Joakim musste wütend feststellen, dass sie übertrumpft worden waren. »Handelshochschulprofessor unter Mordverdacht« war sowohl auf der Titelseite von VG als auch auf der von Dagbladet zu lesen. Verdammt, verdammt, verdammt!, brüllte er innerlich, während er zu einem Zeitungskiosk in der Akersgate lief. An diesem Morgen brachte Ressortleiter Fredrik Telle ihm einen Kaffee.
»Wir können nicht jedes Mal ins Schwarze treffen. Beruhige dich erst mal. Dann geht es auf in die nächste Runde. Du darfst nicht vergessen, dass wir durch die vielen Krankmeldungen total unterbesetzt sind, während die Boulevardzeitungen zehn Leute auf den Fall angesetzt haben«, sagte er.
»Das ist den Lesern doch egal.«
»Es ist aber nicht schlecht, dass wir den Exfreund ins Spiel gebracht haben«, versuchte es Telle erneut.
»Na ja, aber wenn die Konkurrenz den Knüller hat und ich davon nichts mitbekommen habe, dann schon.«
Joakim hatte Schwierigkeiten, sich zu motivieren. Mit gebeugtem Kopf saß er schweigend in der Morgenkonferenz der Nachrichtenredaktion, während seine Kollegen die heutigen Themen diskutierten. Ein dramatischer Anstieg an Gehirnschlägen und das Gerücht, dass die Kronprinzessin Krebs hatte, waren die Wichtigsten. Vorläufig.
»Ich werde herausfinden, was der Professor mit dem Mord zu tun hat«, sagte Joakim, als er an der Reihe war. Er hatte versagt. Ein Journalist war nie besser als sein letzter Coup.
VG hatte berichtet, dass ein paar Zeugen Helle Isaksen und den Professor zweimal zusammen gesehen hatten. Allein. Im Hörsaal. Abends. Der Professor hatte kein Alibi für die Tatzeit. Er hatte sich bereits einen Anwalt genommen, Martin Tollefsen, einen der besten Verteidiger des Landes.
Der Tag zog sich endlos lang hin. Der Ressortleiter hätte gerne noch jemanden für die Berichterstattung über den Mordfall abgestellt, hatte aber keinen freien Nachrichtenreporter. »Verdammte Kleinkindeltern«, murmelte Fredrik Telle. Inzwischen waren fünf Journalisten der Nachrichtenabteilung zu Hause, weil ihre Kinder krank waren, und vier weitere hatten sich selbst den Virus eingefangen. Telle machte keine Zusagen, als er zur Ressortleiterbesprechung ging, doch als er zurückkam, brachte er Agnes Lea mit.
»Ich musste mich mit Sverre um sie streiten«, erklärte er.
Telle schien mit seinem Fang zufrieden zu sein, aber eine vollwertige Partnerin bei der Berichterstattung über den Mordfall war sie für Joakim definitiv nicht.
»Ich kümmere mich um Helle Isaksens Familie und Freunde und halte mich von Polizei und Rechtsanwälten fern«, sagte Agnes Lea, bevor sie sich an den Schreibtisch setzte, der Joakims genau gegenüberstand.
Beide verbrachten den gesamten Vormittag am Telefon. Joakim rief all seine Quellen und Gott und die Welt an. Er fand schnell heraus, wer der unter Verdacht stehende Professor war. Kato Zetterstrøm, Professor für Volkswirtschaftslehre, siebenundfünfzig Jahre, verheiratet, zwei Töchter von achtzehn und zwanzig Jahren. Seinen Doktor hatte er an der Universität Bergen gemacht. Nach ein paar Jahren bei der Norges Bank war er als erster Dozent für Makroökonomie ans Institut für Volkswirtschaft der Handelshochschule berufen worden. Er wohnte in einem Einfamilienhaus in Bærum und besaß ein Ferienhaus in Trysil.
Bei seiner Kontaktaufnahme kam Joakim nicht über das Nennen seines eigenen Namens hinaus, bevor die Frau des Professors den Hörer auflegte. Zetterstrøm selbst wurde gerade vernommen. Joakim versuchte es bei den Kollegen des Professors, bei alten Studienkollegen und Freunden. Einige legten auf. Andere wollten darüber reden, wie schockiert sie waren. Zetterstrøm wurde von ihnen als fachliche Autorität und als zuverlässiger Familienvater beschrieben.
Hin und wieder bekam Joakim Fetzen der Unterhaltungen mit, die Agnes führte. Sie arbeitete gut, aber es war ein harter Job. Er hörte sie mit der Tante des Mordopfers und mit einem Pfarrer reden, mit Helle Isaksens früheren Klassenkameraden, Lehrern und Handballtrainern. Agnes ging einfühlsam vor, und überraschend oft gelang es ihr zu vermeiden, dass ihre Gesprächspartner einfach den Hörer aufknallten. Aber sie war unzufrieden.
»Das ist doch nichts als ein Kratzen an der Oberfläche«, murrte sie.
»Wie meinst du das?«
»Sie stehen ihr nicht nahe genug und haben sie nur so gekannt, wie sie vor ein paar Jahren war. Die Frage ist, wie sie heute war. Ich rufe die Eltern an«, sagte sie.
