Um Viertel nach neun parkte Blix seinen Wagen vor einem SB-Lagerhaus im Keller. Zum ersten Mal seit Iselins Tod hatte er in dieser Nacht mehrere Stunden am Stück geschlafen und sogar eine Scheibe Brot und ein weich gekochtes Frühstücksei herunterbekommen. Dazu hatte er eine Pille geschluckt, die laut Werbung einen echten Energiekick versprach. Bis jetzt deckten sich Theorie und Praxis. Er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr, frischer.
Ein Mann in Blix’ Alter erwartete ihn vor dem Eingang zum Lager. Er trug eine dunkelblaue Mütze und eine dicke Winterjacke und sog intensiv an seiner Zigarette, als Blix aus dem Auto stieg.
»Gunnar Sundby?«, fragte Blix und ging auf den Mann zu.
Der Mann nickte und warf seine Zigarette weg, ohne sie auszutreten.
»Alexander Blix. Danke, dass Sie so spontan Zeit für mich haben.«
»Das sind furchtbare Dinge, die da passiert sind«, sagte Sundby. »Ich war total schockiert, als ich das im Fernsehen gesehen habe.«
Sie gaben sich die Hand. Blix hatte ihm nichts von seiner Rolle in der Jessheim-Geschichte gesagt und den ehemaligen Werkstattpächter in dem Glauben gelassen, es handele sich um eine Routineuntersuchung.
»Hier geht’s lang«, sagte Sundby mit einem kurzen Nicken.
Sie setzten sich in Bewegung.
»Darf ich erfahren, worum es geht?«, fragte Sundby. »Oder – eigentlich ist mir schon klar, dass es um Timo Polmar geht und das, was in meiner alten Werkstatt passiert ist. Aber wie ich schon am Telefon gesagt habe: Es ist eine Weile her, dass er für mich gearbeitet hat.«
Blix nickte.
»Er hat aufgehört, bevor ich die Werkstatt aufgegeben habe und da ausgezogen bin«, ergänzte der ehemalige Pächter. »Darum versteh ich nicht ganz, wozu Sie einen Einblick in meine Buchhaltung brauchen?«
Blix wollte nicht das Wort Bauchgefühl anwenden.
»Es gibt da eine Sache, die nochmal überprüft werden müsste«, sagte er.
Sundby sah immer noch skeptisch aus.
»Warum haben Sie die Werkstatt aufgegeben?«, fragte Blix, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
Sundby seufzte.
»Die üblichen Gründe, würde ich sagen. Es war schlicht und ergreifend nicht lukrativ. Darum hab ich, als der Pachtvertrag auslief, meine Siebensachen gepackt und gehofft, schnell was anderes zu finden.«
»Wie lange ist es her, dass Sie da raus sind?«
»Zweieinhalb Monate.«
»Und wie lange hat Timo Polmar bei Ihnen gearbeitet?«
»Das habe ich den anderen Ermittlern doch schon alles gesagt«, antwortete Sundby leicht genervt. »Sieben oder acht Monate, glaube ich. Gekündigt hab ich ihm, wie gesagt, telefonisch. Er hat die Schlüssel nie zurückgegeben. Der Eigentümer hätte vielleicht das Schloss wechseln sollen, hatte aber wohl keine Eile, er hat ja noch keinen neuen Pächter.«
»Wann hat Polmar aufgehört?«
Sundby zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und inspizierte ihn, ehe er antwortete.
»Irgendwann letztes Jahr im Frühling.«
Sundby schloss die Tür auf, vor der sie standen, und sie betraten die leerstehende Lagerhalle.
»Es ist super hier«, erklärte Sundby. »Man kann kommen und gehen, wie es einem passt. Alle Räume haben Stahlwände und abschließbare Türen, und man kann nicht sehen, was darin gelagert wird.«
Er warf Blix einen raschen Blick zu, als ginge ihm plötzlich auf, dass sich das nach zwielichtigen Geschäften anhörte.
»Wie war er?«, fragte Blix stattdessen.
»Wer?«
»Timo Polmar.«
»Als Mensch oder als Autoschrauber?«
»Sowohl als auch.«
Sundbys Schlüssel klirrten, als sie durch das Gebäude gingen.
