Zinni
a
Zinnia fuhr mit dem Zeigefinger über das Display der Uhr. So glatt, dass es schlüpfrig war. Als sie das Band anlegte, schnappte der Magnetverschluss über der dünnen Haut an der Innenseite ihres Handgelenks zu.
Nachts aufladen. Sonst nicht abnehmen, weil es Gesundheitsdaten aufzeichnete, Türen öffnete, dein Rating registrierte, Arbeitsaufgaben übermittelte, Transaktionen abwickelte und wahrscheinlich noch hundert andere Dinge tat, die man in der MotherCloud brauchte.
Genauso gut hätte man Handschellen tragen können.
Im Kopf wiederholte sie den Abschnitt aus der Anleitung, der ihren Blutdruck spürbar hatte steigen lassen.
Außerhalb Ihrer Wohnung muss das CloudBand zu jeder Zeit getragen werden. Es ist auf Sie codiert. Aufgrund der sensiblen Informationen, die auf jedem CloudBand gespeichert sind, wird im Sicherheitssystem von Cloud ein Alarm ausgelöst – für Sie auch hörbar –, wenn es zu lange abgelegt wird oder jemand anderes Ihr Band tragen sollte.
Sie warf einen Blick auf die Tür. An der Innenseite war eine Scheibe angebracht – selbst wenn man rauswollte, musste man das Band davorhalten. Wahrscheinlich sollte das dafür sorgen, dass man nicht ohne das Ding aus der Wohnung ging, da es als Schlüssel für alles diente, vom Aufzug über die Wohnungstür bis zu den Sanitäranlagen
.
Aber bestimmt ging es nicht nur darum, ob man es trug oder nicht – es registrierte, wo man sich gerade aufhielt. Wenn man den falschen Bereich betrat, leuchtete wahrscheinlich in einem abgedunkelten Raum ein Punkt auf einem Bildschirm auf und alarmierte irgendjemand, der davorsaß.
Sie betrachtete die roten Poloshirts, die sie aus der Schachtel auf ihrem Bett geholt hatte, und ärgerte sich wieder darüber, dass sie nicht braun gewesen waren.
Natürlich hatte sie über die Uhren Bescheid gewusst. Aber sie hatte gedacht, dass sie den Auswahlalgorithmus von Cloud durchschaut hätte. Entsprechend hatte sie ihre Antworten und ihren Lebenslauf darauf hin ausgerichtet, dem technischen Team zugeteilt zu werden. Dann hätte sie ausreichend Zugang zu allem gehabt, was sie brauchte.
Jetzt war das weniger der Fall.
Damit blieben ihr drei Optionen:
Erstens konnte sie die Uhr so manipulieren, dass ihr Aufenthaltsort nicht korrekt angezeigt wurde. Das war nicht unmöglich, aber begeistert war sie nicht davon. Sie war zwar gut in so was, aber eventuell nicht gut genug.
Zweitens konnte sie eine Möglichkeit finden, sich ohne die Uhr durch die Gegend zu schleichen. Allerdings wäre sie dann nicht in der Lage, irgendwelche Türen zu öffnen. Sie könnte nicht einmal aus ihrer Wohnung gelangen.
Drittens konnte sie beantragen, dem Wartungs- oder dem Security-Team zugewiesen zu werden. Dort hatte man den besten Zugang zu allen Bereichen. Sie hatte jedoch keine Ahnung, ob ein derartiger Antrag überhaupt möglich war.
Was bedeutete, dass ihr Auftrag sich wesentlich schwieriger gestalten würde als erwartet
.
Wieso sollte sie also nicht gleich anfangen, indem sie die Überwachungsmaßnahmen auf die Probe stellte?
Sie kniete sich vor die Scheibe an der Innenseite der Tür und strich mit den Fingern darüber. Überlegte, ob sie das Ding herunterreißen sollte, aber dann wurde wahrscheinlich ein Alarm ausgelöst. Deshalb hielt sie die Uhr davor, um die Tür zu öffnen, und stellte den Fuß in den Spalt, während sie sich zu dem Ladegerät für das CloudBand hinüberbeugte. Sie legte das Band auf die Matte und trat in den Flur.