Joakim seufzte. Die Zeitung nahm so bald nach einem Mord nie persönlich Kontakt zu den direkten Angehörigen auf, nur über Mittelsmänner. Und er hatte nicht vor, die ethischen Richtlinien zu missachten, zumindest nicht jetzt, wo er beim Chefredakteur in Ungnade gefallen war.
»Gibt es niemanden, der den Kontakt für dich herstellen kann?«, fragte er.
»Nein, sie sagen, dass es zu früh ist. Deshalb will ich die Eltern selbst anrufen.«
»Wir sollten zumindest bis nach dem Begräbnis warten«, sagte Joakim.
»Es kann doch sein, dass sie etwas dazu sagen möchten, dass einer der Professoren der Hochschule unter Verdacht steht, ihre Tochter umgebracht zu haben«, meinte Agnes.
Joakim schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
»Na gut, dann fahre ich zur Handelshochschule, um eine ihrer Freundinnen aufzutreiben.«
Agnes stand auf und schaufelte das Gerümpel, das sie auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte, in ihre Tasche. Eine Tafel Schokolade, eine Dose mit Lutschpastillen, ein Päckchen Zigaretten und einen großen Schreibblock. Dann verschwand sie in Richtung Bildredaktion.
Joakim fühlte sich mit jeder Stunde, die verging, gestresster. Kein Köder, den er ausgelegt hatte, erbrachte ein Resultat. Am frühen Nachmittag fuhr er in die Kanzlei von Rechtsanwalt Martin Tollefsen. Sie hatten sich immer gut verstanden. Er war liberal und gleichzeitig radikal, eine Kombination, die Joakim gefiel.
Sein Büro dagegen strahlte etwas ganz anderes aus. Ein riesiger Eichenschreibtisch dominierte den Raum. Die Beleuchtung war sparsam, nur ein paar Wandlampen und eine grüne Schreibtischlampe aus Glas und Messing. Für die Einrichtung gab es eine Erklärung – Tollefsen hatte die Rechtsanwaltskanzlei von seinem Vater übernommen. Der Vater war eine Legende gewesen, ein eifriger Gesellschaftskritiker, der auf allen Fotos eine Zigarette in der Hand hielt. Er hatte täglich sechzig davon geraucht. Und war mit fünfzig an einem Herzinfarkt gestorben. Sein Sohn hatte das Rauchen von ihm geerbt.
»Zetterstrøm hat kein Alibi?«, erkundigte sich Joakim.
»Vorläufig haben wir noch keins. Er war joggen«, antwortete Martin Tollefsen und zündete sich eine Zigarette an, von derselben Marke wie die seines Vaters.
»Obwohl es in Strömen geregnet hat?«, hakte Joakim nach.
»Wenn Sie gut recherchiert haben, wissen Sie, dass er ehemaliger Leistungssportler ist. Früherer norwegischer Marathonsieger. Er hält sich noch immer gut in Form und joggt mehrmals die Woche. Nein, er hat sich von dem Regen nicht abhalten lassen.«
Joakim warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen war es noch immer nass.
»Mochte er seine Studentinnen?«, fragte er.
Tollefsen beugte sich vertraulich über den Tisch.
»Hören Sie auf, den Moralapostel zu spielen. Ja, vielleicht tat er das. Aber eine Studentin umbringen, um einen Seitensprung zu vertuschen? Er ist wirklich nicht der Typ, der …«
»Alle können der Typ sein«, protestierte Joakim.
»Warten Sie, bis Sie ihn getroffen haben«, meinte Tollefsen.
Zurück in der Redaktion, begann Joakim, sich einen Überblick zu verschaffen. Das war eine nützliche Übung. In der Kriminalredaktion gab es eine große Magnettafel, die er einmal aus dem Feuilleton hatte mitgehen lassen. Ganz oben in die Ecke hatte er ein Bild von Helle geklemmt, das er bei Facebook heruntergeladen hatte, wo eine Gedenkseite für sie eingerichtet worden war. Das Foto war draußen aufgenommen, sie saß auf einer Bank. Ihr Haar war unter einer großen braunen Strickmütze versteckt. Es war Herbst, was sich an dem leuchtend bunten Laubteppich hinter ihr erkennen ließ. Ihr Blick war ernst, nur ein leichtes Lächeln kräuselte ihre Lippen.
Er hatte ein paar dürftige Stichworte notiert, das wenige, was er an persönlichen Informationen hatte. Aufgewachsen in Lambertseter. Ging gerne ins Hjørnet. Etwas weiter unten hatte er Bilder von Tom Marius Westerberg und Kato Zetterstrøm angebracht. Was er hatte, war dünn. Das wusste er nur allzu gut. Es war gleich sieben, und er stand mit leeren Händen da.
Kurz darauf kam Agnes zurück.
»Tut mir leid, es ist darauf hinausgelaufen, dass ich eine Gruppe von Studentinnen zu Sushi eingeladen habe.«
»War es das Geld wert?«, fragte Joakim.
Agnes zögerte, während sie ihren Mantel aufhängte.