»Na ja, er war schon ein ziemlicher Kauz, der Timo, das kann ich nicht anders sagen. Man wurde nicht recht schlau aus ihm. Aber ich hätte niemals gedacht, dass er zu so was fähig wäre. Ein Mädchen entführen und so was …«
»Inwiefern kauzig?«
»Das ist nicht so einfach zu erklären. Er war ja ausgebildeter Karosseriemechaniker und hatte dafür echt ein Händchen, aber irgendwie hatte er keine richtige Verbindung zu sich selbst oder zur Wirklichkeit, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er hat über ganz merkwürdige Dinge gelacht zum Beispiel, und das waren keine Sachen, die auch andere komisch finden. Ich hatte immer das Gefühl, dass bei dem mehr als nur ein paar Schrauben locker sind.«
»Und trotzdem haben Sie ihn eingestellt?«
»Ja, ich bin grundsätzlich dafür, allen Menschen eine Chance zu geben«, sagte Sundby. »Und er sah aus, als könne er so eine Chance gut brauchen, als er zum Vorstellungsgespräch kam. Außerdem war er zuverlässig, das muss man ihm lassen. War sich für keine Arbeit zu schade.«
»Und warum hat er dann nur sieben oder acht Monate bei Ihnen gearbeitet?«
Sundby blieb vor einer mit 032 bezifferten Tür stehen. Schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.
»Wie schon gesagt, es war nicht ganz einfach, den Laden am Laufen zu halten.«
Er zog die Tür auf. In dem engen Lagerraum stand Regal an Regal mit Kästen und Aktenordnern, Kisten mit Spraydosen und Bürozubehör, Glühbirnenschachteln und Bücher. In einer der Kisten entdeckte Blix einen Kerzenständer und zwei Fernbedienungen.
»Ich kann nichts wegwerfen«, entschuldigte Sundby sich. »Aber Sie sind hauptsächlich an den Rechnungen interessiert, nicht wahr?«
»Ja, speziell vom Mai letzten Jahres.«
Sundby drehte sich zu Blix um, jetzt mit etwas wachsamerem Blick.
»Geht es um das Mädchen, das oben in Maridalen totgefahren wurde?«, fragte er. »Glauben Sie, dass Timo was damit zu schaffen hatte?«
Blix suchte nach einer Antwort.
»Das habt ihr doch alles schon überprüft«, redete Sundby weiter. »Meine Frau kümmert sich um den Papierkram. Sie hat alle Unterlagen der Aufträge zusammengesucht, die in den Monaten danach reingekommen sind, vor allen Dingen Blechschäden. Damals war extra jemand von der Polizei abgestellt worden, um das alles durchzugehen. Ich geh mal davon aus, dass ihr alle Werkstätten im Umkreis überprüft habt.«
»Wissen Sie, mit wem Ihre Frau gesprochen hat?«, fragte Blix. »Wie der Ermittler hieß?«
Sundby schüttelte den Kopf.
»Ich war nicht dabei, aber sie meinte, er hätte ausgesehen wie Columbo, falls Sie sich an den noch erinnern. Fehlte nur der Mantel.«
Blix’ Puls schnellte in die Höhe.
»Petter Valk?«, fragte er. »Könnte er so geheißen haben?«
Sundby schob ein paar Kisten und Ordner hin und her.
»Wie gesagt, ich weiß es nicht«, sagte er, zog ein paar Kartons heraus und stapelte sie an einer anderen Stelle.
Blix’ Handy vibrierte in seiner Tasche. Er nahm es heraus, es war Emma. Schon wieder. Er steckte es ein.
»Hier«, sagte Sundby zufrieden, richtete sich auf und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. »Das sind alle Unterlagen vom Mai letzten Jahres.«
Er überreichte Blix den Ordner.
»Danke.«
Blix klappte ihn auf. Die Unterlagen waren chronologisch abgeheftet. Er blätterte rasch zum Tag nach dem tödlichen Unfall und danach langsam weiter. In den folgenden Tagen und im Laufe des gesamten Mais gab es keine Rechnungen zu irgendeinem dunkel lackierten Fahrzeug einer bestimmten Größenordnung.
Blix wandte sich an Sundby.
»Wissen Sie, ob der Ermittler damals irgendetwas von hier mitgenommen hat?«
Sundby schüttelte den Kopf.
»Davon hätte sie mir was gesagt«, sagte Sundby und zog das Handy aus der Tasche. »Ich hab hinterher mit den Jungs aus der Werkstatt gesprochen. Keiner von denen konnte sich an einen Blechschaden erinnern, der nach einem Zusammenstoß aussah. Wir kennen uns ganz gut aus mit den unterschiedlichen Schäden.«
Blix schaute mit einem Nicken auf das Handy.
»Könnten Sie trotzdem nachfragen?«, fragte er.
Er ging davon aus, dass der Täter, wenn er den Wagen in die Werkstatt gebracht hatte, den Schaden vermutlich irgendwie kaschiert hatte, indem er zum Beispiel gegen etwas anderes gefahren war.
