Gibson
Tja, ich werde bald sterben!
Viele Leute schaffen es ans Ende ihres Lebens, ohne zu wissen, dass sie es erreicht haben. Eines Tages geht einfach das Licht aus. Ich hingegen habe einen Termin.
Da ich keine Zeit habe, ein Buch über mein Leben zu schreiben, wie es mir alle nahelegen, muss das hier ausreichen. Ein Blog ist doch ziemlich passend, oder nicht? In letzter Zeit schlafe ich nicht viel, daher habe ich jetzt etwas, womit ich mich nachts beschäftigen kann.
Ohnehin ist Schlaf etwas für Leute, denen es an Ambitionen mangelt.
Immerhin wird es also eine Art schriftliche Aufzeichnung geben. Ich will, dass ihr es von mir hört anstatt von jemand, der damit Geld verdienen will und irgendwelche fundierten Vermutungen anstellt. Aus der Perspektive meiner Branche kann ich euch sagen: Vermutungen sind nur selten fundiert.
Ich hoffe, es ist eine gute Geschichte, weil ich den Eindruck habe, dass ich ein ziemlich gutes Leben gelebt habe.
Vielleicht denkt ihr jetzt: Mr. Wells, Sie besitzen 304,9 Milliarden Dollar, womit Sie der reichste Mensch in Amerika sind und die viertreichste Person auf Gottes schöner Erde, also haben Sie natürlich ein gutes Leben gehabt.
Aber, Freunde, das ist nicht der springende Punkt.
Wichtiger noch, das eine hat nichts mit dem anderen zu tun .
Das hier ist die echte Wahrheit: Ich habe die schönste Frau der Welt kennengelernt und sie überzeugt, mich zu heiraten, bevor ich einen einzigen Penny in der Tasche hatte. Gemeinsam haben wir ein kleines Mädchen aufgezogen, das vom Glück verwöhnt war, das stimmt, aber gelernt hat, den Wert eines Dollars zu schätzen. Sie sagt bitte und danke und meint es auch so.
Ich habe die Sonne auf- und untergehen sehen. Ich habe Teile der Welt gesehen, von denen mein Papa nicht mal gehört hatte. Ich bin mit drei Präsidenten zusammengetroffen und habe alle n respektvoll erklärt, wie sie ihren Job besser machen könnten – und sie haben zugehört. Ich habe auf der Bowlingbahn meines Wohnorts ein perfektes Spiel gemacht, und mein Name steht dort bis heute an der Wand.
Zwischendrin gab es ein paar harte Zeiten, aber wenn ich hier so sitze, während meine Hunde zu meinen Füßen ruhen, meine Frau Molly im Nebenzimmer schläft und Claire, mein kleines Mädchen, eine geschützte, sichere Zukunft hat – da fällt es mir leicht zu denken, dass ich mit dem, was ich geleistet habe, zufrieden sein kann.
Mit großer Demut sage ich, dass Cloud eine Leistung ist, auf die ich stolz sein darf. Es ist etwas, was den meisten Menschen nicht gelingt. Die großen Freiheiten, die es in meiner Kindheit noch gab, haben sich schon vor so langer Zeit in Luft aufgelöst, dass man sich kaum daran erinnern kann. Früher war es nicht allzu schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und ein Häuschen zu bauen. Nach einer Weile wurde das zu einem Luxus und schließlich zu einem reinen Wunschgedanken. Während Cloud wuchs, erkannte ich, dass das Unternehmen mehr sein konnte als ein Kaufladen. Es konnte eine Lösung sein. Es konnte diesem großen Land zur Wohltat gedeihen .
Die Leute an die Bedeutung des Wortes Wohlstand erinnern.
Und das hat es getan.
Wir haben den Leuten Arbeit gegeben. Wir haben den Leuten Zugang zu erschwinglichen Gütern und medizinischer Versorgung verschafft. Wir haben Milliarden Dollar an Steueraufkommen erwirtschaftet. Wir waren führend bei der Verringerung des CO 2 -Ausstoßes, indem wir Normen und Technologien entwickelt haben, die unseren Planeten retten werden.
