Paxto n
Paxton drückte die Handfläche ans Schaufenster der Eisdiele. Die Speisekarte an der Wand drinnen versprach hausgemachte Köstlichkeiten. Graham-Cracker, Schokolade-Marshmallow und Erdnussbutter-Fudge.
Flankiert wurde die Eisdiele auf der einen Seite von einer Eisenwarenhandlung namens Pop’s und auf der anderen von einem Diner mit einem Schild aus Chrom und Neon, das Paxton nicht deutlich lesen konnte. Delia’s? Dahlia’s?
Er blickte in beiden Richtungen die Hauptstraße entlang. Es war leicht, sich vorzustellen, dass sie von Menschen wimmelte. Wie lebendig es hier früher gewesen sein musste! Das war eine Stadt, die schon beim ersten Besuch nostalgische Gefühle weckte.
Jetzt war sie nur noch ein Echo, das im weißen Sonnenlicht verhallte.
Er wandte sich wieder der Eisdiele zu, dem einzigen Geschäft in der Straße, das nicht mit verwitterten Sperrholzplatten zugenagelt war. Wo die Sonne auf das Fenster auftraf, fühlte es sich heiß an. Es war mit einer Schmutzschicht bedeckt.
Während Paxton durchs Fenster die staubigen Stapel aus Metallbechern, die unbesetzten Hocker und die leeren Kühlfächer betrachtete, hätte er gern irgendein Bedauern darüber verspürt, was dieser Ort einmal für die ihn umgebende Stadt bedeutet haben musste.
Aber er hatte das Limit seiner Traurigkeit bereits erreicht, als er aus dem Bus gestiegen war. Schon die Tatsache, hier zu sein, dehnte seine Haut bis zum Platzen wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon.
Paxton hängte seine Reisetasche über die Schulter und reihte sich in das Rudel ein, das den Gehsteig entlangtrottete und dabei das durch die Risse im Beton ragende Gras zertrampelte. Von hinten kamen immer noch Leute an – ältere und welche mit irgendeiner Behinderung, durch die sie nicht gut gehen konnten.
Aus dem Bus waren siebenundvierzig Fahrgäste gestiegen. Siebenundvierzig Leute, er nicht eingeschlossen. Etwa in der Mitte der zweistündigen Fahrt, als auf seinem Handy nichts mehr war, was seine Aufmerksamkeit fesselte, hatte er sie gezählt. Es gab ein breites Spektrum, was das Alter und die ethnische Herkunft anging. Breitschultrige Männer mit den schwieligen Händen von Tagelöhnern. Gebückte Büroangestellte, die vom jahrelangen Hocken an der Tastatur einen krummen Rücken bekommen hatten. Eine Jugendliche war darunter, bestimmt nicht älter als siebzehn. Sie war klein und üppig, hatte lange, braune Zöpfe, die ihr fast bis zum Po reichten, und eine milchweiße Haut. Der lila Stoff ihres zwei Größen zu weiten Hosenanzugs war vom jahrelangen Tragen ausgeblichen und verbeult. Aus dem Kragen ragte der Rest eines orangefarbenen Schildchens, wie man es in Secondhandläden verwendete.
Alle hatten Gepäck dabei. Ramponierte Rollkoffer, die über das unebene Pflaster ratterten. Rucksäcke und über die Schulter geschlungene Reisetaschen. Alle schwitzten von der Strapaze. Die Sonne knallte Paxton auf den Kopf.
Es hatte bestimmt knapp vierzig Grad. Der Schweiß rann an seinen Beinen entlang und sammelte sich auf den Unterarmen, sodass ihm die Kleider am Leib klebten. Genau deshalb trug er schwarze Hosen und ein weißes Hemd: damit der Schweiß nicht so sichtbar war. Der weißhaarige Mann neben ihm, eventuell ein zwangsweise emeritierter Collegeprofessor, trug einen beigefarbenen Anzug, der wie nasse Pappe aussah.
Hoffentlich war das Rekrutierungszentrum nicht zu weit weg. Hoffentlich war es kühl dort. Er wollte einfach nur irgendwo rein. Auf seiner Zunge schmeckte er den Staub, der von den verwüsteten Feldern heranwehte, auf denen nichts mehr Wurzeln schlagen konnte. Es war grausam von dem Busfahrer gewesen, sie am Stadtrand abzusetzen. Wahrscheinlich wollte der Typ in der Nähe des Highways bleiben, um Kraftstoff zu sparen, aber trotzdem.
