Zinni a
Zinnia schlüpfte in Jeans und ein rotes Poloshirt. Als sie sich hinsetzte, um sich Schuhe anzuziehen, stellte sie fest, dass sie zwei nicht gerade tolle Auswahlmöglichkeiten hatte.
Sie hatte ein Paar robuste Stiefel mitgebracht, weil sie geglaubt hatte, dem technischen Team zugeteilt zu werden, und ein Paar Ballerinas mit so dünner Sohle, dass es kaum mehr als Socken waren. Die mochte sie, weil man sie zusammenrollen und in die Handtasche stecken konnte, aber für einen Job, bei dem man viel stehen und gehen musste, waren sie absolut nicht geeignet. Außerdem fühlte sich ihr Knöchel, den sie sich einen Monat zuvor in Bahrain verstaucht hatte, immer noch ein bisschen wacklig an. Er musste gestützt werden, weshalb sie sich für die Stiefel entschied.
Sie nahm das CloudBand von der Ladematte und legte es an, worauf es summte. Guten Morgen, Zinnia, verkündete es.
Anschließend: Ihre Schicht beginnt in 40 Minuten. Sie sollten bald aufbrechen.
Anstelle der Worte erschien ein pulsierender Pfeil, der auf die Tür zeigte. Zinnia blieb stehen und drehte sich im Kreis. Der Pfeil drehte sich so mit, dass er immer auf die Tür gerichtet blieb. Als sie in den Flur trat, summte das Ding an ihrem Handgelenk wieder, und der Pfeil drehte sich nach links, wo sich die Aufzüge befanden.
Sie folgte dem Pfeil bis zum Bahnsteig, wo eine große Menschenmenge wartete. Man sah ein ganzes Spektrum an Shirtfarben, hauptsächlich jedoch rot. Eine Bahn fuhr ein, füllte sich und setzte sich wieder in Bewegung. Zinnia wartete zwei weitere ab.
Als sie es schließlich in die vierte schaffte, füllte diese sich, bis Zinnia Schulter an Schulter mit den anderen Fahrgästen stand, die alle den Pendler-Shuffle tanzten. Die Ellbogen eng an den Körper gelegt, verlagerten sie ihr Gewicht mit jeder Bewegung der Bahn, um nicht umzufallen.
Alle, die am Warendepot ausstiegen, waren jung und wirkten fit. Keine älteren Leute, keine Dicken, niemand mit einer sichtbaren Behinderung. Alle marschierten zum Ende der langen Schlange, die sich auf einer mit Pfosten und Bändern markierten Zickzackroute durch einen großen Raum bewegte.
Am vorderen Ende der Schlange waren drei Drehkreuze mit Metallarmen, durch die man nur einzeln treten konnte, nachdem man sein CloudBand vor die vorn angebrachte Scheibe gehalten hatte.
In die Wände waren mehrere Bildschirme eingebaut, auf denen simultan ein Videoclip lief. Ein Mann beugte sich zu Boden, um einen Karton aufzuheben, wobei er einen krummen Rücken machte. Ein Buzzer schnarrte, und ein rotes X legte sich über das Bild. Dann derselbe Mann, der nun in die Knie ging und den Rücken durchdrückte. Es machte ping, begleitet von einem grünen Haken.
Als Nächstes ging eine Frau mit einem Karton in den Händen ruhig zu einem Förderband. Das Bild erstarrte, und man sah den Hinweis Eile mit Weile!
Dann trug ein Mann einen Karton, der offenbar recht schwer war. Informieren Sie einen Manager, wenn Sie nichts heben können, was mehr als 12   Kilo wiegt .
Schließlich kletterte eine Frau wie ein Äffchen an der Seite eines Regals empor. Buzzer. Rotes X. Legen Sie immer Ihren Sicherungsgurt an!