Getan haben wir das, indem wir uns auf das Einzige konzentriert haben, worauf es in unserem Leben ankommt: die Familie.
Ich habe meine Familie zu Hause und meine Familie bei der Arbeit. Zwei unterschiedliche Familien, die ich beide von ganzem Herzen liebe und voll Trauer zurücklassen werde.
Der Arzt sagt mir, dass mir noch ein Jahr bleibt, und da er ein ziemlich guter Arzt ist, vertraue ich dem, was er sagt. Außerdem weiß ich, dass mein Zustand ziemlich bald bekannt werden wird, weshalb ich ihn euch genauso gut selbst verkünden kann.
Pankreaskarzinom Stufe 4. Das bedeutet, dass der Krebs sich bereits in anderen Teilen meines Körpers ausgebreitet hat. Vor allem in der Wirbelsäule, der Lunge und der Leber. Eine fünfte Stufe gibt es nicht.
Mit der Bauchspeicheldrüse, medizinisch Pankreas, verhält es sich so: Sie ist hinten im Bauch versteckt. Wenn man feststellt, dass damit etwas nicht in Ordnung ist, ist es in vielen Fällen so wie bei einem Brand auf einem trockenen Feld. Zu spät, als dass man was dagegen tun könnte.
Als der Arzt mit der Diagnose herausgerückt ist, hat er einen ernsten Ton angeschlagen und mir die Hand auf den Arm gelegt. Jetzt kommt es, dachte ich. Zeit für schlechte Nachrichten. Daraufhin sagt er mir, was Sache ist, und meine erste Frage, ehrlich und wahrhaftig, lautet: »Was zum Teufel macht eine Bauchspeicheldrüse überhaupt?«
Er hat gelacht, und ich habe mit eingestimmt, was die Stimmung ein bisschen aufgelockert hat. Das war gut, denn anschließend wurde es weniger lustig. Falls ihr dieselbe Frage hattet: Die Bauchspeicheldrüse trägt dazu bei, die Nahrung zu verdauen und den Blutzucker zu regulieren. Inzwischen weiß ich darüber ganz gut Bescheid.
Mir bleibt noch ein Jahr. Deshalb gehen meine Frau und ich morgen früh auf große Fahrt. Ich werde so viele MotherClouds in den Vereinigten Staaten besuchen wie irgend möglich.
Ich will mich bedanken. Ich kann zwar unmöglich jeder Person, die in einer MotherCloud arbeitet, die Hand schütteln, aber bemühen werde ich mich, verdammt noch mal. Das kommt mir wesentlich angenehmer vor, als zu Hause zu sitzen und auf den Tod zu warten.
Genau wie immer werde ich mit meinem Bus reisen. Fliegen ist bloß was für Vögel. Und habt ihr gesehen, wie viel ein Flug heutzutage kostet?
Das Ganze wird eine Weile dauern, und während die Reise ihren Lauf nimmt, werde ich wahrscheinlich ein bisschen müder werden. Vielleicht sogar ein bisschen deprimiert. Trotz meiner sonnigen Wesensart ist es nämlich schwer, zu erfahren, dass man bald sterben wird, und dann einfach weiterzumachen. Aber ich habe in meinem Leben viel Liebe und Wohlwollen erfahren, weshalb ich tun muss, was ich kann. Sonst würde ich im kommenden Jahr bloß jeden Tag herumhocken und Trübsal blasen, was aber nicht infrage kommt. Da würde Molly mir eher ein Kissen aufs Gesicht pressen, damit es vorüber ist!
Seit ich es erfahren habe, ist etwa eine Woche vergangen, aber indem ich darüber schreibe, wird es wesentlich realer. Jetzt kann ich es nicht mehr zurücknehmen.
Nun aber Schluss damit. Ich werde mal die Hunde ausführen. Brauche selbst etwas frische Luft. Falls ihr meinen Bus vorüberfahren seht, winkt ihm doch zu. Wenn jemand das tut, fühle ich mich immer ziemlich gut.
Danke fürs Lesen; ich melde mich bald wieder.