Die Schlange vor ihm wechselte die Richtung. Sie bog an der Kreuzung nach rechts ab. Paxton legte Tempo zu. Er wäre gern stehen geblieben, um eine Wasserflasche aus der Reisetasche zu holen, aber es war schon eine Schwäche gewesen, an der Eisdiele zu pausieren. Jetzt waren mehr Leute vor als hinter ihm.
Als er sich der Ecke näherte, drängte eine Frau sich so eng an ihm vorbei, dass er um ein Haar gestolpert wäre. Sie war älter, hatte asiatische Gesichtszüge und einen weißen Wuschelkopf. Über ihre Schulter hing eine Ledertasche. Offenbar wollte sie unbedingt an die Spitze des Rudels gelangen, wobei sie sich jedoch übernahm. Sie strauchelte und knallte auf ein Knie.
Die Leute in ihrer Nähe traten beiseite, um ihr Platz zu lassen, blieben aber nicht stehen. Paxton wusste, wieso. Eine kleine Stimme in seinem Kopf schrie »Weitergehen!«, aber das konnte er natürlich nicht, weshalb er der Frau auf die Beine half. Ihr nacktes Knie war aufgeschrammt; eine lange Blutspur lief am Bein entlang bis zu ihrem Tennisschuh, so dick, dass sie schwarz aussah .
Die Frau sah ihn an, nickte kaum merklich und setzte sich wieder in Bewegung. Paxton seufzte.
»Gern geschehen«, sagte er, aber nicht so laut, dass sie es hören konnte.
Er warf einen Blick über die Schulter. Die Leute weiter hinten beschleunigten ihre Schritte. Sie strengten sich wieder mehr an, wahrscheinlich weil sie gesehen hatten, wie jemand zu Boden gegangen war. Blut lag in der Luft. Paxton schlang sich seine Tasche über die Schulter und marschierte schleunigst auf die Ecke zu. Als er sie umrundet hatte, sah er ein großes Theatergebäude mit einem weißen Vordach vor sich. Unter dem zerbröselnden Stuck der Fassade lugten verwitterte Ziegel hervor.
Auf der Oberseite des Vordachs bildeten gesprungene Neonbuchstaben ein ungleichmäßiges Muster.
R-I-V-R-V-I-E.
Wahrscheinlich sollte das Riverview heißen, obwohl es in der Nähe sichtlich keinerlei Flüsse gab, aber das konnte früher ja mal anders gewesen sein. Vor dem Theater stand eine mobile Klimaanlage auf Rädern. Durch einen Schlauch pumpte das glänzende Gerät kalte Luft ins Gebäude. Paxton folgte dem Rudel auf die lange Reihe offener Türen zu. Als er näher kam, gingen die an den beiden Enden bereits zu, sodass nur einige in der Mitte noch geöffnet waren.
Paxton drängte sich nach vorn auf den mittleren Eingang zu. Die letzten paar Schritte rannte er beinahe. Als er eintrat, schlugen hinter ihm weitere Türen zu. Die Sonne verschwand, und kühle Luft hüllte ihn ein. Sie fühlte sich wie ein Kuss an.
Erschauernd blickte er sich um und sah, wie die letzte Tür zuging. Ein Mann mittleren Alters, der deutlich hinkte, war in der glühenden Sonne gestrandet. Zuerst sank er in sich zusammen. Seine Schultern erschlafften, seine Reisetasche plumpste auf den Boden. Dann kehrte die Spannung in sein Rückgrat zurück, und er tat einen Schritt vorwärts, um mit der flachen Hand an die Tür zu schlagen. Offenbar trug er einen Ring, denn man hörte einen scharfen Knall, als würde gleich die Scheibe bersten.
»He!«, brüllte er mit dumpfer Stimme. »He, das könnt ihr doch nicht machen! Schließlich hab ich den weiten Weg hierher auf mich genommen!«
Tack, tack, tack.
»He!«
Ein Mann in einem grauen T-Shirt, auf dem hinten in weißen Lettern JobExpress stand, ging auf den abgelehnten Bewerber zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Paxton konnte zwar nicht von den Lippen lesen, nahm aber an, dass es dieselben Worte waren, die eine am Bus zurückgewiesene Frau zu hören bekommen hatte. Sie hatte als Letzte in der Warteschlange gestanden, als die Tür vor ihrer Nase zuging. Darauf war ein Mann in einem JobExpress-Shirt erschienen und hatte gesagt: »Es gibt keinen letzten Platz. Sie müssen wirklich bei Cloud arbeiten wollen. In einem Monat können Sie sich gerne noch einmal bewerben.«
Paxton wandte sich von der Szene ab. Schon für seine eigene Traurigkeit fand er in sich keinen Raum mehr und für die von jemand anderes erst recht nicht.
