Gibson
Ich erinnere mich an viele Tage bei Cloud, aber am liebsten an den ersten. Daran erinnere ich mich, weil es der schwerste war. Jeder Tag danach war ein bisschen leichter.
Die Leute dachten, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank, so ein Unternehmen zu gründen. Wahrscheinlich wissen viele das gar nicht mehr, aber damals gab es eine andere Firma, die teilweise dasselbe tat wie wir heute, nur in wesentlich kleinerem Maßstab. Das Problem war, dass ihre Interessen zu stark am Boden hafteten.
Seit meiner Kindheit war ich besessen vom Himmel. Von seiner Weite. Als hätten wir diese gewaltige Ressource über unserem Kopf, ohne sie richtig zu nutzen. Klar, es gab Flugzeuge, die hin und her flogen, aber da verbarg sich scheinbar ein wesentlich größeres Potenzial.
Schon in jungen Jahren wusste ich, dass die Zukunft der Drohnentechnologie gehörte. Die Straßen waren verstopft von monströsen Lastwagen, die viel Platz beanspruchten und Gift in die Luft pusteten. Wenn es uns gelang, dieses Problem zu lösen, dann konnten wir eine Menge andere Probleme lösen. Verkehr, Umweltverschmutzung, tödliche Unfälle.
Wisst ihr eigentlich, was der Autoverkehr kostet? Vor etwa zehn Jahren, als er epidemische Dimensionen erreichte, waren das ungefähr 305 Milliarden Dollar an direkten und indirekten Verlusten in einem einzigen Jahr. Das hat das Institut für Wirtschafts- und Unternehmensforschung festgestellt.
Was aber bedeutet das? Zu den Verlusten gehören die Zeit, die man in einem Stau vergeudet, die Kraftstoffkosten, die Auswirkungen auf die Umwelt, die Instandhaltung der Straßen, die Unfalltoten. Massenverkehrsmittel sind nützlich, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Schon in meiner Jugend war die Infrastruktur unserer Massenverkehrsmittel zum großen Teil marode, und die Reparaturkosten waren astronomisch. Wir erinnern uns ja alle daran, wie das U-Bahn-System von New York endgültig zusammengebrochen ist. Seither hat die Stadt sich grundlegend gewandelt.
Die Lösung bestand darin, Drohnen nicht nur zu Spaß und Spiel in den Himmel zu senden.
Ich weiß noch, wie meine erste Drohne aussah. Das war ein läppisches kleines Ding, das nicht mehr als dreißig Meter weit kam, bevor es abstürzte. Es war eindeutig nicht so leistungsstark, dass es richtige Lasten transportieren konnte. Als die Mechanik jedoch mit der Zeit besser wurde und Drohnen mehr Gewicht tragen konnten, begann ich mich eingehender mit ihnen zu befassen und investierte schließlich in eine Firma, die sie herstellte – zu meinem Glück direkt bevor die besagte Firma richtig durchstartete, was mir einen netten Batzen Bargeld einbrachte.
Die Firma nannte sich WhirlyBird. Der Name war mir zuwider, aber die Leute da taten etwas echt Cleveres. Anstatt sich mit der vorhandenen Technologie zufriedenzugeben, dachten sie: Wenn wir mit unserem heutigen Wissen eine Drohne konstruieren würden, wie würden wir sie dann verbessern?
Sie fingen ganz von vorn an. Veränderten die Position der Motoren. Experimentierten mit neuen Materialien. Mit leichteren Kompositwerkstoffen. Die New York Times sprach von einer Technologie, die die Welt verändern werde. Und ich war verdammt stolz darauf, dass ich dazugehörte.
Von da an bedurfte es allerhand Lobbyarbeit bei der Bundesluftfahrtbehörde, um dafür zu sorgen, dass Flugzeuge und Drohnen gleichzeitig in der Luft sein konnten, ohne ineinanderzukrachen. Drohnen erreichen zwar keine große Höhe, könnten Flugzeugen aber beim Start und bei der Landung in die Quere kommen.
Ehrlich gesagt, war das verflucht kompliziert. Weniger wegen der Kollisionsgefahr, da haben die Jungs und Mädels bei WhirlyBird eine ziemlich gute Ortungstechnik entwickelt. Der Haken war, dass wir bei Cloud mit der Lieferung am Boden angefangen hatten, und als wir weitgehend zur Drohnenlieferung übergehen wollten, mussten wir uns mit der Bundesregierung auseinandersetzen. Das war ein echter Albtraum. Jahr um Jahr nichts als Probleme. Bis wir schließlich die Vereinbarung erzielten, selbst die Luftfahrtbehörde zu übernehmen. Wir haben sie privatisiert, mit tüchtigen Leuten ausgestattet – und sie wurde besser.