Nachdem Zinnia das Drehkreuz hinter sich gebracht hatte, gelangte sie durch einen Flur in einen Raum, der so gewaltig war, dass ihr ein bisschen schwindlig wurde. Nicht leicht, das alles zu verarbeiten.
Regalreihen erstreckten sich in die Ferne, so weit das Auge reichte. Der Raum hatte tatsächlich eine Horizontlinie. Von ihrem Standort aus konnte Zinnia keine Außenwände erkennen, nur gewaltige Pfeiler, die eine unerwartet niedrige Decke stützten. Drei Stockwerke, höchstens vier.
Die Regale wiederum waren doppelt so hoch wie Zinnia und in ständiger Bewegung. Während sie über den polierten Betonboden glitten, drehten sie sich umeinander und tauschten die Plätze. Dazwischen eilten Männer und Frauen in roten Poloshirts hin und her, um Artikel herauszuholen. Durch das Ganze schlängelten sich gelb markierte Förderbänder, auf deren Rollen die Waren vorübersausten.
Das Ächzen von Metall, das Klatschen der Schuhsohlen und das leise Summen der Maschinen verschmolzen zu einer chaotischen Symphonie. Es roch nach Maschinenöl, Reinigungsmitteln und noch etwas anderem. Ach ja, Turnhallenmief, geschaffen von Schweiß, Deo und Gummisohlen. Die Luft war zugleich kühl und etwas feucht.
Reglos stand Zinnia da und betrachtete die große Maschinerie, die um sie herumtanzte, ohne auf sie zu achten, fast wie zum Selbstzweck.
An ihrem Handgelenk summte es. Wieder ein Pfeil. Er forderte sie auf, geradeaus zu gehen, bis es wieder summte und der Pfeil nach rechts zeigte. Zinnias Blick sprang zwischen der Uhr und ihrer Umgebung hin und her. Sie musste aufpassen, damit sie den durch die Gegend flitzenden Sammlern und den sich drehenden Regalen ausweichen konnte. Immer wieder musste sie abrupt stehen bleiben, um nicht umgestoßen zu werden und auf den Hintern zu fallen.
So viel zu Eile mit Weile .
Nachdem sie mehrmals abgebogen war, wurde ihr klar, dass das Summen sich je nach der angezeigten Richtung unterschied. Wenn sie nach rechts gehen sollte, summte die der Hand zugewandte Seite der Uhr; vor und zurück wurde angezeigt, indem das Ding oben beziehungsweise unten summte. Es dauerte eine Weile, bis Zinnia das korrekt wahrnahm, aber sobald das der Fall war, konnte sie es nicht mehr ignorieren. Bald schlug sie automatisch die gewünschte Richtung ein, ohne einen Blick auf die Uhr werfen zu müssen.
»Ziemlich cool, was?«
Sie war entweder an der Rückwand angelangt oder an einer frei stehenden Struktur in der Mitte des Warendepots. Erkennbar war das nicht.
An der Wand lehnte ein junger Latino. Kräftig, muskulöse Unterarme, schwarze Locken.
»Miguel«, sagte er und reichte ihr die Hand. Sein Uhrband war aus Stoff und so dunkelgrün wie frische Blätter. »Ich soll dir helfen, dich einzugewöhnen.«
»Zinnia«, sagte sie und schüttelte ihm die Hand, deren Haut rissig und mit Schwielen überzogen war.
»Okay, mi amiga, offenbar hast du schon gecheckt, wie man die richtige Richtung findet. Machen wir also einen kleinen Rundgang, damit ich erklären kann, wie alles funktioniert. Und dann geht’s los. «
Zinnia hob die Hand mit ihrer Uhr. »Das Ding ist also wirklich lebenswichtig, was?«
»Mehr braucht man zum Zurechtkommen nicht. Mir nach!«
Miguel drückte sich von der Wand ab und schritt an ihr entlang. Links dehnte sich das riesige Warenlager aus, rechts kamen sie an den Eingängen von Büros, Pausenräumen, Toiletten vorüber. An den langen Wandstücken dazwischen waren Bildschirme angebracht, auf denen das Video lief, das Zinnia von der Busfahrt her kannte.