Im Foyer wimmelte es von Männern und Frauen in JobExpress-Shirts. Manche standen freundlich lächelnd mit einer Pinzette und kleinen Plastikbeuteln bereit. Alle Bewerber wurden angewiesen, sich von einer Person in Grau ein paar Haare auszupfen und eintüten zu lassen. Dann wurden die Bewerber aufgefordert, mit schwarzem Filzstift ihren Namen und ihre Sozialversicherungsnummer auf den Beutel zu schreiben.
Die Frau, die bei Paxton die Probe nahm, war fast kugelrund und einen Kopf kleiner als er. Damit sie an ihn herankam, musste er sich bücken. Er zuckte beim Haareausreißen kurz zusammen, dann schrieb er seinen Namen auf den Beutel und übergab ihn dem Mann, der darauf wartete, ihn abzutransportieren. Als Paxton aus dem Foyer in den Theatersaal trat, überreichte ihm ein spindeldürrer Mann mit buschigem Schnurrbart einen kleinen Tablet-PC .
»Suchen Sie sich einen Platz, und schalten Sie das Tablet ein«, sagte der Mann in geübtem, desinteressiertem Ton. »Der Bewerbungsprozess wird gleich beginnen.«
Paxton schlang sich wieder seine Reisetasche über die Schulter und ging den Mittelgang entlang. Der Teppich war fast bis auf den Estrich abgewetzt, und es roch nach alten, undichten Rohrleitungen. Er wählte eine Sitzreihe ziemlich weit vorn und ging bis zur Mitte durch. Als er sich auf dem harten Holzsitz niedergelassen und seine Tasche neben sich gestellt hatte, hörte er hinter sich ein lautes Klacken. Die Türen wurden verriegelt.
Seine Reihe war leer bis auf eine Frau, deren Haut die Farbe von verbrannter Erde hatte. Auf ihrem Kopf türmten sich elastische Locken aus dunkelbraunem Haar, und sie trug ein honigfarbenes Sommerkleid mit farblich passenden flachen Schuhen. Sie saß am Ende der Reihe, ganz in der Nähe der Wand, deren verschnörkelte, weinrote Tapete von Wasserflecken verunziert war. Paxton versuchte, ihren Blick auf sich zu ziehen und sie anzulächeln, aus Höflichkeit, aber auch weil er mehr von ihrem Gesicht sehen wollte. Da sie ihn nicht bemerkte, starrte er auf das Tablet. Zog eine Wasserflasche aus der Reisetasche, schüttete sich die Hälfte in die Kehle und drückte die Taste an der Seite des Computers.
Das Display flackerte auf. In der Mitte erschien eine Abfolge großer Zahlen.
Zehn.
Dann neun.
Dann acht.
Als die Null erreicht war, summte und blinkte das Gerät, dann erschien anstelle der Zahlen eine Reihe von leeren Feldern. Paxton legte sich das Tablet auf den Schoß und konzentrierte sich.
Name, Kontaktinformationen, kurzer beruflicher Werdegang. Hemdgröße?
Paxtons Finger schwebten über dem Wort Werdegang . Er wollte nicht erklären, was er bisher gemacht hatte. Nichts über den Lauf der Ereignisse schreiben, der ihn zu einem maroden Theater in einer maroden Stadt geführt hatte. Sonst hätte er erklären müssen, dass Cloud sein Leben zerstört hatte.
Aber was sollte er schreiben?
Ob die überhaupt wussten, wer er war?
Und wenn sie es nicht wussten, war das dann besser oder schlechter?
Paxton stellte fest, dass doch noch mehr Raum für Traurigkeit in ihm vorhanden war. Sollte er sich wirklich bewerben, indem er in das besagte Feld Unternehmer eintrug?
Sein Magen zog sich zusammen, und er entschied sich für den Job im Gefängnis. Fünfzehn Jahre. Das war lange genug, um sein Pflichtbewusstsein zu demonstrieren. So würde er es nennen, wenn man ihn danach fragte: Pflichtbewusstsein. Wenn man etwas über die Lücke wissen wollte, jene zwei Jahre zwischen dem Gefängnis und jetzt, dann würde er damit umgehen können .
Nachdem er sämtliche Felder ausgefüllt hatte, leuchtete der nächste Bildschirm auf.
Haben Sie je etwas gestohlen?
Darunter waren zwei Schaltflächen. Grün für ja und rot für nein.
Er rieb sich die Augen, die von dem grellen Display schmerzten. Erinnerte sich daran, wie er mit neun Jahren im Laden von Mr. Chowdury vor dem Drehständer mit den Comics gestanden hatte.