Einen Moment lang hielt sie inne, bis ihr klar wurde, dass es einen merkwürdigen Eindruck vermittelte, einfach bloß dazustehen. Deshalb machte sie sich auf den Weg zu den Sanitäranlagen. Als sie gerade dort angekommen war, trat ein Fleischkloß in einem blauen Poloshirt und mit Tribal-Tattoos auf den Unterarmen aus dem Aufzug. In sicherem Abstand zu ihr blieb er stehen und hob die Hände zu einer Geste, die nur die Ruhe
ausdrückte. Offenbar war ihm klar, dass sein Erscheinungsbild andere Leute nervös machte.
»Miss?«, sagte er mit einer etwas dämlich klingenden Stimme. »Ohne Ihr CloudBand dürfen Sie Ihre Wohnung nicht verlassen.«
»Tut mir leid. Ist mein erster Tag hier.«
Er setzte ein verständnisvolles Lächeln auf. »Kann passieren. Dann will ich Sie mal wieder in Ihre Wohnung lassen, sonst sind Sie nämlich ausgesperrt.«
Sie ließ sich von ihm durch den Flur geleiten, wobei er respektvoll Abstand zu ihr hielt. Bei ihrer Wohnung angekommen, legte er kurz seine Uhr an die Scheibe, die daraufhin grün aufleuchtete. Anschließend trat er von der Tür zurück, als würde ein wilder Tiger dahinter lauern. Richtig süß war das
.
»Danke«, sagte sie.
»Kein Problem, Miss«, sagte er.
Sie sah zu, wie er den Flur entlangschlurfte, bevor sie wieder in ihre Wohnung trat. Sie nahm ihren Schminkbeutel zur Hand und kramte nach dem roten Lippenstift, den sie noch nie verwendet hatte. Schraubte den unteren Teil ab und zog einen Funkfrequenzdetektor heraus, etwa so groß wie ihr Daumen. Als sie die Taste an der Seite drückte, blinkte das grüne Licht auf, das unter anderem die volle Ladung anzeigte.
Sie führte das Gerät über jede Oberfläche im Raum. Vor dem Fernseher und der Deckenlampe wurde das Licht rot, was sie erwartet hatte, aber nirgendwo sonst. In den Belüftungsschlitzen und den Schränken war also nichts angebracht.
Als Nächstes öffnete sie die Tür und führte den Detektor am Rahmen entlang. Vor dem Schließblech wurde das Licht rot. Da war etwas, verborgen von dem dünnen Metall des Rahmens. Ein Thermalscanner? Ein Bewegungsdetektor? Sie nahm ihr CloudBand vom Ladegerät und legte es an. Überprüfte erneut die Tür. Kein rotes Licht. Legte das CloudBand auf das Ladegerät. Rotes Licht.
Das war es. Man konnte mit Fug und Recht annehmen, dass die Tür das Problem war. Irgendein Sensor darin konnte feststellen, wenn sie den Raum verließ, ohne die Uhr zu tragen. Wenn sie einen anderen Ausgang entdeckte, war das Problem gelöst.
Sie blickte sich im Raum um, der ihr jetzt noch kleiner vorkam, so klein wie ein Spielhaus für Kinder. Aber sie würde es schaffen. Vorher war allerdings noch eine kleine Erkundungstour angesagt. Sie legte das CloudBand an und schlenderte durch den leeren Flur zu den
Sanitäranlagen. Wählte die geschlechtsneutrale Tür – das Symbol war eine Kombination aus einem halben Männchen und einer halben, durch einen Rock gekennzeichneten Frau –, hinter der sie eine lange Reihe von Waschbecken, Toiletten und Urinalen vorfand. Eine der Toilettenkabinen war besetzt; unter der Tür waren Sneakers sichtbar. Nach Größe und Stil zu urteilen, gehörten sie wahrscheinlich einer Frau.