In der Zeit, die man zur Errichtung eines einzigen staatlich finanzierten Gebäudes braucht, kann man hundert in Privatbesitz befindliche Grundstücke bebauen. Das liegt an einem entscheidenden Unterschied: Ein privater Bauträger will Geld verdienen, während der Staat seine Angestellten und Beamten beschäftigen will. Was bedeutet, alles so lange wie möglich hinauszuziehen.
Übrigens meinen viele Leute, ich hätte mein Unternehmen Cloud genannt, weil die Drohnen so ein Bild abgeben, wenn sie von unseren Warendepots starten. Dann sieht man eine riesige Wolke aus Maschinen, mit denen Pakete in alle Richtungen geflogen werden. Aber ich habe Cloud gewählt, weil das meine Firmenphilosophie war.
Das drückte aus, dass der Himmel keine Grenze mehr darstellte.
Um zu jenem ersten Tag zurückzukommen: Da waren wir also, ich und Ray Carson. Ja, Ray war vom ersten Tag an dabei. Abgesehen davon, dass er einen breiten Rücken hatte, war er wirklich technikaffin, mehr als ich. Er war eine große Hilfe, weil er mir als Übersetzer dienen konnte, wenn jemand mir Begriffe mit mehr als drei Silben an den Kopf warf. Deshalb habe ich ihn zum Vizedirektor gemacht. Damals waren nur er und ich und ein paar wenige andere dabei. Als Erstes mussten wir eine Reihe von Firmen davon überzeugen, dass wir die Richtigen waren, ihre Waren auszuliefern. Wenn wir ein paar gute Unternehmen an Land ziehen und mit unserer Leistung zufriedenstellen konnten, würden weitere folgen, das wusste ich.
Wir haben ein Bürogebäude im Stadtzentrum gemietet, nicht weit von der Gegend, wo ich aufgewachsen bin. Das war wichtig für mich, weil ich eine Verbindung zu meiner Heimat aufrechterhalten wollte. Ich wollte nicht vergessen, wo ich herkam.
Wir kamen also in dieses Gebäude, und es war völlig leer. Ich kann noch heute, nach all den Jahren, beschwören, dass der Makler uns versprochen hatte, die Büros würden möbliert sein. Die Räume waren nicht groß – oder besonders hübsch –, aber sie reichten aus, und wir wollten uns die Mühe sparen, sie auszustatten. Aber als wir dann reinkamen, war alles ausgeräumt. Nichts als Wände und Böden und herabhängende Kabel, wo früher Lampen gewesen waren. Dabei hätte der bisherige Mieter, ein altes Wirtschaftsprüfungsunternehmen, seinen Kram dalassen sollen .
Stattdessen hatte man sogar die verdammten Kloschüsseln mitgenommen!
Ich rufe also den Makler an, einen Gauner, an dessen Namen ich mich leider nicht mehr erinnere, sonst würde ich ihn liebend gerne im ganzen Internet verbreiten. Er hat Stein und Bein geschworen, dass er niemals behauptet habe, die Räume würden möbliert sein. Tja, das war in meiner Jugend, als ich zwar etwas dynamischer war als heute, aber – wie soll ich sagen – auch leicht ablenkbar. Deshalb hatte ich nichts Schriftliches in den Fingern; das Ganze war nur durch Handschlag besiegelt worden.
Was für diesen Burschen offenbar nicht das Geringste zählte.
Da stehen ich, Ray und etwa ein Dutzend andere also herum und starren geschockt auf all die leeren Räume. In dem Moment ist Renee auf den Plan getreten, und zwar mit Macht. Renee hatte früher im Militär gedient und war so zäh und clever, wie man es sich nur wünschen konnte. Wenn man ihr erzählt hat, dass irgendwas nicht möglich sei, hat sie kurz drollig aufgelacht und einem erklärt: »Dann musst du’s eben möglich machen!« Ich habe viel von ihr gelernt.
Sie hängt sich ans Telefon und spricht mit Hinz und Kunz, um zu besorgen, was wir brauchen. Nach dem ganzen Geld, das ich für die Miete, die behördliche Anmeldung und allerhand andere Gründungskosten aufgewendet hatte, war mein Gewinn aus dem WhirlyBird-Investment praktisch aufgebraucht. Deshalb habe ich mich total auf Renee verlassen, und die hat doch tatsächlich herausbekommen, dass in der Nähe gerade eine Schule geschlossen worden war, weil man sie mit einer anderen Schule im Bezirk zusammengelegt hatte. Vor dem Gebäude hatte man massenhaft Möbel aufgestapelt, die entsorgt werden sollten.
Bingo! Ich gehöre nicht zu den Leuten, die extravagante Sachen brauchen. Das heißt, ich brauche keinen Schreibtisch, der höhenverstellbar ist, mir Kaffee kocht und mir sagt, wie gut ich aussehe. Alles, was ich brauche, sind ein Telefon, ein Computer, ein Schreibblock, ein Stift und ein Platz, wo ich mich hinsetzen kann. Mehr nicht.