Das Comicheft, das er haben wollte, kostete vier Dollar, und er hatte nur zwei. Er hätte nach Hause gehen und seine Mutter um den fehlenden Betrag bitten können, doch stattdessen wartete er mit zittrigen Beinen, bis ein Mann hereinkam und eine Packung Zigaretten verlangte. Als Mr. Chowdury sich bückte, um die Packung unter der Ladentheke hervorzuholen, rollte Paxton das Comicheft zusammen, hielt es sich eng ans Bein, damit es nicht zu sehen war, und machte sich auf den Weg zum Ausgang.
Er ging zum Park, setzte sich auf einen großen Stein und versuchte, den Comic zu lesen, konnte sich jedoch nicht richtig konzentrieren. Die Zeichnungen verschwammen, während er sich in das hineinsteigerte, was er gerade getan hatte.
Er hatte eine Straftat begangen. Hatte jemand bestohlen, der immer nett zu ihm gewesen war.
Er brauchte den halben Tag, bis er genügend Mut aufbrachte, ging aber schließlich doch zum Laden zurück, um sich davorzustellen und zu warten, bis bestimmt niemand mehr darin war. Dann trug er das Comicheft wie ein totes Haustier zur Ladentheke. Heulend erklärte er mit laufender Nase, wie leid ihm alles tue .
Mr. Chowdury war bereit, nicht bei der Polizei oder – schlimmer noch – bei Paxtons Mutter anzurufen. Aber jedes Mal, wenn Paxton danach den Laden betrat – es war der einzige in der Nähe seines Elternhauses, weshalb er keine andere Wahl hatte –, spürte er den Blick des alten Mannes auf seinem Rücken brennen.
Paxton las die Frage noch einmal und tippte auf das rote Kästchen mit der Aufschrift Nein, obwohl es eine Lüge war. Es war eine Lüge, mit der er leben konnte.
Das Display blitzte auf, und eine neue Frage erschien.
Finden Sie es moralisch vertretbar, unter bestimmten Umständen zu stehlen?
Grün für ja, rot für nein.
Das war leicht. Nein.
Können Sie sich irgendwelche Umstände vorstellen, unter denen es moralisch vertretbar wäre zu stehlen?
Nein.
Wenn Ihre Familie hungern würde, würden Sie dann einen Laib Brot für sie stehlen?
Ehrliche Antwort: wahrscheinlich.
Nein.
Würden Sie etwas an Ihrem Arbeitsplatz stehlen?
Nein .
Und wenn Sie wüssten, dass man Sie nicht erwischt?
Paxton wünschte sich ein Feld mit der Bedeutung: Ich würde nie im Leben etwas stehlen – können wir jetzt bitte weitermachen?
Nein.
Wenn Sie wüssten, dass jemand etwas gestohlen hat, würden Sie ihn dann melden?
Klar. Ja.
Haben Sie jemals Drogen genommen?
Die Frage war eine Erleichterung. Nicht nur aufgrund des Themenwechsels, sondern weil er sie ehrlich beantworten konnte.
Nein.
Haben Sie jemals Alkohol getrunken?
Ja.
Wie viele alkoholische Getränke konsumieren Sie pro Woche?
– 1–3
– 4–6
– 7–10
– 11+
Sieben bis zehn stimmte wahrscheinlich eher, aber Paxton wählte die zweite Option.
Danach sprangen die Fragen von einem Thema zum anderen .
Wie viele Fenster gibt es in Seattle?
– 10 000
– 100 000
– 1 000 000
– 1 000 000 000
Sollte Uranus als Planet bezeichnet werden?
– Ja.
– Nein.
Es gibt zu viele Rechtsstreitigkeiten.
– Ich stimme voll und ganz zu.
– Ich stimme eher zu.
– Keine Meinung.
– Ich stimme eher nicht zu.
– Ich stimme überhaupt nicht zu.
Paxton gab sich Mühe, über jede Frage ernsthaft nachzudenken, obwohl er nicht recht wusste, was das alles bedeuten sollte. Wahrscheinlich gab es irgendeinen Algorithmus, der anhand seiner Meinung zu astronomischen Fragen den Kern seiner Persönlichkeit enthüllen konnte.
Er beantwortete Fragen, bis er nicht mehr wusste, wie viele es gewesen waren. Dann erlosch das Display und blieb so lange dunkel, dass Paxton sich schon fragte, ob er wohl etwas falsch gemacht hatte. Er sah sich nach Hilfe um, aber da er keine fand, richtete er den Blick wieder auf das Tablet, auf dem inzwischen endlich ein neuer Text erschienen war.