Die junge Mutter, die ihrem Sohn ein Pflaster aufs Knie klebte.
»Wenn es Cloud nicht gäbe, wüsste ich ehrlich gesagt gar nicht, was ich tun soll.«
Dann kamen weitere Clips. Leute, die glückselig strahlend bei Cloud arbeiteten. Sie holten einen Artikel nach dem anderen aus großen Boxen und legten sie auf Laufbänder. Dazwischen Kommentare von zufriedenen Kunden.
Ein Student mit asiatischen Gesichtszügen, der in einem Wohnheimzimmer saß.
»Ich hätte meine Zwischenprüfung nie bestanden, wenn ich das Lehrbuch nicht rechtzeitig bekommen hätte.«
Ein schwarzes Mädchen vor einem baufälligen Haus.
»In meiner Nachbarschaft gibt’s keine Buchläden und Bibliotheken. Wenn es Cloud nicht gäbe, hätte ich überhaupt keine Bücher. «
Ein betagter weißer Mann in einem altmodischen Wohnzimmer.
»Inzwischen fällt es mir schwer, einkaufen zu gehen. Vielen Dank, Cloud!«
»Willkommen auf der Tanzfläche!«, sagte Miguel und breitete die Arme aus. »So nennen wir das hier. Die ganzen netten Leute, die man sieht, sind Rote.« Er zupfte am Stoff seines Poloshirts. »Die Weißen sind die Manager. Sie streifen durch die Gegend, um alles im Auge zu behalten. Ach ja, wenn du ein Problem hast, drückst du einfach auf die Krone deiner Uhr und sagst Manager . Dann wird einer zu dir geschickt, der in der Nähe und gerade frei ist.«
Zinnia warf einen Blick auf ihre Uhr. Fragte sich, ob die nur dann zuhörte, wenn man auf die Krone drückte. Wahrscheinlich nicht.
»Also, der Job ist ziemlich einfach«, sagte Miguel. »Ernsthaft, das CloudBand macht die meiste Arbeit für dich. Es zeigt an, wie du zu einem Artikel gelangst. Sobald du ihn rausgenommen hast, wird der Weg zu einem bestimmten Förderband angezeigt. Dort legst du den Artikel ab. Zack, der nächste. Das machst du neun Stunden lang. Zweimal fünfzehn Minuten Pause, um aufs WC zu gehen, plus eine halbe Stunde fürs Mittagessen.«
»Das heißt, man kann nicht einfach pinkeln gehen?«, sagte Zinnia.
»Lass mich mal die gelbe Linie vorführen, mi amiga .« Miguel hob seine Uhr und tippte aufs Display. Am unteren Rand lief eine feine grüne Linie entlang. »Sieht ziemlich harmlos aus, aber sobald du mit der Arbeit anfängst, wird da deine Leistung registriert. Grün heißt, dass du das Soll erfüllst. Wenn du hinterherhinkst, wird die Linie gelb, und sobald sie rot wird, stürzt dein Ranking ab. Pass also auf, dass es gar nicht erst dazu kommt.«
»Die sind geradezu besessen von ihren Farben, was?«
Miguel nickte. »Massenhaft Leute hier sprechen kein Wort inglés . Aber zurück zu deiner Frage. Wenn man zu viel Zeit auf der Toilette verbringt, kommt man in Verzug. Da reißt man sich besser zusammen. Ach, und was die Pausen angeht …« Er blieb stehen und hob eine Augenbraue, als wollte er das, was kam, betonen. »Wie gesagt hat man eine halbe Stunde fürs Mittagessen. Wenn man aber gerade irgendwo im Hinterland steckt, braucht man unter Umständen zwanzig Minuten zum nächsten Pausenraum. Eigentlich soll der Algorithmus so was verhindern, aber es kommt trotzdem vor. Mein Rat: Die Energieriegel aus den Automaten sind ziemlich nahrhaft. Steck dir immer einen in die Gesäßtasche. Schließlich braucht man genügend Kalorien.«
