Paxto
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Die Massenmigration aus dem indischen Kalkutta setzt sich fort. Hier leben mehr als sechs Millionen Menschen in tief liegenden Gebieten, die in den letzten Jahren unter den Meeresspiegel gesunken sind …
Das dazugehörige Foto zeigte eine Gruppe Menschen, die in einem provisorisch aus Treibholz zusammengezimmerten Boot hockten. Zwei Männer, eine Frau. Drei Kinder. Bei allen war die Haut straff wie ein Trommelfell. Paxton schloss den Browser seines Handys.
Der Himmel verdunkelte sich. Vielleicht kommt ein Gewitter, dachte Paxton, aber als er sich über die schlafende Zinnia lehnte, um aus dem Fenster zu schauen, war die Luft voller Insekten. Große, schwarze Schwärme, die am Himmel hin und her zogen.
Inzwischen nahm der Verkehr zu – lange waren sie allein durchs Nirgendwo gefahren, aber dann war auf einmal ein fahrerloser Sattelschlepper an ihnen vorübergerast. Das Dröhnen hatte Paxton aus dem Halbschlaf gerissen. Danach wurden sie immer häufiger von Lastwagen überholt, erst alle zehn und dann alle fünf Minuten und jetzt vielleicht alle dreißig Sekunden.
Der Horizont voraus war eine flache Linie, aus der ein einzelner großer Kasten herausragte. Noch zu weit entfernt, als dass man Einzelheiten erkennen konnte. Paxton lehnte sich zurück und griff nach den Broschüren, in denen das Kreditsystem und das Ranking erläutert wurden, die Wohnraumverteilung und die Gesundheitsversorgung.
Er hatte alles zwar schon zweimal durchgelesen, aber es war eine Menge Informationen. Sein Blick glitt immer wieder von den Wörtern ab.
Das Einführungsvideo lief in einer Endlosschleife. War offenbar schon vor Jahren aufgenommen worden. Paxton wusste, wie Gibson Wells inzwischen aussah. Der war jetzt praktisch täglich in den Nachrichten, und in dem Video sah er größer aus und hatte mehr Haare auf dem Kopf.
Jetzt würde er bald sterben. Gibson Wells. Das war in etwa so, als würde man erfahren, dass das Grand Central Terminal in New York entfernt werden sollte, indem man es hochhob und wegwarf. Wie würde alles ohne ihn funktionieren? Die Ungeheuerlichkeit der Frage überschattete den Groll, den Paxton hegte.
Ständig musste er daran denken, was Wells am Ende gesagt hatte. Dass er die MotherClouds im ganzen Land aufsuche. Wells hatte noch ein Jahr zu leben. Wie viele würde er schaffen? Ob Paxton ihm wohl begegnen konnte? Ihn zur Rede stellen? Was würde er zu einem Mann sagen, der dreihundert Milliarden Dollar besaß und meinte, das sei immer noch nicht genug?
Er steckte die Broschüren in seine Reisetasche, holte eine Wasserflasche heraus und drehte knackend den Plastikverschluss auf. Dann griff er wieder zu der einzigen Broschüre, bei der es ihm vor Erwartung eng in der Brust wurde.
Die farbcodierten Tätigkeitsbereiche.
Rot war für die Sammler und Verpacker und damit für den Menschenschwarm, der für den Umschlag der Waren verantwortlich war. Braun für die technische Unterstützung, Gelb für den Kundensupport, Grün für das Küchen– und Reinigungspersonal sowie für verschiedene
andere Aufgaben. Weiß war für die Manager, wobei niemand auf dieser Ebene anfing. Außerdem gab es noch andere Farben, die nicht in dem Video vorgekommen waren, zum Beispiel Violett für Lehrer und Orange für das Personal auf dem Drohnenflugplatz.
Eigentlich war Paxton beinahe alles recht, wenngleich er auf Rot hoffte.
Was er fürchtete, war Blau. Das war die Farbe für das Security-Team.
Rot würde bedeuten, dass er ständig auf den Beinen war, aber er war fit genug, das zu schaffen. Außerdem würde es ihm nicht schaden, wenn sein Bauch ein bisschen straffer wurde.