Zinnia ging zu einem der Waschbecken und griff nach dem Hahn. Er fühlte sich locker an. Sie zog kurz daran und hatte den Drehknauf beinah in der Hand. Sie trat zum nächsten Waschbecken, um sich kurz das Gesicht zu waschen. Blickte nach oben und stellte fest, dass der Raum eine abgehängte Decke hatte.
Gut.
Auf dem Weg zu den Aufzügen begegnete sie einer jungen Frau, hübsch wie eine Cheerleaderin, aber ganz zart. Das braune Poloshirt passte nicht recht zu ihrem schlanken Körper. Die ebenfalls braunen Haare waren zu einem schmerzhaft engen Pferdeschwanz gebunden. Die Frau richtete ihre Augen, groß wie die einer Comicfigur, auf Zinnia und fragte: »Bist du neu hier auf der Etage?«
Zinnia nahm sich zusammen. Das Gesetz des Nettigkeitenaustauschs verlangte, dass sie mit irgendwelchen Plattitüden reagierte.
»Stimmt«, sagte sie und zwang sich zu lächeln. »Bin gerade eingetroffen.«
»Willkommen«, sagte die Frau und bot ihr die Hand. »Ich bin Hadley.«
Zinnia schüttelte die Hand, die so zart wie ein kleiner Vogel war.
»Wie kommst du zurecht?«, fragte Hadley
.
»Gut«, antwortete Zinnia. »Viel Neues, weißt du, aber ich gewöhne mich ganz gut ein.«
»Tja, wenn du was brauchst, ich wohne in Q. Und in V ist Cynthia. Die ist hier auf der Etage so was wie die Chefin.« Hadley lächelte verschwörerisch. »Du weißt ja, wie das ist. Wir Mädels müssen zusammenhalten, oder?«
»Ach, ist das so?«
Hadley blinzelte. Einmal, zweimal. Dann nickte sie und lächelte noch breiter. Offenbar hoffte sie, damit von den ungesagten Worten abzulenken, die in der Luft hingen, was Zinnia sich als potenziell interessant einprägte.
»Tja, war nett, dich kennenzulernen«, sagte Hadley und drehte sich auf dem Absatz ihrer reizenden roten Schühchen um.
»Ganz meinerseits«, rief Zinnia ihr hinterher, während sie in den Aufzug trat. Die Begegnung kam ihr immer noch merkwürdig vor, und sie versuchte zu ergründen, woran das lag, aber kurz bevor sie unten anlangte, kam sie zu dem Schluss, dass Hadley einfach nur nett hatte sein wollen. Kein Grund zur Aufregung.
In der Eingangshalle angekommen, trat sie vor einen großen, frei stehenden Bildschirm, auf dem ein Plan des gesamten Campus zu sehen war.
Die Wohnbauten waren von Norden nach Süden in einer geraden Linie angeordnet: Sequoia, Maple, Oak. Im Norden von Sequoia befand sich eine tropfenförmige Anlage namens Live-Play, in der es laut Beschreibung Restaurants, Kinos und einen Haufen anderen Scheiß gab, wo die Leute sich betäuben konnten.
Die Bahn absolvierte einen ovalen Rundkurs. Sie hielt vor jedem der drei Wohnbauten. Verbunden waren diese außerdem durch eine Einkaufspassage, sodass man zu Fuß von Oak am einen zu Live-Play am anderen Ende
gelangen konnte. Bezeichnet wurde die Strecke als Promenade und war dem Anschein nach etwa eineinhalb Kilometer lang.
Anschließend machte die Bahn eine Kurve, um zwei weitere Gebäude anzusteuern, eines – Administration – mit der Verwaltung, dem Bankingtrakt und den Schulen, das andere – Care – mit den Gesundheitseinrichtungen und dem Krankenhaus. Dann führte die Bahn durch das riesige Warendepot, bevor sie das Aufnahmegebäude erreichte, wo sie bei der Ankunft aus dem Bus gestiegen waren. Von hier aus ging es schließlich zurück zu den Wohnbauten.
