Da in drei Tagen die Weihnachtsferien beginnen, ist Geschäftigkeit ausgebrochen. Angelica hat ihre Mittagspausen dazu genutzt, an ihrem Abschlussprojekt für den Grafikdesign-Kurs zu arbeiten. Malachis Freizeit ist dafür draufgegangen, sich für Stipendien zu bewerben. Und ich? Ich habe mich in der Schulbibliothek verkrochen und für die letzten Prüfungen in diesem Quartal gelernt.
Wahrscheinlich habe ich einfach zu viel im Kopf, denn ich verstoße gegen die eine Regel, gegen die kein Schüler der Schomburg-Schule verstoßen sollte: Ich werde zwischen zwei Kursen am Handy ertappt. Nach dem Mittagessen will ich ’Buela anrufen, um sie daran zu erinnern, dass ich heute einkaufen gehe, und schon schnappt mir eine Aufsicht das Handy weg und schreibt mich auf. Meine Erklärungsversuche prallen an ihm ab.
Die Aufsicht ist neu und kennt offenbar weder mich noch meine Lebensumstände, denn er wiederholt immer nur, wie die verflixten Regeln lauten. «Wenn Sie Ihr Handy wiederhaben wollen, brauchen Sie ein unterschriebenes Freigabeformular von Ihren Eltern oder Ihrem Vormund.»
Ich lache ihm bei diesen Worten beinahe ins Gesicht. Ich darf eine Einverständniserklärung für meine Tochter unterschreiben, aber für mich selbst nicht.
«Sir, Sie sollten mit meiner Lehrerin sprechen. Ich habe ein kleines Kind. Ich brauche mein Handy.»
Doch entweder glaubt er mir nicht oder es ist ihm egal, denn er zuckt nur mit den Schultern und geht mit meinem Handy weg. Jetzt könnte ich zum Sekretariat gehen und versuchen, jemanden auf meine Seite zu ziehen, aber aus früheren Erfahrungen weiß ich, dass die Sekretärinnen meistens zu den Leuten von der Aufsicht halten. Ich muss bis zum nächsten Morgen warten, um mein Handy zurückzubekommen. Als der Unterricht endlich aus ist, freue ich mich auf zu Hause.
Ich stoße die Tür mit der Hüfte auf und hieve die beiden Tüten mit dem Einkauf herein, den ich nach der Schule noch erledigt habe. «’Buela? Babygirl?», rufe ich nach oben, während ich in die Küche gehe und die Sachen auf den Tresen stelle. Ich hoffe inständig, dass ’Buela nicht schon wieder zum Arzt musste, doch selbst dann hätte sie Babygirl erst nach Hause gebracht und auf mich gewartet. Heute Abend will ich wirklich mal nachfragen, was eigentlich mit ihr los ist. Ich habe sie beobachtet und ihretwegen sogar mit mehr Gemüse und weniger Butter gekocht, aber diese ewigen Arzttermine können schließlich nichts Gutes bedeuten. Früher oder später muss ich mich ja doch damit auseinandersetzen, und wenn sie mich noch so sehr schonen möchte. Vielleicht sind die beiden oben und machen ein Nickerchen.
Ich lenke mich von den Gedanken an eine mögliche Erkrankung ab, indem ich den Einkauf verstaue. Heute ist es ein bisschen mit mir durchgegangen, und ich habe neue Gewürze gekauft. Ich schwöre, ich könnte den ganzen Tag im Supermarkt verbringen. Ganz besonders liebe ich den in unserem Viertel, der Zutaten direkt von der Insel importiert. Ich gehe dort durch die Gänge und kaufe Kräuter und Pfeffersorten aus aller Welt, während ich in Gedanken meine Lieblingsrezepte neu konzipiere.