Berufserfahrung hatte er allerdings im Security-Bereich. Nicht von der Ausbildung her, studiert hatte er Ingenieurwesen und Robotik. Aber als er nach dem College keine Stelle gefunden hatte und verzweifelt gewesen war, hatte er auf eine Annonce der Strafanstalt geantwortet und war für die nächsten fünfzehn Jahre dort gelandet. Mit einem Teleskopschlagstock und Pfefferspray ausgerüstet, hatte er jeden Penny gespart, während er daran gearbeitet hatte, seine eigene Firma zu gründen.
Am ersten Tag in der Anstalt hatte er furchtbare Angst gehabt. Er hatte gedacht, an einen Ort zu gelangen, wo alle mit Tattoos bedeckt waren und ihre Zahnbürsten zu Messern schliffen. Was er vorfand, waren einige Tausend wegen geringfügiger Vergehen verurteilte, absolut nicht gewalttätige Männer. Sie hatten Drogen genommen, Strafzettel ignoriert oder irgendwelche Hypotheken- oder Studiendarlehen nicht zurückgezahlt.
Seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, den Leuten zu sagen, wo sie sich hinstellen und wann sie wieder
in ihre Zellen zurückgehen sollten. Oder dass sie etwas aufheben sollten, was sie auf den Boden geworfen hatten. Es war ihm zuwider. Es war ihm so zuwider, dass er abends manchmal sofort ins Bett ging, wenn er nach Hause kam. Dann vergrub er den Kopf im Kissen und spürte ein tiefes Loch im Bauch, in das sein ganzer Körper hineinstürzte.
Er hatte eine zweiwöchige Kündigungsfrist, aber als er schließlich seine Kündigung einreichte, zuckte sein Vorgesetzter nur die Achseln und sagte, er solle einfach heimgehen. Das war der beste Tag seines Lebens. Er schwor sich, niemals mehr an einem Ort zu arbeiten, wo er von irgendjemand Anordnungen entgegennehmen musste.
Und da saß er nun.
Während der Bus seinem Ziel entgegenraste, blätterte Paxton die Broschüre durch, um noch einmal den Abschnitt über den Security-Apparat zu lesen. Offenbar hatte Cloud ein eigenes Team mit dem Auftrag, die Mitarbeiter zu durchleuchten und aktiv zu werden, wenn die Lebensqualität gefährdet war. Falls sich ein echtes Verbrechen ereignete, nahm es Kontakt zur örtlichen Polizeibehörde auf. Paxton blickte aus dem Fenster auf die weiten, leeren Felder. Was die örtliche Polizeibehörde anging, hatte er gewisse Zweifel.
Als der Bus eine kleine Kuppe erklomm, von der sich ein spektakulärer Blick auf die Umgebung bot, kam der Cloud-Campus in Sicht.
Am Ende der Straße breitete sich eine Gruppe von Gebäuden aus, in deren Mitte eine einzelne Struktur aufragte, so groß, dass man sie nicht in ihrer Gänze erfassen konnte, sondern nur abschnittsweise. Sie war der Ursprung von Drohnen, die in allen Richtungen durch den Himmel summten. Die Paxton zugewandte Seite war
fast völlig flach und glatt. Zwischen dem Koloss und den kleineren Bauten, von denen er umgeben war, schlängelten sich Rohrleitungen über den Boden. Die Architektur vermittelte den Eindruck, zugleich kindlich und brutal zu sein. Hastig angeordnet, nachdem sie von einer gleichgültigen Hand vom Himmel geworfen worden war.
Die Frau in dem weißen Poloshirt, die bisher für die Ankündigungen zuständig gewesen war, stand auf und sagte: »Ich bitte um Aufmerksamkeit!«
Zinnia schlief immer noch tief und fest, weshalb Paxton sich zu ihr beugte und sie leise ansprach. Weil sie sich nicht regte, legte er ihr einen Finger auf die Schulter und übte damit einen leichten Druck aus, bis sie aufwachte. Erschrocken und mit wirrem Blick, setzte sie sich auf. Paxton hob entschuldigend die Hände. »Tut mir leid. Es ist so weit.«
Sie sog schnaufend die Luft ein, nickte und schüttelte den Kopf, als wollte sie einen Gedanken hervorlocken.
