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»Deine Tochter ist also am Samstagvormittag um 10.20 Uhr verschwunden? Ist das richtig?«

Bjarne Brogeland nahm den Blick von seinen Notizen. Blix nickte, bevor ihm bewusst wurde, dass er die Antwort verbal geben musste.

»Mitten am helllichten Tage«, fügte Brogeland hinzu, als erachtete er das als ein unwahrscheinliches Szenario. Blix hatte auch schon überlegt, ob Iselin vielleicht aus freien Stücken verschwunden war, hatte den Gedanken aber gleich wieder als absurd verworfen.

»Ich habe natürlich nach ihr gesucht«, sagte er.

»Du warst im Dienst, als du davon erfahren hast?«, fragte Brogeland. »Warum hast du das nicht umgehend gemeldet? Und einen oder mehrere Kollegen mitgenommen?«

»Ich wollte mir erst selbst einen Überblick über die Situation verschaffen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich dachte, dass es eine vernünftige Erklärung geben muss. Ich wollte mich vergewissern, dass sie wirklich weg war. Und dass Emma alles versucht und an alles gedacht hatte.«

»Du hast deine Befugnis als Polizist genutzt, um Iselins Handy zu orten?«

Blix nickte.

»Es handelte sich um eine Notsituation.«

»Das wurde zuvor aber von niemandem abgesegnet?«

»Ich war verzweifelt, hatte das Gefühl, dass jede Sekunde zählt. Aber viel geholfen hat das ja nicht. Der letzte bekannte Ort war das Zentrum von Oslo. Torggata. Eine SMS an Emma Ramm. Danach war das Telefon tot.«

Brogeland trank einen Schluck Wasser.

»Du standest also mehr oder minder ohne jeden Anhaltspunkt da. Iselin war weg, und du hattest keine konkreten Spuren. Was hast du dann gemacht?«

Blix legte auf und wandte sich an Emma. Sie standen mitten auf der Torggata. Auf beiden Seiten eilten die Menschen vorbei.

»Ihr Telefon ist seit siebenunddreißig Minuten nicht mehr im Netz. Es ist ausgeschaltet.«

Er sah, wie Emma die Tränen kamen.

»Das ist meine Schuld«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich hätte sie niemals allein lassen dürfen. Ich hätte im Warteraum bleiben sollen. Dann wäre das alles nicht passiert.«

Auf dem Weg ins Zentrum hatte Blix dasselbe gedacht.

»Es wurde erwogen, sie unter Polizeischutz zu stellen«, sagte er und wandte den Blick ab. »Aber Gard Fosse hat das abgelehnt.«

Aber ich hätte nicht auf dich vertrauen sollen, dachte er im Stillen und sah zu Emma. Andererseits konnte er diese Anklage ebenso gut gegen sich selbst richten. Er hätte nicht zur Arbeit gehen sollen. Hätte sie nicht aus den Augen lassen dürfen.

Blix nahm sein Telefon, wählte Eivind Neumanns Nummer und begann, in Richtung der Praxis des Psychiaters zu gehen. Als Neumann sich meldete, erklärte er ihm kurz die Situation.

»Ihre Freundin war wirklich sehr besorgt«, sagte Neumann. »Ich hoffe, es ist nichts …«

»Sind Sie noch in der Praxis?«, unterbrach Blix ihn.

»Ja, ich hatte noch ein paar Dinge zu erledigen …«

»Wir kommen hoch.«

Wenige Minuten später standen Blix und Emma in Neumanns Praxis.

»Erzählen Sie«, sagte Blix. »Was ist passiert?«

Neumann stand mit fragendem Gesichtsausdruck auf.

»Iselin war hier bei Ihnen … Wie lange?«

»Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, als sie ging«, begann er und ging um seinen Schreibtisch herum. »Ich hatte das erste Gespräch auf neunzig Minuten angesetzt, aber wir haben nicht viel länger als fünfundvierzig Minuten miteinander gesprochen. Vielleicht eine Stunde. Sie hat gut reagiert, aber ich habe gesehen, wie müde sie war. Es war ihr Wunsch aufzuhören, obwohl wir noch reichlich Zeit hatten. Wir haben für Montag einen neuen Termin vereinbart. Und dann habe ich sie nach draußen begleitet.«

Er wandte sich an Emma.

»Sie war überrascht, dass das Wartezimmer leer war. Ich hatte den Eindruck, dass sie das beunruhigte, aber sie hatte offensichtlich das Bedürfnis, mir Stärke zu zeigen. Dass sie die Fürsorge und den Schutz der anderen nicht brauchte. Sie wollte mir beweisen, dass sie auch allein klarkommt.«

»Hat sie Ihnen das so gesagt?«

»Nicht direkt, nur dass sie nach unten gehen und dort warten wollte.«

Blix sah wieder zu Emma:

»Wo warst du?«

»In einem Café gleich um die Ecke. Iselin hat mir eine SMS geschickt, als sie fertig war, aber als ich hierherkam, war sie weg.«

Er sah sie lange an. Spürte eine Verzweiflung, die größer war als alles, was er jemals erlebt hatte. Er tastete nach einem freien Stuhl, setzte sich und rief Tine Abelvik an.

»Wir haben eine neue Situation«, begann er und gab sich alle Mühe, weiterhin beherrscht zu klingen. »Iselin ist verschwunden.«

»Wie meinst du das?«

Blix konnte seine Stimme nicht mehr kontrollieren, als er ihr erklärte, was passiert war.

»Ich schicke dir alle freien Streifenwagen«, sagte Abelvik.

Blix nickte. Wusste, dass sie bereits wertvolle Zeit verschwendet hatten.

»Ihr Telefon ist nicht mehr im Netz«, informierte er sie. »Aber vielleicht ist etwas auf den umliegenden Überwachungskameras zu sehen.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Abelvik. »Ich schicke Leute, um die Aufnahmen einzusammeln und zu sichten. Bleib du, wo du bist.«