Ich, Ray und ein paar von den anderen Männern pilgern also zu besagter Schule, und davor liegt tatsächlich ein ganzer Haufen Kram. Wir haben einfach alles mitgenommen, weil ich in dem Moment nicht wählerisch sein wollte. Schließlich wusste ich nicht genau, wie viel wir davon überhaupt brauchten. Deshalb dachte ich mir, wir schnappen uns einfach alles, was wir tragen können, und schauen, ob damit etwas anzufangen ist.
Unter anderem standen da mehrere Lehrertische, tonnenschwere Kolosse, die aber nicht für uns alle ausreichten. Dafür fanden wir eine Menge Schultische, die Sorte, bei der man die Platte hochklappen kann, um im Innern etwas aufzubewahren. Von denen gab es Dutzende. Wir stellten jeweils drei nebeneinander und schraubten sie zusammen.
Diese Konstruktion nannten wir Drillinge. Ich reservierte mir selbst so etwas, weil ich es wichtig fand, keinen von den monströsen alten Lehrertischen zu nehmen. Die Leute sollten keinen falschen Eindruck bekommen, wie es bei uns lief, und denken, dass ich eine Extrawurst brauchte. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte jeder einen Drilling genommen, aber Ray hat sich in einen von den großen Tischen verliebt, die wir herübergezerrt hatten. Wenn er nachdachte, legte er gern die Füße hoch, deshalb habe ich ihn gewähren lassen.
Ich habe meinen Drilling aufbewahrt, unten im Keller meines Hauses. Und wenn ihr unsere Konzernzentrale besucht, werdet ihr sehen, dass dort immer noch jeder an so einem Tisch arbeitet. Bei uns gibt es keine aus einem einzelnen Baum gesägten Mahagoniplatten für zehntausend Dollar. Mit der Zeit mochte ich die Drillinge richtig, weil ich glaube, dass sie uns als Mahnung dienen können. Demütig bleiben! Niemand braucht einen großen, noblen Schreibtisch außer Leuten, die einem vorgaukeln wollen, sie wären wichtiger, als sie es tatsächlich sind.
Vorgefunden haben wir außerdem eine Menge ausrangierte EDV -Geräte. Bei uns hat ein junger Bursche gearbeitet, Kirk, ein echtes Genie. Der hat praktisch das ganze Zeug genommen und daraus ein kapitales Computernetzwerk gebastelt, damit wir in die Gänge kommen konnten.
Ich glaube, genau so etwas musste einfach passieren. Es war unser erster echter Test.
Der eigentliche erste Test hatte darin bestanden, dass ich die Idee für die Firma hatte und genügend Leute davon überzeugen konnte, ich sei in der Lage, so etwas durchzuziehen. Das jedoch war unser erster Praxistest. Einer von jenen Momenten, wo viele Leute die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und erklärt hätten, jetzt wären sie erledigt. Mein Team hingegen hat sich auf die Hinterbeine gestellt und eine Lösung für unser Problem gefunden.
Wie ich mich erinnere, war die Sonne schon lange untergegangen, als wir endlich fertig waren. Ich ging mit Ray in die Kneipe, die wir manchmal aufsuchten. The Foundry hieß sie. Wir waren beide völlig kaputt und hievten uns wie alte Männer auf die Barhocker. Jetzt war es angebracht, ein bisschen zu feiern, mit einem schönen Glas Scotch oder so. Deshalb zog ich mein Portemonnaie aus der Tasche, musste aber feststellen, dass es leer war – ich hatte zuvor an jenem Tag alle zum Mittagessen eingeladen. Und meine Kreditkarten waren ausgereizt.
Ray, Gott segne ihn, legte seine Karte auf den Tresen und bestellte zwei Scotch on the rocks für uns. Da er seine Kreditkarten jedoch ebenfalls beinahe ausgereizt hatte, nahmen wir den billigsten Scotch im Haus, der wie brennende Batteriesäure schmeckte.
Bis heute der beste Drink, den ich je hatte.
Bevor wir uns frühzeitig auf den Heimweg machten – glaubt mir, wir waren keine Typen, die gerne mal versumpften, vor allem nicht, wenn wir am nächsten Morgen wieder zur Arbeit mussten –, klopfte Ray mir auf den Rücken und sagte: »Ich glaube, das ist der Anfang von irgendwas.«
Es fällt mir schwer, es zuzugeben, vor allem weil damals alle so viel Vertrauen in mich setzten, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Als ich in jener Kneipe hockte und an meinen Schultisch und unser Computernetzwerk dachte, das jederzeit den Geist aufgeben konnte, hatte ich fürchterliche Angst. Ich hatte die ganzen Leute sozusagen davon überzeugt, dass ich nicht völlig meschugge sei, und jetzt waren sie von mir abhängig.
Ray hat mir geholfen, den toten Punkt zu überwinden. Von Anfang an. Ich habe keine Geschwister, aber ich habe Ray, und das ist das Nächstbeste.