»Was ist mit Wasser?«
Miguel zuckte die Achseln. »Wasserspender gibt’s überall. Trink unbedingt reichlich davon. Man möchte es nicht glauben, weil hier so viel Platz ist, aber manchmal wird es brütend heiß.« Er warf einen Blick auf ihre Füße und schnitt eine Grimasse. »Und besorg dir Sneakers. Bestellen kannst du die gleich heute Abend. Wenn du ein paar Stunden in den Stiefeln da rumgelaufen bist, weißt du, warum.«
»Ja, hab ich mir schon gedacht«, sagte Zinnia. »Man holt also irgendwelches Zeug und legt es aufs Förderband. Was ist mit den größeren Sachen?«
»Die sind in einem anderen Bereich«, sagte Miguel. »Da kommt man bloß hin, nachdem man eine Weile hier verbracht hat. Am Anfang bleibt man strikt unter neun Kilo. Moment …«
Er hob den Arm, ohne Zinnia zu berühren, aber doch so nah, dass sie stehen blieb. Eine junge Frau in einem roten Shirt flitzte vorüber. Kaum dass Zinnia sie aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Die Haare peitschten der Frau um den Kopf, während sie verbissen mit irgendeinem Artikel unter dem Arm dahinrannte. Ihr Gesicht war puterrot vor Anstrengung, vielleicht hatte sie auch geweint. Sie erreichte eine Ecke, bog ab und war verschwunden.
»Wo brennt’s denn?«, fragte Zinnia.
»Die ist bald am Ende ihrer Schicht«, sagte Miguel. »So wie der Algorithmus funktioniert, sollte man eigentlich genug Zeit haben, zum nächsten Artikel zu gehen, ihn herauszunehmen und zu einem Förderband zu bringen, alles in flottem, aber bedachtsamem Schritt, stimmt’s oder hab ich recht? Leider klappt das nicht immer, weil die Bugs irgendwas umsortiert haben. Dann ist es nicht am richtigen Platz, und man verliert Zeit, weil man danach suchen muss. Deshalb muss man am Ende der Schicht manchmal hetzen, um wieder auf die grüne Linie zu kommen.« Er deutete auf einen jungen Mann, der einen Gang entlangrannte und weiter hinten verschwand. »Wenn du zu oft arg in Verzug gerätst, geht dein Rating in den Keller.«
»Was sind denn Bugs?«, fragte Zinnia.
Miguel trat in einen Gang und winkte sie zu sich. Er führte sie zu einem Regal, ging in die Hocke und zeigte auf etwas, was sich darunter befand. Eine kleine, gelbe Halbkugel auf Rädchen, die an der Unterseite des Regals befestigt war. Dann zeigte er auf einen der Sticker mit Barcodes, die auf dem Beton klebten .
»Die gelben Dinger, von denen die Regale verschoben werden, nennen wir Bugs«, sagte er. »Na, wie wär’s jetzt mit unserem ersten Auftrag, damit du ein Gefühl dafür bekommst?«
»Klar.«
Miguel hielt seine Uhr vor den Mund und drückte auf die Krone. »Vorbereitung abgeschlossen, weiter zu Schritt zwei.«
Am Handgelenk von Zinnia summte es. Wieder ein Pfeil. Miguel hob die Hand und verbeugte sich.
»Nach dir, mi amiga
Zinnia verließ sich auf das Summen der Uhr, um ihren Weg zu finden. Allmählich wurde ihr klar, wie wichtig ein Leitsystem war, bei dem man nicht ständig nach unten schauen musste. Zwischen den durch die Gegend rollenden Regalen, den hin und her flitzenden Roten und den Förderbändern konnte man leicht auf die Schnauze fallen, wenn man nicht aufpasste.