»Es gibt drei Wohnbauten in der MotherCloud«, sagte die Frau. »Oak, Sequoia und Maple. Bitte hören Sie gut zu, während ich die Liste vorlese.«
Sie begann, eine Reihe von Nachnamen herunterzurattern.
Athelia: Oak.
Bronson: Sequoia.
Cosentino: Maple.
Paxton wartete auf seinen Namen weiter unten im Alphabet. Schließlich: Oak. Das wiederholte er im Kopf: Oak, Oak, Oak.
Er wandte sich Zinnia zu, die in ihrer Reisetasche herumkramte, ohne zuzuhören
.
»Hast du denn schon mitbekommen, wo du wohnst?«, fragte er.
Sie nickte, ohne den Blick zu heben. »In Maple.«
Das ist aber schade, dachte Paxton. Zinnia hatte etwas an sich, was er mochte. Sie schien aufmerksam zu sein. Mitgefühl zu haben. Er hatte nicht erwartet, dass er ihr erzählen würde, was mit dem Perfekten Ei passiert war, aber als er es getan hatte, war der Druck teilweise von ihm gewichen wie Luft, die man aus einem Ballon ließ. Dazu kam, dass sie hübsch war, wenn auch auf recht spezielle Weise. Ihr Hals war glatt und lang, und ihre dünnen Glieder ließen ihn an eine Gazelle denken. Wenn sie lächelte, wölbte sich ihre Oberlippe zu einem übertriebenen Bogen, aber es war ein schönes Lächeln, das er öfter sehen wollte.
Vielleicht lagen Maple und Oak ja nah beieinander?
Ihm kam ein Gedanke. Zuerst meinte er, der wäre ihm ganz plötzlich eingefallen, aber das stimmte nicht ganz. Der Gedanke war mit ihm in den Bus gestiegen und hatte sich bisher lediglich zurückgehalten. Nun würde sich alles ändern, lautete er. Ein neuer Job und zugleich ein neuer Wohnort. Ein wahres Erdbeben in der Landschaft von Paxtons Leben. Er stellte fest, dass er es einerseits kaum erwarten konnte anzukommen und andererseits hoffte, der Bus würde umkehren.
Er sagte sich, dass er nicht lange an diesem Ort bleiben werde. Dass es nur ein Zwischenstopp sei, so wie es auch das Gefängnis hätte sein sollen. Nur dass er sich diesmal daran halten würde.
Der Bus rollte auf das nächste Gebäude zu, einen großen Kasten mit einer weit aufklaffenden Öffnung, in der die Straße verschwand. Im Innern teilte sie sich in mehrere Dutzend Fahrstreifen. Beinahe alle waren mit
Sattelschleppern belegt, die unter an der Decke angebrachten Scannern einen bedächtigen, wie choreografiert wirkenden Tanz vollführten. Aus der Gegenrichtung kamen keine Fahrzeuge, also gab es offenbar eine andere Route für die Ausfahrt.
Der Bus bog nach rechts auf eine eigene Fahrspur ab, die ihn von den Lastwagen wegführte, und sauste an ihnen vorüber, bis er mitten in einer Ansammlung von ähnlichen Bussen zum Stehen kam. Die Frau in dem weißen Shirt erhob sich wieder. »Sobald Sie den Bus verlassen haben, erhalten Sie Ihr CloudBand. Die Ausgabe dauert einige Minuten, deshalb können die Leute weiter hinten gern noch sitzen bleiben. Wir haben gleich alle versorgt. Danke und willkommen in der MotherCloud!«
Die Insassen standen auf und griffen nach ihren Reisetaschen. Zinnia blieb sitzen und betrachtete durchs Fenster die Szene draußen. In erster Linie sah man andere Busse, auf deren Dächern die schwarzen Oberflächen der Solarkollektoren im Licht schillerten.
Paxton überlegte, ob er sie zu einem Drink einladen sollte. Es wäre nett gewesen, gleich jemand kennenzulernen. Aber Zinnia war hübsch, vielleicht ein bisschen zu hübsch für ihn, und er wollte sich seinen ersten Tag nicht mit einem Korb verderben. Deshalb stand er einfach auf, nahm seine Tasche und trat zur Seite, damit sie vor ihm hinausgehen konnte.