Auf dem Plan zu sehen waren außerdem Notfallgleise. Jedes Gebäude verfügte über mehrere Haltepunkte für einen Ambulanzshuttle, der auf direktem Weg zu Care gelangte. Über ein weiteres eigenständiges System wurden die Mitglieder des Wartungsteams zu den Solar- und Windanlagen transportiert und weiter an den Rand des Areals, wo sich die Anlagen für die Wasseraufbereitung, das Abfallrecycling und die Energieversorgung befanden.
Genau dorthin musste Zinnia gelangen.
Sie wandte sich von dem Bildschirm ab und machte sich auf den Weg. Um sich einen Eindruck von der Promenade zu verschaffen, wollte sie zuerst bis ans Ende von Oak gehen, um dann umzukehren und bis zu Live-Play vorzustoßen. Die Eingangshalle von Maple war aus nacktem, poliertem Sichtbeton gestaltet. Zinnia sah Türen zu einer Waschküche und einem Fitnessstudio, das gut ausgestattet zu sein schien, mit Hanteln, Maschinen und Laufbändern. Niemand war darin zu sehen.
Die Promenade präsentierte sich flughafenschick als wuchtige zweistöckige Halle, in der gelegentlich Aufzüge,
Rolltreppen oder Wendeltreppen eine Verbindung schufen. Zinnia kam an Fast-Food-Lokalen und Drogeriemärkten vorüber, an einem Feinkostladen, einem Nagelstudio, an Fußmassagesalons. Es gab viele solche Salons, in denen Leute mit roten, braunen oder weißen Poloshirts auf Liegesesseln ruhten, während Frauen in grünen Shirts ihnen die scheußlich nackten Füße massierten. In die Wände waren riesige Videoschirme eingebaut, deren Farbsättigung so hochgedreht war, dass Zinnia die Augen schmerzten, wenn sie den Blick darauf richtete. Es liefen Werbespots für Schmuck, Smartphones und Snacks.
Alles war aus poliertem Beton und Glas, das einen Blaustich hatte. Sämtliche Oberflächen hatten eine aggressive Wirkung. Zinnia stieg eine Treppe hoch und ging dann an der Außenwand entlang, die aus durchsichtigen Glasplatten bestand. Ihr Magen zog sich zusammen, als wäre sie in Gefahr, hinabzustürzen und schwer verletzt auf dem harten Boden aufzuschlagen. Sie kam an einer Rolltreppe vorüber, die außer Funktion war. Ihre Zähne waren hochgeklappt; in den Innereien standen Männer mit braunen Poloshirts, die sich nicht an einer Reparatur versuchten, sondern das Ganze beäugten, als müssten sie erst einmal herausbekommen, wie es funktionierte. An den Aufzügen hatten sich lange Schlangen gebildet.
Nachdem Zinnia den letzten Wohnbau durchquert hatte, kam sie in den zu Live-Play führenden Korridor, der in einem rechten Winkel abbog. Gesäumt war er von Videoschirmen und Restaurants, die ein bisschen exotischer waren als die Sandwich- und Suppenlokale im bisherigen Teil der Promenade. Tacos, Barbecue und Ramen, jeweils ein wenig umfangreiches Angebot. Die Leute
saßen auf Hockern und verzehrten mit gesenktem Gesicht ihre Mahlzeit.
Zinnia betrat den Taco-Laden und setzte sich an die Theke. Als der korpulente Mexikaner dahinter sie mit gehobenen Augenbrauen ansah, fragte sie auf spanisch, ob es Cabeza-Füllung gebe. Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf und deutete auf die kleine Speisekarte über ihm. Hühnchen, Schweinefleisch, aber auch Rindfleisch, das natürlich viermal so teuer war wie die beiden anderen Optionen. Sie entschied sich für drei Tacos mit Schweinefleisch, worauf sich der Mann an die Arbeit machte. Er warf vorgegartes Fleisch auf die Edelstahlplatte, um es aufzuwärmen, daneben drei Maistortillas.