»Du bist ’ne echte Naturbegabung«, sagte Miguel.
»Nichts für ungut, aber wieso werde ich eigentlich von dir eingewiesen und nicht von einem Manager?«
»Die Manager habe was Wichtigeres zu tun.« Sein Ton ließ erkennen, dass er erhebliche Zweifel daran hegte. »Was ich gerade tue, ist freiwillig. Man kriegt im Prinzip gar nichts dafür, außer dass man ein, zwei Stunden nicht durch die Gegend rennen muss. Ich mach es gern, vor allem wenn jemand so fix wie du ist. Die meisten Leute kapieren das mit dem Leitsystem erst am Ende ihrer ersten Schicht.«
Zinnia wich einem Regal aus, das sich in den Weg schob. »So schwer kommt mir das gar nicht vor«, sagte sie.
»Du wirst dich noch wundern. «
Wahrscheinlich eher nicht, dachte Zinnia.
»Wie lange bist du denn schon hier?«, fragte sie.
»Bald fünf Jahre.«
»Und wie gefällt es dir?«
Lange Pause. Zinnia wagte einen Seitenblick. Miguel zog ein Gesicht, als würde er auf etwas Weichem und Unangenehmem herumkauen. Da Zinnia ihn unverwandt ansah, zuckte er die Achseln. »Es ist ein Job.«
Die Antwort reichte. Zinnia dachte schon, das sei es gewesen, aber dann fuhr er fort. »Mein Mann will, dass ich den Managertest mache. Um aufzusteigen. Aber mir ist es ganz recht so, wie es ist.«
Zinnia überlegte, wie es sich mit den Managern verhielt. Das Zahlenverhältnis war extrem. Sie sah Hunderte Leute in Rot, aber nur gelegentlich Männer oder Frauen in Weiß, die ein Tablet in der Hand hielten und durch die Gegend marschierten, als müssten sie dringend irgendwohin.
»Als Manager steht man wahrscheinlich nicht ganz so unter Druck, kann ich mir vorstellen«, sagte Zinnia.
»Und man verdient mehr. Aber ich weiß nicht recht …« Miguel sah Zinnia an, während er langsam weitersprach. Sorgsam die Worte wählte. »Die haben so ein Programm, Regenbogen-Allianz heißt das. Da geht’s angeblich um die Förderung von Minderheiten. Darum, dass wir mehr Aufstiegschancen haben. Diversität. Aber ich weiß nicht, wie erfolgreich das ist. Die meisten, die Weiß tragen … die passen perfekt zu ihrem Shirt, wenn du verstehst, was ich meine.«
Zinnia nickte verschwörerisch.
»Du bist auch ’ne Latina, oder …?«, sagte Miguel, dann schüttelte er den Kopf und machte ein langes Gesicht. »Tut mir leid, so was sollte ich eigentlich nicht fragen. «
Keine Sorge, drückte das Lächeln von Zinnia aus. »Von meiner Mutter her.«
»Dann solltest du drüber nachdenken, dich zu bewerben.«
Wieder summte die Uhr, jetzt mehrmals in schneller Abfolge. Als Zinnia den Blick senkte, stand auf dem Display 8495-A . Sie hob den Kopf und sah denselben Code auf dem Regal vor ihr.
»Okay«, sagte Miguel. »Tipp jetzt aufs Display.«
Das tat Zinnia, worauf die Anzeige sich änderte.
Box 17.
Elektrischer Rasierapparat.
Dann das Foto eines Elektrorasierers in einer Blisterverpackung.
»Siebzehn?«, sagte Zinnia.
»Ganz oben auf dem Regal«, sagte Miguel. »Moment …« Er zog ein Bündel aus der Hosentasche. »’tschuldigung, das hätte ich dir gleich am Anfang geben sollen. Der Sicherungsgurt.«
Als Zinnia sich den Gurt um die Taille legte, entdeckte sie einen Karabinerhaken. Sie zog daran, worauf ein Nylondraht aus dem Gurt kam. Er war dünn und geschmeidig, und ihr fielen sofort massenhaft Verwendungsmöglichkeiten dafür ein. Zum Beispiel konnte man damit verhindern, dass man in Bahrain hinknallte und sich den Knöchel verstauchte.