»Sie haben zusammen mit Helle Isaksen Seminare besucht. Tom Marius Westerberg war furchtbar eifersüchtig, wussten sie zu berichten.«
»Mir gegenüber hat er gesagt, dass Helle Isaksen ein doppeltes Spiel gespielt hat«, sagte Joakim.
Agnes schüttelte den Kopf. »Nein, da hat er dir eine fette Lüge aufgetischt. Den Studentinnen zufolge war Helle treu, aber das hat nichts geändert. Seine Eifersucht kannte keine Grenzen, und nach einer Weile hatte sie genug von seinen Wutanfällen. Am Ende hat er sie kaum noch vor die Tür gelassen. Als sie mit ihm Schluss gemacht hat, hat er Gerüchte über sie verbreitet, dass sie Affären gehabt hätte, als sie mit ihm zusammen war. Aber das hat er sich nur eingebildet.«
Joakim nickte.
»Am neugierigsten bin ich auf den Professor«, fuhr Agnes fort. »Er ist dafür bekannt, Erstsemester aufzureißen.«
»Im Vorjahr hatte er eine Affäre mit einer anderen Studentin im ersten Jahr«, berichtete Joakim. »Sie hat die Hochschule verlassen, noch bevor das Semester um war.«
In den Stunden bis zum Redaktionsschluss schrieben sie über das, was sie hatten, und telefonierten wieder ihre Quellen ab. Joakim sprach noch einmal mit der Polizei. Auch sie hatten von Tom Marius Westerbergs Eifersucht gehört. Zweifellos hatte er sich wie ein Drecksack aufgeführt, aber der Drecksack hatte ein Alibi.
»Bist du dir sicher, dass wir es nicht bei den Eltern versuchen sollten?«, fragte Agnes ein letztes Mal, bevor sie ihre Sachen zusammenpackte. Sie war motiviert, ein gutes Zeichen.
»Tut mir leid, aber da bekommst du nur Ärger«, antwortete Joakim – wohl wissend, dass die Konkurrenz möglicherweise weiter gehen würde.
Er machte erst gegen elf Uhr abends Schluss. Der Ressortleiter bedankte sich höflich für das wenige, was er für ihn hatte. Auf der Treppe traf er Rasmus.
»Ein Bier?«, fragte der.
»Gern. Im Stopp Pressen?«
Rasmus nickte. Seite an Seite gingen sie schweigend zu dem Lokal, das im VG-Gebäude nebenan lag.
Drinnen war es proppenvoll, Studentenabend mit Bierflatrate. Einige Studentinnen saßen den Nachrichtenchefs der großen Zeitungsredaktionen quasi auf dem Schoß. Die Jobjagd war in vollem Gange. Joakim und Rasmus bahnten sich einen Weg in den hinteren Teil des Lokals, wo sie sich einen Platz an der Wand suchten.
»Ich lade dich ein«, sagte Joakim und kämpfte sich zurück an die Theke.
Und dann war sie da, Helene Muus Mikalsen. Sie kam ihm entgegen, als er mit den beiden Biergläsern zurück zu Rasmus gehen wollte. Fast hätte er die Gläser fallen lassen.
Rasmus war sauer. Er hatte sich mit dem Fotochef gestritten. Wieder einmal. Diesmal ging es darum, dass er Rasmus’ Urlaubsantrag abgelehnt hatte. Die Sommerpatience ging wie üblich nicht auf.
»Das ist der Dank, Joakim. Ich habe für dieses Käseblatt alles geopfert. Durch diesen Job sehe ich meine Familie ohnehin schon selten, und jetzt verwehren sie mir sogar den Urlaub.«
Joakim verstand seine Frustration. Rasmus arbeitete viel, und das schon seit vielen Jahren. Seine Frau Ulla war Künstlerin, in den letzten fünf Jahren hatten sie drei Kinder bekommen. Rasmus hatte nicht einmal bei der Geburt der jüngsten Tochter anwesend sein können, weil er über einen Terrorangriff in Pakistan berichtet hatte. Er hatte unzählige Geburtstage, Familienessen und Feierlichkeiten versäumt, um die Belange von Nyhetsavisen zufriedenzustellen.
Der Fotochef bedankte sich nur selten für seinen Einsatz.
»Was ist los mit den Chefs? Nach einem halben Jahr in dem Job werden sie alle gleich, alle. Nehmen sich ungeheuer wichtig.« Rasmus knallte das Bierglas auf den Tisch. Er war in seinem Element. »Macht ist Gift, Joakim. Sie bringt das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein, egal wie gut ihre Absichten vorher waren.«
Rasmus führte große Reden und trank, bis er nicht mehr gerade stehen konnte. Zum Schluss meinte er, dass er sich eigentlich mal mitten in der Sommerferienzeit krankmelden sollte. Nach diesem Statement war das Thema für ihn erledigt, und er verkündete, dass er nach Hause wolle.
Joakim blieb noch eine Weile stehen, um auszutrinken. Er wollte gerade gehen, als Helene auf ihn zukam.
»Hei, Joakim. Wie wäre es mit einem kleinen Absacker?«