Neben dem Bus stand ein groß gewachsener Mann in einem weißen Poloshirt, der seine grauen Haare zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden hatte. Begleitet wurde er von einer ebenfalls großen Schwarzen mit einem lila Tuch um den Kopf. Sie hielt eine Schachtel in den Händen. Der Mann stellte den Leuten eine Frage, tippte danach aufs Display seines Tablets, griff dann in die
Schachtel und händigte dem Betreffenden etwas aus. Schön nacheinander. Als Paxton an der Reihe war, fragte der Mann ihn nach seinem Namen, sah auf das Tablet und überreichte ihm eine Armbanduhr.
Paxton ging ein paar Schritte vom Gedränge weg, um die Uhr zu untersuchen. Das Armband war dunkelgrau, fast schwarz, und hatte einen Magnetverschluss. Auf der Rückseite befanden sich mehrere Metallscheiben. Als er die Uhr ums Handgelenk legte und den Verschluss zuschnappen ließ, leuchtete das Display auf.
Hallo, Paxton! Legen Sie bitte den Daumen aufs Display.
Anstelle der Botschaft erschien der Umriss eines Fingerabdrucks. Paxton legte den Daumen darauf, und nach einem Augenblick summte die Uhr.
Danke!
Dann:
Verwenden Sie Ihre Uhr, um zu Ihrer Wohnung zu gelangen.
Dann:
Sie wurden in Oak einquartiert.
Er folgte der Schlange, die sich gebildet hatte, zu mehreren Körperscannern, die von Männern und Frauen mit blauen Poloshirts und ebenfalls blauen Latexhandschuhen betreut wurden. Einer der Männer in Blau rief: »Keine Waffen!«, während die Neuankömmlinge einer nach dem anderen ihre Sachen auf Gepäckscanner stellten,
dann unter den Körperscanner traten und die Arme in die Luft hoben. Das Gerät drehte sich einmal um sie herum, bevor sie es wieder verlassen konnten und ihr Gepäck zurückbekamen.
Hinter den Scannern kam man zu einer mit Schleusen gesicherten Plattform vor einem Schienenstrang. An jeder Schleuse war eine kleine, schwarz glänzende Scheibe mit einem weißen Lichtrand angebracht. Wenn man die Uhr vor die Scheibe hielt, wurde das Licht grün, und die Schleuse gab ein angenehm tröstliches Geräusch von sich. Ein warmes kleines Klingelgeräusch, das zu sagen schien, dass alles gut werde.
Paxton schaffte es auf den Bahnsteig, sah Zinnia und stellte sich neben sie. Er beobachtete, wie sie an ihrer neuen Uhr herumfummelte und mit den Fingern darüberstrich.
»Trägst du nicht gern Uhren?«, fragte er.
»Hm?« Sie sah auf und kniff die Augen zusammen, als hätte sie vergessen, wer er war.
»’tschuldigung. War bloß eine Beobachtung. Sieht aus, als würdest du das Ding da nicht gern tragen.«
Zinnia streckte den Arm aus. »Es ist ganz leicht. Man spürt es kaum.«
»Das ist doch gut, oder? Wenn wir es den ganzen Tag tragen müssen, meine ich.«
Sie nickte, während eine stromlinienförmige Bahn einfuhr. Es war ein einzelner Wagen, der lautlos auf Magnetschienen lief und so sanft zum Stehen kam wie ein zu Boden sinkendes Blatt. Die Wartenden stiegen ein und quetschten sich in den engen Raum. Es gab eine Reihe von gelben Stangen zum Festhalten und einige Behindertensitze, die man herunterklappen konnte, aber das tat niemand
.
Paxton wurde im Gedränge von Zinnia getrennt, und als alle drin waren und die Türen zugingen, befand sie sich an der anderen Seite des Wagens. Alle standen Schulter an Schulter. Die Körper, die sich an Paxton pressten, rochen nach Schweiß, Aftershave und Parfüm, eine pestilenzialische Mischung in der Enge. Er hätte sich in den Hintern treten können, weil er nichts mit Zinnia vereinbart hatte. Jetzt hatte er den Eindruck, dass es zu spät war.