»Da einklinken«, sagte Miguel, nahm ihr den Karabiner aus der Hand und befestigte ihn an der Metallöse direkt über ihrem Kopf. Die Schiene, die das Regal hinauflief, wies mehrere solcher Ösen auf. »Wobei, ehrlich gesagt, in ein paar Tagen wirst du das Ding nicht mehr verwenden. Dauert zu lange. Wenn ein Manager in der Nähe ist, hakt man’s natürlich ein, sonst bekommt man ein Minus. Dreimal minus, und schon ist ein ganzer Credit futsch.«
Du lieber Himmel, was für ein System! Zinnia kletterte an der Seite des Regals hinauf, wobei sie die einzelnen Bretter wie Leitersprossen verwendete. Sie sah die Box, griff sich eine von den scharfkantigen Plastikverpackungen mit dem Rasierapparat, der auf dem Display abgebildet gewesen war, und sprang zu Boden. Die Uhr summte und präsentierte einen Smiley.
»Das heißt wohl, dass ich es richtig gemacht habe«, sagte sie und hielt Miguel das Display unter die Nase.
Er nickte. »Alles ist mit einem Chip versehen, deshalb kriegt man gleich mitgeteilt, wenn man das Falsche rausgenommen hat. Die Sachen sind ganz clever einsortiert, man legt nämlich normalerweise nichts nebeneinander, was leicht verwechselt werden kann. Allerdings kommt es auch mal zu Fehlern. Und jetzt …«
Die Uhr summte und führte Zinnia von dem Regal weg zu einem langen Gang. Den gingen sie entlang, bis sie zu einem Förderband kamen. Nun summte die Uhr wieder mehrfach.
Unter dem Band standen ineinandergestapelte Plastikbehälter. Sie nahm einen, legte den Blister hinein, setzte den Behälter aufs Band und sah ihn davonsausen, bis er verschwunden war.
»Auf zum Nächsten«, sagte Miguel.
»Ist das schon alles?«
»Richtig. Wie schon gesagt, weil du neu bist, brauchst du die ersten paar Wochen nur kleinere Sachen zu holen. Je länger man hier ist, desto anstrengender wird die Arbeit. Sachen mit mehr Gewicht, oder man wird zum Einsortieren eingeteilt. Das heißt, man schleppt die Artikel von da, wo sie eingetroffen sind, zu der vorgesehenen Regaleinheit. Noch eine Warnung: Wenn jemand sich in ein Regal eingehakt hat, sollten die Bugs sich eigentlich nicht bewegen, aber da wir uns nicht immer einhaken … tun sie es manchmal doch, und dann ist das wie beim Rodeo.«
»Und was jetzt?«
Miguel warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir haben offiziell noch eine Stunde Zeit, wo du mir Fragen stellen kannst. Wie wär’s, wenn wir zu einem Pausenraum rübergehen und einen Schluck Wasser trinken? Gibt ja nur ziemlich selten Pausen hier. Da nimmt man, was man kriegen kann.«
»Gern«, sagte Zinnia. Sie hätte sich zwar lieber gleich an die Arbeit gemacht – bei einer derart hirnlosen Tätigkeit konnte sie bestimmt gut nachdenken –, aber von Miguel erfuhr sie womöglich weitere Dinge, die nützlich sein konnten.
Miguel hatte nicht übertrieben; der Weg zum nächsten Pausenraum war weit. Sie brauchten eine Viertelstunde bis dorthin. Zinnia konnte sich noch nicht richtig orientieren, aber Miguel schien sich auszukennen. Auf halbem Wege erklärte er ihr, sie brauche nur Pausenraum in ihre Uhr zu sprechen, dann werde sie zum nächstgelegenen geleitet.
