»Wieso habe ich das Gefühl, dass Sie und Blix Ihre Aussagen aufeinander abgestimmt haben?«
Emma schaute auf und begegnete Hege Valles forschendem Blick.
»Zu so etwas war überhaupt keine Zeit. Außerdem …«
»Meinen Sie, dass Sie das aber eigentlich hätten tun sollen?«
»Nein, das meine ich nicht. Verdrehen Sie mir nicht die Worte im Mund. Ich habe nach dem Ganzen noch nicht wieder mit Blix gesprochen. Er ist direkt ins Krankenhaus gefahren, nehme ich mal an. Zu Iselin.«
Valle nickte bedächtig, als würde sie Emma das Gesagte nicht ganz abkaufen. Emma wiederum dachte an Blix’ Blick, mit dem er sie angesehen hatte, als der Krankenwagen abgefahren war. Sie war auf ihn zugegangen, aber er hatte sich zurückgezogen.
»Was denken Sie darüber, dass Blix dem Mann viermal in den Rücken geschossen hat?«
Emma blinzelte und breitete die Arme aus.
»Meine Güte, was soll ich darüber denken? Er wird getan haben, was er für notwendig hielt.«
»Objektiv betrachtet sieht das wie ein Racheakt aus.«
Emma besann sich kurz.
»Er … hat das getan, um mich zu retten.«
»Hat er das?«
»Ja, er … Polmar kam auf mich zu. Und er war bewaffnet.«
»Hatte er die Waffe auf Sie gerichtet?«
»Ja«, sagte sie und schluckte.
»Und da sind Sie sich ganz sicher?«
Emma hielt inne. Sie hatte die Waffe erst gesehen, als sie Polmar aus der Hand gerutscht war.
»Ja«, antwortete sie und nickte. Ihre Stimme zitterte. Sie schaute zur Videokamera und wunderte sich, wie warm es plötzlich in dem Raum war.
»Möchten Sie uns noch etwas erzählen?«, fragte Valle, während sie in ihrem Notizblock vor- und zurückblätterte.
Emma seufzte. Sie hatte sich entschieden, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, als sie abgeholt worden war. Was passiert war, war zu umfassend und groß, um nicht vorbehaltlos zur Aufklärung beizutragen. Inzwischen bereute sie es, keinen Anwalt hinzugezogen zu haben. Die Fragen wurden immer kritischer, und es fiel ihr zunehmend schwerer, in Worte zu fassen, was in der akuten Situation absolut vernünftig gewirkt hatte. Jetzt, aus der Distanz betrachtet, hätte man manches sicher auch anders machen können.
»Keine Informationen, die Sie zurückhalten oder verschweigen?«, wollte Valle wissen.
Emma richtete sich auf und schüttelte den Kopf.
»Nein«, antwortete sie.
Was nicht der Wahrheit entsprach. Sie hatte nicht erzählt, dass sie die Fallmappen an sich genommen hatte.
Blaue Lichtblitze färbten die Umgebung. Rauschende Funkverbindungen. Es kamen immer mehr bewaffnete Polizisten dazu. Tine Abelvik ging zu Emma und bat sie, ihr zu erzählen, was geschehen war.
Die Worte verknoteten sich in ihrem Mund. Sie sammelte sich und bekam wenigstens das Wichtigste heraus, sodass Abelvik sich ein grobes Bild machen konnte.
»Sicher«, schepperte eine metallische Stimme aus dem Funkgerät.
Abelvik sah ihr in die Augen.
»Sie warten hier!«, befahl sie, ehe sie sich umdrehte und zu Blix hineinging.
Auf der Autobahn waren weitere Sirenen zu hören, deren Klang sich miteinander vermischte.
»Warten Sie!«, rief Emma Abelvik hinterher. »Das Auto.«
Abelvik drehte sich um.
»Was meinen Sie?«
Wieder verhakten sich die Worte.
»Blix’ Auto«, bekam sie schließlich heraus. »Da sitzt ein Mann auf der Rückbank. Einer der Entführer. Drivnes.«
Abelvik rief zwei der Männer zurück, die auf dem Weg ins Gebäude waren.
»Wo steht das Auto?«, fragte sie.
Emma sah sich um, konnte sich aber nicht orientieren.
Ein Krankenwagen fuhr auf den Platz.
Einer der Beamten, die Abelvik zurückbeordert hatte, legte seine Hand auf Emmas Oberarm.
»Bringen Sie uns hin!«, sagte er.
Emma ging mit ihnen und sah bei einem Blick über die Schulter zwei Sanitäter in die Werkstatthalle laufen. Ein dritter schob die Trage hinterher.
Sie nahm Blix’ Autoschlüssel aus der Tasche und drückte die Fernbedienung, als sie den Wagen sah. Die Lichter blinkten auf, und die Schlösser gaben einen leisen Piepton von sich.
Drivnes’ Silhouette war auf der Rückbank zu erkennen. Einer der Polizisten zog seine Waffe und eine Taschenlampe aus dem Ausrüstungsgürtel. Drivnes zuckte zusammen und rief etwas, als der Lichtkegel sein Gesicht streifte. Sein Blick flackerte.
Der andere Polizist ging zum Auto, stellte sich vor die Tür und zog sie auf ein Signal seines Kollegen hin auf.
Odd-Arne Drivnes war kreidebleich, Schweiß lief ihm über das Gesicht.
Emma hielt sich im Hintergrund. Adrenalin pumpte unablässig durch ihren Körper. Sie zitterte. Versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, ihre eigene Rolle in dem Szenario zu benennen, weiterzudenken.
Die Polizisten befreiten Drivnes, forderten ihn auf, sich auf den Boden zu legen, und riefen einen Krankenwagen. Emma ging zum Wagen, öffnete die Seitentür und nahm ihren Rucksack heraus.
Die Mappen der beiden Fälle, mit denen Kovic gearbeitet hatte, waren im Fußraum gelandet, die meisten Blätter herausgerutscht. Sie schob sie rasch zusammen und stopfte sie in den Rucksack, schloss die Tür und hängte sich den Rucksack über die Schulter.
Drivnes schrie vor Schmerz, als einer der Polizisten ihm den Schuh auszog, um sich die Schussverletzung anzusehen. Der Krankenwagen kam mit hohem Tempo auf sie zugefahren. Emma zog sich unauffällig zurück, drehte sich um und lief zurück zum Werkstattgebäude.
Iselin wurde gerade auf der Trage herausgeschoben. Die Notfallsanitäter rannten mit ihr zum Krankenwagen. Einer von ihnen hielt, neben ihr herlaufend, die Atemmaske.
Gleich darauf kam Blix. Er riss sich von Abelvik los und folgte seiner Tochter.
Die Trage wurde in den Krankenwagen geschoben. Blix stieg durch die Seitentür ein. Emma lief zu ihm.
»Blix!«, rief sie.
Er drehte sich um. Sein Blick versetzte ihr einen Stich. Dann beugte er sich vor und zog die Tür zu.