Die Bahn sauste durch dunkle Tunnel, bevor sie schließlich ins Sonnenlicht schoss. Es kamen einige scharfe Kurven, bei denen die Insassen fast den Halt verloren.
Als die Bahn langsamer wurde, flackerten die getönten Fenster auf. In gespenstisch weißen Lettern erschien das Wort OAK
vor den Strukturen draußen. Eine kühle Männerstimme kündigte die Station an.
Während Paxton den Aussteigenden folgte, winkte er Zinnia kurz zu und rief: »Sehen wir uns mal?« Das hörte sich fragender an, als ihm lieb war – er hätte verwegener klingen wollen –, aber Zinnia lächelte und nickte.
Gleich neben den Schienen befand sich ein gefliester, tiefergelegter Vorplatz mit drei Rolltreppen, die an beiden Seiten von Stufen flankiert waren. Eine funktionierte nicht; rund um den Einstieg hatte man wie eine Reihe Zähne orangefarbene Kegel aufgestellt. Die meisten Leute entschieden sich für eine von den anderen beiden Rolltreppen, aber Paxton hängte sich seine Reisetasche über die Schulter und nahm tapfer die Stufen. Oben gelangte er in einen schmucklosen Raum aus Sichtbeton mit mehreren Aufzügen. An einer der Wände war ein großer Bildschirm angebracht, auf dem das Video aus dem Bus lief
.
Die Mutter klebte ihrem Sohn gerade das Pflaster aufs Knie, als es an Paxtons Handgelenk summte.
10. Etage, Apartment D.
Effizient war das Ding ja. Er betrat einen Aufzug und stellte fest, dass es darin keinerlei Tasten gab, nur wieder eine von einem Lichtkreis umgebene Scheibe. Wenn man das Handgelenk davorhielt, leuchtete auf der gläsernen Oberfläche eine Etagennummer auf. Bei Paxton war es die 10.
Er war der Einzige, der im zehnten Stock ausstieg. Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, staunte er über die Stille, die im Flur herrschte. Angenehm nach dem stundenlangen Reden, dem Video, dem Bus, der Fahrt und der aufgezwungenen Nähe zu Fremden. Die Wände waren aus weiß getünchten Betonsteinen errichtet, die Türen waldgrün lackiert. Ein kleines Schild zeigte die Richtung zu den Toiletten und den Apartments an. Das Alphabet begann offenbar am anderen Ende des Flurs, was eine lange Wanderung über das Linoleum bedeutete. Paxtons Schuhsohlen quietschten auf der spiegelnden Oberfläche.
An der mit D gekennzeichneten Tür hielt er das Handgelenk neben den Knauf, worauf es klickte. Er drückte die Tür auf.
Der Raum sah eher wie ein enger Korridor als wie ein Apartment aus. Der Boden war mit demselben Material wie im Flur belegt, die Wände wiederum aus weiß getünchten Betonsteinen aufgeschichtet. Gleich rechts kam die Küche, bestehend aus einer Arbeitsfläche mit einer in die Wand eingelassenen Mikrowelle, einem kleinen Waschbecken und einer Kochplatte. Als er das Einbauschränkchen
daneben öffnete, fand er billiges Kunststoffgeschirr vor. Auf der anderen Seite waren Schiebetüren, hinter denen sich ein langer, flacher Kleiderschrank befand.
Gleich hinter dem Schrank war eine Pritsche in die linke Wand eingebaut. Darunter sah man die Türen weiterer kleiner Schränke. Die Matratze war mit einem glatten, plastikähnlichen Material bezogen, als wäre sie für ein Kind gedacht, das noch ins Bett machte. An der Kante der Pritsche wies eine Notiz darauf hin, dass man sie zum Schlafen herausziehen konnte.
An der Wand gegenüber dem Bett war ein Fernseher befestigt, darunter stand ein schmaler Couchtisch, kaum groß genug für eine Tasse Kaffee. Den Abschluss des Raums bildete ein Milchglasfenster, durch das mattes Sonnenlicht hereinfiel. Es konnte mit einer Jalousie abgedunkelt werden.