Blix blätterte noch einmal den Ordner durch, während Sundby telefonierte. Die Antwort hörte sich negativ an.
»Fragen Sie sie, ob der Ermittler etwas mitgenommen haben könnte«, bat Blix.
Sundby leitete die Frage weiter und beendete das Gespräch.
»Er war mit den Unterlagen allein«, erklärte Sundby. »Aber das hätte er doch sagen müssen, wenn er was mitnimmt. Können Sie da mal nachhaken?«
Blix nickte, klappte den Ordner zu und gab ihn zurück.
»Sind da alle Aufträge abgeheftet?«, fragte er.
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Ihre Angestellten private Aufträge angenommen?«, präzisierte Blix. »Freundschaftsdienste, so was in der Art. Durften sie die Werkstatt dazu nutzen?«
»Keine bezahlten Aufträge«, verneinte Sundby energisch. »Nur für eigene Autos.«
»Was ist mit Timo Polmar?«, fragte Blix.
Sundby zögerte. Blix sah ihn an.
»Also, es ist mir egal, ob in Ihrer Werkstatt hin und wieder gegen das Gesetz verstoßen wurde. Das kommt immer wieder vor. Ich suche nach einem möglichen Mörder. Wenn Sie mir ehrlich antworten, garantiere ich Ihnen, dass das keine Konsequenzen für Sie hat. Wurde hier Schwarzarbeit betrieben?«
Sundby antwortete nicht, aber Blix sah ihm an, wie sein Hirn arbeitete.
»Wo Sie es erwähnen …«
Er wandte den Blick ab.
»Timo hat immer mal wieder einen Auftrag schwarz erledigt. Hauptsächlich darum … hab ich ihn rausgeschmissen.«
Sundby verschränkte die Arme.
»Ich hatte ihn ein paarmal dabei erwischt und ihm klipp und klar Bescheid gegeben, dass er das lassen soll. Und an einem Samstag, als ich nochmal zurückgekommen bin, weil ich was im Büro vergessen hatte, war Timo dort mit einem SUV zugange. Ein Mercedes, wenn ich mich richtig erinnere. Der Job lief jedenfalls nicht über die Firma. Er meinte, das sei der Wagen eines Freundes, aber das war nicht das erste Mal.«
»Was für Schäden hatte der Wagen?«
»Hauptsächlich Kleinkram kosmetischer Art. Beulen und Kratzer an einem vorderen Kotflügel. Er wäre an einer Mauer langgeschrammt, meinte Timo. Ich hab gesagt, dass ich das Auto am Montag nicht mehr sehen will, und nehme an, dass er es im Laufe des Wochenendes fertig gemacht hat. Ich hab immer sauber gearbeitet. Nulltoleranz für Schlamperei und faule Deals. Das möchte ich auf alle Fälle gesagt haben.«
»Ich glaube Ihnen«, sagte Blix. »Wann ungefähr war das?«
»Daran erinnere ich mich nicht mehr genau«, sagte Sundby. »Aber das war einer seiner letzten Jobs, den er bei mir gemacht hat. Er hat nicht mal mehr bis zum Ende seiner Kündigungsfrist durchgehalten, vermutlich war das Mitte Mai im letzten Jahr.«
Blix sah Sundby an. Thea Bodin war am 4. Mai angefahren und getötet worden.
»Und es war ein SUV, sagten Sie?«
»Ich glaube, ein GLE 350. Standardmodell, aber nicht das neueste.«
»Farbe?«
»Nachtblau, fast schwarz.«
»Erinnern Sie sich an das Kennzeichen?«, fragte Blix eifrig. »Irgendwelche Ziffern oder Zahlen?«
Sundby schüttelte den Kopf.
»Hat er den Namen des Besitzers genannt?«
»Nein.«
»Haben Sie einen Blick in das Auto geworfen?«, fragte Blix weiter. »Lag dort irgendetwas?«
Der Werkstattpächter schüttelte den Kopf.
»Der Wagen kann aber nichts mit dem angefahrenen Mädchen zu tun haben, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen«, sagte er. »Das waren andere Schäden. Der Besitzer hatte eine Mauer geschrammt. Es waren noch Mörtelreste am Lack.«
Blix sagte nichts. Das Ziehen in der Bauchgegend sagte ihm, dass er eine Spur hatte. Er war überzeugt davon, dass der dunkle SUV das gesuchte Auto im Fall Bodin war. Gelang es ihm, den Besitzer ausfindig zu machen, fand er vielleicht auch Kovics Mörder. Er musste irgendwo in Timo Polmars Umfeld zu suchen sein.