«’Buela?», rufe ich noch mal, doch niemand antwortet. Es ist fast halb fünf, und es fühlt sich merkwürdig an, wenn es um diese Zeit so still im Haus ist. Ich gehe durchs Wohnzimmer und hebe Spielzeug und Lätzchen auf. Als ich noch einmal rufe, muss ich die Treppe nur halb hochgehen, um zu merken, dass wirklich niemand zu Hause ist. Oben ist es dunkel und still. Anscheinend ist ’Buela mit Babygirl in den Park gegangen, obwohl es dafür eigentlich zu kalt ist. Oder sie hat sich mit einer Nachbarin verquatscht. Hoffentlich hat sie nicht vergessen, dass sie mich gebeten hat einzukaufen, und schleppt jetzt nicht auch noch literweise Milch und zusätzliches Müsli an. Ich ordne die Zeitschriften im Wohnzimmer, putze den Beistelltisch ab und räume Babygirls Spielzeug und Bücher auf, die irgendwie immer wie ein scharfkantiges Geschenk für meinen Rücken zwischen den Sofakissen stecken, wenn ich mich hinsetze. Dann schaue ich wieder auf die Uhr – fast fünf. Draußen steht nicht einmal mehr die Sonne am Himmel. So viele Freunde hat ’Buela jetzt auch nicht in der Nachbarschaft. Sie ist vor allem mit den Kirchgängerinnen und den Familien in den Häusern rechts und links von uns befreundet, aber auch nicht so intensiv, dass sie sie zu Hause besuchen würde.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Und als hätte es meine Gedanken gelesen, klingelt das Festnetztelefon. Ich renne hin und nehme ab.
«Hallo?» Ich verdränge meine Panik.
Ein Räuspern. «Emoni? Hier ist Mrs. Palmer, Tyrones Mutter.»
Nach fast drei Jahren denkt sie immer noch, ich wüsste nicht, wie sie mit meiner Familie in Verbindung steht. «Hallo, Mrs. Palmer. Ist alles in Ordnung?»
Es rauscht im Telefon, bevor sie antwortet. «Ehrlich gesagt, nein, es ist nicht alles in Ordnung. Emma hat Fieber bekommen. Die Kita hat den ganzen Tag vergeblich versucht, dich zu erreichen. Sie haben es auf dem Handy deiner Großmutter versucht, aber das ist offenbar ausgeschaltet, und am Festnetztelefon hat sich auch niemand gemeldet.»
Verdammt, verdammt, verdammt. «Ist Emma okay? Wo ist sie? Mein Handy ist … in der Schule. Ist sie bei Ihnen?»
«Mm-hmm», sagt Mrs. Palmer, als würde sie an meiner Erklärung zweifeln und glauben, ich wäre absichtlich nicht an mein Handy gegangen. «Nun ja, es ist jedenfalls gut, dass beide Eltern in der Adressenliste verzeichnet sind. Schließlich haben sie Tyrone erreicht, und er hat mich angerufen. Ich bin früher von der Arbeit weggegangen und habe die Kleine abgeholt. Ist das nicht normalerweise die Aufgabe deiner Großmutter? Wo ist sie? Ich möchte gern mit ihr reden.»
Das macht Mrs. Palmer immer. Sie benimmt sich, als wäre ich zu jung und zu dumm, um über meine eigene Tochter zu sprechen. Andererseits weiß ich nicht, wo ’Buela ist und möchte auf keinen Fall, dass Mrs. Palmer zu der Erkenntnis kommt, dass wir beide unzuverlässig sind. «Sie hatte einen Arzttermin und ist noch nicht wieder zu Hause. Offenbar ist es später geworden. Sie ist sonst sehr zuverlässig, was das Abholen angeht. Sind Sie zu Hause? Ich hole Babygirl ab.» Ich habe es schrecklich eilig, mein Kind in die Arme zu schließen, aber ich ringe mir noch ein paar höfliche Worte ab. «Es tut mir leid, dass Sie einspringen mussten, Mrs. Palmer.»
«Nun gut. Jetzt, da ich weiß, dass du zu Hause bist, bringe ich sie bei dir vorbei. Schließlich haben wir nicht umsonst einen Kindersitz gekauft.»
Ich lege auf. Meine Unterlippe tut weh, und ich merke, dass ich während des gesamten Gesprächs darauf herumgekaut habe. Ich schlinge mir einen Schal um und gehe nach draußen, um auf Mrs. Palmer zu warten.