Paxton setzte seine Reisetasche neben einem Stapel Bettzeug und einem schlaffen Kissen ab. Wenn er sich neben das Bett stellte und die Arme ausbreitete, konnte er mit den Fingerspitzen beinahe beide Wände berühren.
Kein Bad. Er erinnerte sich an die Schilder im Flur und seufzte. Etagenbäder. Wie damals im College. Wenigstens hatte er keinen Mitbewohner.
An seinem Handgelenk summte es.
Schalten Sie den Fernseher ein!
Er sah eine Fernbedienung auf der Matratze liegen, setzte sich und schaltete den Fernseher ein, der so hoch angebracht war, dass er den Hals recken musste. Eine kleine Frau in einem weißen Poloshirt stand mit strahlendem Lächeln in einem Zimmer, das dem von Paxton ähnelte
.
»Hallo!«, sagte sie. »Willkommen in Ihrer ersten Unterkunft. Wie Sie bestimmt aus der Lektüre Ihrer Wohnbroschüre wissen, ist eine Höherstufung möglich, aber vorläufig sind Sie hier untergebracht. Wir haben Sie mit ein paar Basics ausgestattet, und Sie können einen Ausflug zu den Shops machen, um sich alles zu besorgen, was Sie sonst noch brauchen. In Ihrer ersten Woche in der MotherCloud sind Sie zu zehn Prozent Rabatt auf alle Wohn- und Wellnessartikel berechtigt. Anschließend bekommen Sie fünf Prozent Rabatt auf alles, was Sie über die Cloud-Website kaufen. Badezimmer und Toiletten finden Sie am Ende des Flurs – getrennt für Männer und für Frauen sowie geschlechtsneutral. Falls Sie etwas brauchen, kontaktieren Sie bitte Ihren Wohnbetreuer in Apartment R. Stellen Sie jetzt Ihre Sachen ab, und machen Sie einen Spaziergang, um sich mit Ihrer Cloud-Familie bekannt zu machen. Aber zuerst sollten Sie einen Blick auf Ihr Bett werfen.« Sie klatschte in die Hände. »Dort warten nämlich die Ihnen zugewiesene Aufgabe – und ein Shirt – auf Sie.«
Der Bildschirm wurde schwarz.
Paxton betrachtete die Pappschachtel, die auf der Matratze stand. Bisher hatte er sie gar nicht bemerkt, obwohl sie ganz offensichtlich vorhanden war. Er hatte sie nicht bemerkt, weil er sie nicht hatte sehen wollen.
Rot. Sei rot, bitte!
Oder irgendwas anderes außer blau.
Er griff nach der Schachtel und stellte sie sich auf den Schoß. Dachte ans Gefängnis. Kurz nachdem er dort eingestellt worden war, hatte er einen Bericht über das Stanford-Prison-Experiment gelesen. Dabei hatten Wissenschaftler mit mehreren Versuchspersonen ein Rollenspiel veranstaltet, in dem die einen Gefangene, die anderen
Wärter darstellten. Obwohl es sich um ganz normale Leute handelte, nahm jeder seine Rolle so ernst, dass sich die »Wärter« autoritär und grausam verhielten, während die »Gefangenen« sich Regeln unterwarfen, zu deren Befolgung sie eigentlich keinen Grund hatten. Das hatte Paxton auf mehreren Ebenen fasziniert, nicht zuletzt deshalb, weil er sich trotz seiner Uniform immer wie einer von den Häftlingen fühlte. Seine Autorität war wie ein zu großer Schuh, der ihm den Fuß wund rieb und herunterzupoltern drohte, wenn er einen zu großen Schritt machte.
Als er die Schachtel aufriss, fand er natürlich drei blaue Poloshirts vor.
Sie waren aus glattem Stoff wie bei Sportbekleidung und säuberlich gefaltet.
Lange saß er da und starrte die Shirts an, bevor er sie an die Wand warf, sich rückwärts aufs Bett sinken ließ und an die grobe Struktur der Decke starrte.
Er überlegte, ob er das Zimmer verlassen und rausgehen sollte, irgendwohin, konnte sich jedoch nicht dazu aufraffen. Deshalb griff er nach den Broschüren, die er im Bus bekommen hatte, und studierte noch einmal die Lohnstruktur. Je schneller er hier wieder herauskam, desto besser.