Zinnia fummelte ihr Geld aus der Hosentasche und legte genügend zur Rechnungsbegleichung auf die Theke, dazu ein bisschen extra. Der Koch arrangierte das Fleisch samt einem Häufchen aus gehackten Zwiebeln und Koriander auf den Tortillas und servierte ihr den Teller. Daneben legte er eine kleine, schwarze Scheibe. Als er das Geld sah, schüttelte er den Kopf und sagte, er könne nicht herausgeben, worauf Zinnia mit der Hand wedelte und meinte, er könne den Rest behalten. Er grinste und nickte, klaubte das Geld von der Theke, sah sich kurz um und steckte es in die Tasche.
»¿Es tu primer día?«,
fragte er.
»Sí«,
sagte Zinnia.
Der Mann hinter der Theke lächelte, und sein Blick wurde weich. Wie der eines Vaters, der gerade etwas Enttäuschendes über eines seiner Kinder zu Ohren bekommen hatte. Er nickte bedächtig und sagte: »¡Buena suerte!«
Der Ton, in dem er ihr Glück gewünscht hatte, gefiel ihr nicht. Während er ihr den Rücken zuwandte, machte sie sich an die Tacos. Nicht die besten, die man ihr je
vorgesetzt hatte, aber ganz gut für einen Ort am Arsch der Welt. Als sie fertig war, schob sie den Teller über die Theke und winkte dem Koch zu, der den Gruß mit einem gequälten Lächeln erwiderte. Dann schlenderte sie den Korridor entlang, bis er sich zu einer großen Halle öffnete.
Live-Play roch nach frischem Fließgewässer. Offenbar machten die Luftfilter hier Überstunden. Die Umgebung erinnerte Zinnia ein bisschen an eine Shoppingmall beziehungsweise daran, wie solche Malls einmal ausgesehen hatten, bevor sie außer Mode gekommen waren. Als Kind hatte sie den Eindruck gehabt, dort gebe es alles, was sie sich je hätte wünschen können, an einem einzigen Ort. Live-Play hatte drei Ebenen, eine über und eine unter ihr, verbunden durch ein Wirrwarr aus Rolltreppen und Aufzügen. Größere Geschäfte und Boutiquen reihten sich die Wände entlang, von Laufstegen bot sich ein Blick hinunter in die Tiefe. Ein großer Teil der Halle wurde von einem Spielkasino in Anspruch genommen. Durch die Glaspaneele des Dachs sah man das matte Dunkelblau des Himmels.
Es gab einen englischen Pub und ein Sushi-Lokal – klar doch, Sushi, frischer Fisch ausgerechnet hier draußen. Und einen CloudBurger, wo das Essen angeblich ganz gut war und ein Stück Rindfleisch enthielt, das nicht so viel kostete wie ein richtiges Dinner.
Neben den Restaurants sah Zinnia eine Spielhalle im Retrodesign und einen moderner anmutenden Video-Reality-Raum. Ferner ein Kino, ein Nagelstudio, einen Massagesalon, einen Süßigkeitenshop. Die Sitzbereiche in der Mitte waren gut belegt, in den Läden herrschte ein reges Kommen und Gehen.
Als Zinnia an einem Feinkostladen vorüberkam, spürte sie einen Stich im Magen. Offenbar hatte sie noch
Hunger. Ein Stück Obst wäre nett gewesen, irgendetwas Frisches. Sie ging hinein und erforschte die kurzen Regalreihen, fand jedoch nur Packungen mit industriell verarbeiteten Lebensmitteln und gekühlte Getränke. Keine Äpfel, keine Bananen. Sie verließ den Laden und spazierte weiter, bis sie wieder auf die Retrospielhalle stieß, worauf sie ihre Suche nach Obst aufgab und in das Labyrinth aus schillernden und summenden Maschinen trat.
