her, dass sie schon um sechs Uhr morgens im herbstlichen Dunkel ihr Training begonnen hatte. Ein Ergotherapeut, der ihr vor einer Weile ein kurzes Date abgerungen hatte, hatte ihr irgendwann zwischen dem dritten und vierten Glas Wein tief in die Augen gesehen und sie gefragt, vor was sie eigentlich davonradelte. Vor Hobbypsychologen und Cellulite, hatte Emma geantwortet. Dass er mit der Frage seine Chance vertan hatte, dass aus dem Abend mehr wurde, sagte sie ihm aber erst nach dem fünften Glas Wein. Sie hatte wirklich keinen Bock auf Psychogelaber und Kopfkissenweisheiten.
Sie konzentrierte sich ganz auf die Technik, achtete darauf, die Knie dicht am Rahmen des Fahrrads zu halten, damit die Muskeln so effektiv wie nur möglich arbeiten konnten. 28 Stundenkilometer und ein noch etwas höherer Puls, trotzdem hatte sie noch Reserven. In einer guten Stunde würde die Sonne alles um sie herum zum Glühen bringen, ein paar Minuten später als am Tag zuvor. Es würde langsam wärmer werden und die zauberhafte Mystik verlieren. Aber auch die Sonne über dem Maridalen war nicht zu verachten.
Emma fuhr an dem großen Parkplatz bei Brekke mit 26,4 Stundenkilometern vorbei. Im Winter fuhr sie manchmal mit dem Bus hierher und machte eine lange, erfrischende Skitour bis hinauf nach Kikut oder zur Kobberhaughütte. Es faszinierte sie, wie nah es vom Zentrum der Hauptstadt bis in eine Natur war, in der man sich tagelang bewegen konnte, ohne auch nur eine Menschenseele zu treffen.
Ihre heutige Tour brachte sie immer näher zu dem Punkt, an dem Thea Bodin angefahren und getötet worden war. Sie wurde langsamer, und als sie glaubte, am Unfallort zu sein, blieb sie ganz stehen. Sie nahm ihr Handy und suchte die Bilder heraus, die in Verbindung mit der Rekonstruktion veröffentlicht worden waren. Schließlich stand sie an exakt dem Ort, an dem Anwalt Klevstrand mit auf dem Rücken verschränkten Armen gestanden hatte.
Sie hatte inzwischen alles zu dem Fall gelesen, was darüber geschrieben worden war. Die wahrscheinlichste Erklärung war, dass es sich tatsächlich um einen unglücklichen Unfall handelte und der Täter aus Panik abgehauen war. Routinemäßig hatte die Polizei trotzdem das nähere Umfeld von Thea Bodin unter die Lupe genommen, um zu sehen, ob jemand ein Motiv hatte. Über die Freunde und Familie hinaus hatte die Polizei auch die Menschen befragt, die sich zur entsprechenden Zeit in der Nähe des Unfallorts aufgehalten hatten. Die Ermittler hatten ihre Autos überprüft und waren in Kontakt mit allen Werkstätten gewesen, damit alle neu eingelieferten Wagen mit Frontschäden gemeldet wurden.
Emma stand gebeugt über dem Lenker. Sie war sich immer sicherer, dass der Bodin-Fall der Ausgangspunkt dessen war, was Kovic herausgefunden hatte. Die Nabe, um die sich alles drehte. Irgendwo hatte sie eine Verbindung zu den Fällen von Aker Brygge und dem Hammermord in Drammen gefunden. Eine gefährliche Verbindung.
Das Einzige, was sie selbst hatte finden können, war Petter Valk. Aber noch fehlten ihr zahlreiche Puzzlesteinchen. Es gab noch einen vierten Fall. Laut Iselin hatte Kovic über einer Akte gebrütet, als Iselin in die Wohnung gekommen war. Deshalb hatte Emma das Gefühl, im Dunkeln zu tappen.
Sie hatte keine Ahnung, ob Abelvik und die anderen Ermittler in die gleiche Richtung dachten wie sie, aber es spielte auch keine Rolle, sie hatte die Pflicht, die beiden Akten, die noch in ihrem Besitz waren, zurückzugeben. Sie konnte sie kopieren und in Blix’ Briefkasten werfen, damit er sie zurückbrachte.
Andererseits handelte es sich bei allen Dokumenten um Ausdrucke aus dem großen Datenarchiv, sodass die Polizei faktisch über dieselben Informationen verfügte wie sie. Die Frage war nur, ob die Ermittler überhaupt wussten, dass Kovic sich diese Fälle aus dem Archiv geholt hatte.
Ein Auto mit Anhänger rauschte vorbei. Etwas entfernt lag ein Blumenbukett am Straßenrand. Sie stieg vom Fahrrad und machte ein Foto.
Es kann jeden Moment vorbei sein, dachte Emma.
Thea Bodin hatte einfach nur eine Fahrradtour gemacht. Vielleicht hatte sie das Auto nicht einmal gehört oder gesehen. Und bei Kovic: Es hatte geklingelt und in der nächsten Minute war ihr Leben vorbei gewesen.
Emma setzte sich wieder auf ihr Fahrrad und fuhr zurück in Richtung Zentrum. Trat gleichmäßig und rhythmisch, spürte die Kälte auf den Wangen. Der Puls begann zu steigen.
Kovic hatte einen Zusammenhang gesehen, dachte Emma. Eine Spur gefunden. Dazu musste doch auch sie in der Lage sein.