Danke für Ihre Antworten. Wir bitten Sie nun um ein kurzes Statement. Wenn Sie in der linken unteren Ecke einen Countdown sehen, beginnt die Aufnahme, und Sie haben eine Minute Zeit zu erklären, weshalb Sie bei Cloud arbeiten wollen. Bitte bedenken Sie, dass Sie nicht die gesamte Minute über sprechen müssen. Eine klare, einfache und direkte Erklärung genügt. Wenn Sie das Gefühl haben, fertig zu sein, können Sie auf den roten Punkt unten auf dem Display tippen, um die Aufnahme zu beenden. Es besteht keine Möglichkeit, die Aufnahme zu wiederholen.
Im Display spiegelte sich Paxtons Gesicht, durch die Neigung des Geräts leicht verzerrt. Seine Haut leuchtete in einem kränklichen Grau. In der linken unteren Ecke tauchte ein Countdown auf.
1:00.
Dann :59.
»Mir war nicht klar, dass ich eine Rede halten muss«, sagte Paxton mit einem Grinsen, das ausdrücken sollte, dass es sich um einen Scherz handelte, aber schärfer als beabsichtigt wirkte. »Ich würde wohl sagen, dass, äh, tja, wissen Sie, heutzutage ist es schwer, einen Job zu bekommen. Deshalb und weil ich mich örtlich verändern will, dachte ich, das ist doch irgendwie ideal, nicht wahr?«
:43.
»Ich meine, ich will wirklich bei Ihnen arbeiten. Das ist, denke ich, äh, eine fantastische Gelegenheit, etwas Neues zu lernen und mich zu entwickeln. Wie es in dem Werbespot heißt, Cloud ist die Lösung für alle Bedürfnisse.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich kann nicht so gut aus dem Stegreif sprechen.«
:22 .
Ein tiefer Atemzug.
»Aber ich arbeite hart. Ich bin stolz auf meine Arbeit, und ich verspreche, alles zu geben.«
:09.
Paxton drückte auf den roten Punkt, worauf sein Gesicht verschwand. Das Display leuchtete weiß auf. Er verfluchte sich, weil er derart über die eigenen Worte gestolpert war. Wenn er gewusst hätte, dass das ein Teil der Bewerbung sein würde, hätte er vorher geübt.
Danke. Bitte warten Sie, während die Interviewergebnisse ausgewertet werden. Am Ende dieses Vorgangs wird Ihr Display entweder grün oder rot aufleuchten. Bei Rot tut es uns leid, dann haben Sie entweder den Drogentest nicht bestanden oder die von Cloud erwarteten Normen nicht erreicht. In diesem Fall dürfen Sie das Gebäude verlassen und müssen sich vor einer erneuten Bewerbung einen Monat gedulden. Bei Grün bleiben Sie bitte sitzen und warten Sie auf weitere Anweisungen.
Das Display wurde schwarz. Als Paxton den Kopf hob und sich umblickte, sah er, wie alle anderen ebenfalls den Kopf hoben und sich umblickten. Die Frau in seiner Reihe schaute zu ihm herüber, worauf er leicht die Achseln zuckte. Anstatt die Geste zu erwidern, legte sie sich das Tablet auf den Schoß und zog ein kleines Taschenbuch aus ihrer Handtasche.
Paxton balancierte das Tablet auf den Knien. Er war sich nicht sicher, ob er Rot oder Grün sehen wollte .
Rot bedeutete, hinauszugehen und in der Sonne zu stehen, bis wieder ein Bus kam, falls das überhaupt der Fall war. Es bedeutete, die Stellenanzeigen nach Jobs zu durchforsten, mit denen man nicht genug zum Überleben verdiente, und die Wohnungsanzeigen nach Buden, die entweder zu teuer für ihn waren oder so heruntergekommen, dass man nicht darin hausen konnte. Es bedeutete, wieder in jenem stinkenden Tümpel aus Frustration und Emotion zu stecken, in dem er sich monatelang abgestrampelt hatte, die Nase knapp über der Wasseroberfläche.
Trotzdem kam ihm das beinahe wünschenswerter vor, als für Cloud zu arbeiten.
Hinter ihm schniefte jemand laut. Paxton drehte sich um und sah die Frau mit den asiatischen Zügen, die sich vorher an ihm vorübergedrängt hatte. Sie hatte den Kopf gesenkt. Ihr Gesicht war in rotes Licht getaucht.
Als nun sein Display aufleuchtete, hielt er den Atem an.