An allen Automaten waren kleine Metallscheiben angebracht. Zinnia suchte einen mit Münzbetrieb, fand jedoch keinen, weshalb sie wieder in die Halle trat und sich nach einem CloudPoint-Terminal umsah. Die waren überall. Von ihrem Standort aus konnte sie ein halbes Dutzend sehen.
Sie rief das Banking-Portal auf, worauf sie aufgefordert wurde, ihr CloudBand vor das Lesegerät zu halten. Der Bildschirm leuchtete auf – Willkommen, Zinnia!
–, und sie machte sich daran, das unter ihrem Pseudonym eingerichtete Konto zu verlinken, um Credits zu erwerben. Als sie tausend Dollar überwies, erhielt sie den Gegenwert von 994,45 Dollar. Während des gesamten Vorgangs studierte sie das Terminal, das wie ein üblicher Geldautomat aussah, groß, schwer und aus Kunststoff, mit einem Touchscreen ausgestattet. Buchsen, die Zugang boten, waren nicht zu sehen.
Am unteren Teil des Geräts befand sich eine verdeckte Konsole, die wahrscheinlich zumindest einen USB
-Anschluss enthielt und vielleicht auch irgendwelche anderen Elemente, an denen man herumpfuschen konnte, aber dabei ergaben sich gleich mehrere Probleme: Wie bekam sie den Deckel auf? Wie verhinderte sie, dass der Sensor ihr CloudBand registrierte? Und wie ging sie vor,
ohne dass jemand sie sah? Dennoch war das wahrscheinlich eine gute Möglichkeit, sich den Zugang zu verschaffen, den sie brauchte.
Sie scrollte auf dem Bildschirm herum und fand heraus, dass der aktuelle Stundenlohn für Sammler neun Credits betrug, was wohl etwa acht bis neun Dollar entsprach. Nachdem das geklärt und ihr Band nun aufgeladen war, kehrte sie in die Spielhalle zurück und streifte ein paar Minuten durch die leeren Gänge, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
Pac-Man. Die klassische Version. Erstmals im Jahre 1980 in Japan veröffentlicht. Der ursprüngliche Name lautete Puck Man,
abgeleitet von dem Geräusch eines rasch auf- und zuklappenden Mundes, das man auf japanisch offenbar mit paku-paku
wiedergab. Zinnia mochte Videospiele, und dieses war ihr liebstes.
Sie hielt ihr CloudBand an den Scanner und fing an, den kleinen, gelben Kreis so durch das Labyrinth zu bewegen, dass er sich die weißen Punkte schnappte, ohne mit den verschiedenfarbigen Gespenstern zu kollidieren. Während sie den Joystick nach links und rechts riss, knallte er so laut an die Umrahmung, als würde er gleich brechen.
Der Automat und alles andere, was sie umgab, wurden angeblich mit der Kraft von Sonne und Wind betrieben.
Angeblich.
Womit sie beauftragt war, wurde offiziell als Konkurrenzanalyse oder Wettbewerbsbeobachtung bezeichnet. Die romantische Bezeichnung dafür lautete Wirtschaftsspionage. Sie drang in die ausgebufftesten Sicherheitssysteme der diskretesten Unternehmen ein, um sich mit deren bestgehüteten Geheimnissen davonzumachen
.
Und sie war gut darin.
Mit Cloud hatte sie allerdings noch nie zu tun gehabt. Hätte nicht mal gedacht, dass es je dazu kommen würde. Das war, als wollte man den Mount Everest erklimmen. So wie die Dinge gerade lagen, war es aber eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen. Cloud saugte andere Unternehmen so schnell auf, dass bald niemand mehr übrig sein würde, der jemand anderes ausspionieren musste. Früher hatte sie alle paar Monate einen Auftrag an Land gezogen, was mehr als ausreichend gewesen war. In letzter Zeit hatte sie Glück, wenn sie einmal im Jahr zum Zuge kam.
Als sie den Auftrag angenommen hatte, hatte sie gemeint, es gebe nicht viel herauszufinden. Wahrscheinlich hatte sich jemand verrechnet, hatte sie gedacht. Dann aber hatte sie die Satellitenaufnahmen studiert. Die Gesamtfläche der Solaranlagen. Die Details der Sonnenkollektoren. Die Anzahl und die Leistung der Windturbinen. Da wurde ihr klar, dass ihre mysteriösen Auftraggeber recht hatten: Es war praktisch unmöglich, dass Cloud aus eigenen Mitteln die Energiemenge produzieren konnte, die zum Betrieb der Anlage nötig war.
Zu den Gründen, weshalb Cloud Steuerfreiheit genoss, gehörten die Öko-Initiativen des Unternehmens. Es hatte von der Regierung festgelegte Energienormen erfüllen müssen, um seinen Status zu erringen. Wenn da also etwas faul war, wenn die Infrastruktur vor Ort nicht für die nötige Energieerzeugung ausreichte, dann verwendete Cloud noch andere Quellen. Wahrscheinlich solche, die nicht grün waren. Was bedeutete, dass Millionen auf dem Spiel standen, wenn nicht gar Milliarden.
Das orangefarbene Gespenst war ihr auf der Spur. Um es abzuschütteln, bewegte sie Pac-Man auf Gassen durch
das Labyrinth, die sie großteils schon abgeräumt hatte. Dabei achtete sie darauf, nicht auf die anderen Gespenster zu stoßen, bis sie die größere Kraftpille erreichte, durch die sich die Rollen vorübergehend vertauschten. Die Gespenster wurden blau, und nun war Zinnia die Verfolgerin.
Aber wem nutzte das, was sie herausbekommen sollte?
Nicht dass sie das wissen musste, um ihren Auftrag zu erfüllen. Dennoch juckte die Frage sie immer wieder. Es konnte sich um Journalisten oder jene kritischen Organisationen handeln, von denen Cloud ständig an den Pranger gestellt wurde, unter anderem aufgrund der Arbeitsbedingungen und des Monopols im Internethandel. Die Nachrichtenmedien versuchten schon seit Jahren, Undercoverreporter einzuschleusen, aber die waren immer durch die Testalgorithmen aussortiert worden. Zinnia hatte einen ganzen Monat gebraucht, sich eine falsche berufliche Laufbahn zurechtzulegen, die so fundiert war, dass sie damit die Prüfung bestehen konnte.
Wahrscheinlich stammte ihr Auftrag allerdings von einer der großen Einzelhandelsketten, die Cloud ein bisschen zurechtstutzen wollte. Um den Marktanteil, den sie nach den Massakern am Black Friday verloren hatte, wenigstens teilweise wiederzugewinnen.
Inzwischen hatte Zinnia den Bildschirm weitestgehend abgeräumt und musste sich nur noch ein paar wenige Punkte in der linken Ecke schnappen. Sie machte sich auf den Weg.
Die Fakten sahen so aus: Um eine Anlage von dieser Größe und mit so viel Personal zu betreiben, brauchte man etwa fünfzig Megawatt. Die Leistung der Solar- und Windanlagen betrug jedoch fünfzehn oder höchstens zwanzig Megawatt, und Zinnia hatte den Auftrag
herauszubekommen, was da nicht stimmte. Dazu musste sie in die Infrastruktur eindringen. Sie hatte ein paar Monate dafür Zeit, und bis dahin war sie auf sich allein gestellt. Keinerlei Kommunikation mit ihren Auftraggebern, nicht einmal über die verschlüsselte App auf ihrem Handy. Schließlich hatte sie keine Ahnung, über welche Möglichkeiten Cloud verfügte.
Zinnia steuerte Pac-Man in eine neue Gasse, um zu den letzten Punkten zu gelangen. Die Gespenster verfolgten sie an beiden Flanken. Sie wollte nach links abbiegen, wusste jedoch, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würde. Wenige Sekunden später saß sie in der Falle. Das orangefarbene Gespenst stürzte sich auf den kleinen, gelben Kreis von Pac-Man, der quiekend und piepend in sich zusammensank und verschwand.