Als sie ankamen, war der Raum weitgehend leer. An einer der Wände waren Automaten aufgereiht, von denen zwei außer Funktion waren, davor standen Tische mit daran fixierten Hockern. An der Wand wurde in großen Lettern verkündet: Alles ist möglich, wenn du es möglich machst!
Miguel zog zwei Flaschen Wasser aus einem der Automaten und stellte sie auf einen Tisch. Während Zinnia sich setzte, schob er ihr eine Flasche zu.
»Danke«, sagte sie und knackte den Schraubverschluss.
»Ich kann’s nur betonen«, sagte er. »Sorg dafür, dass du genügend trinkst. Wenn jemand schlappmacht, liegt das meist am Wassermangel. Dehydrierung.«
Zinnia nahm einen Schluck. Das Wasser war so kalt, dass ihre Zähne schmerzten.
»Gibt es sonst noch was, was ich wissen sollte?«, fragte sie.
Miguel sah sie an. Blinzelte mehrfach. Als wollte er ihr etwas mitteilen, sei sich jedoch nicht sicher, ob er ihr vertrauen könne.
Sie versuchte, sich etwas im Sinne von he, ich bin cool einfallen zu lassen, bis er schließlich sagte: »Trink immer genug. Erfüll dein Soll. Beschwer dich nicht. Wenn du dir mal was zerrst, mach einfach weiter, dann geht das schon weg. Je weniger du mit den Managern zu tun hast, desto besser.« Er zog sein Handy aus der Tasche, tippte etwas und zeigte es ihr.
Das Wort Gewerkschaft ist total tabu.
Zinnia nickte. »Kapiert.«
Miguel löschte den Satz von seinem Handy. »Wie kommst du mit deinem Apartment zurecht?«
»Mit dieser Schuhschachtel?«
»Man muss vertikal denken. Ich hab mir Drahtkörbe bestellt und an die Decke gehängt. Da kann man allerhand unterbringen.«
»Wohnst du etwa immer noch in so was?«, sagte Zinnia. »Soweit ich verstanden habe, bist du verheiratet.«
»Wir kommen zurecht. «
»Ich dachte, dass man eine bessere Wohnung bekommen kann.«
»Kann man, aber das ist teuer«, sagte Miguel. »Mein Mann und ich – er hat sich den Knöchel gebrochen, deshalb arbeitet er jetzt beim Kundensupport – sparen unsere Credits. Er ist aus Deutschland. Wir überlegen, ob wir da hinziehen.«
Zinnia nickte. »Deutschland ist hübsch.«
Miguel sog die Luft ein und atmete langsam aus. Es hörte sich traurig an. »Eines Tages …«
Zinnia lächelte ihm zu. Vielleicht fand er das tröstlich, aber außerdem wollte sie damit das hilflose Mitgefühl kaschieren, das sie für diesen Mann empfand, der in seinem öden Job feststeckte und davon träumte, das Land zu verlassen, obwohl die gute Chance bestand, dass es nie dazu kommen würde.
Er blickte auf sein CloudBand. »Tja, das wär’s dann wohl. Wenn du aus irgendeinem Grund nicht weiterkommst, sprich einfach Miguel Velandres in deine Uhr, dann sucht sie mich. Natürlich kannst du auch Manager sagen und mit einem von den Weißen sprechen, aber es ist wie gesagt besser, möglichst wenig mit denen zu tun zu haben.«
Sie warfen ihre leeren Flaschen in einen überquellenden Recyclingbehälter – auf dem Schild darüber stand: Danke fürs Recyceln!  – und traten in die große Halle.
»Alles klar?«, sagte Miguel.
Zinnia nickte.
Er hielt sich die Uhr vor den Mund. »Orientierung beendet.«
Es summte an Zinnias Handgelenk. Ein neuer Pfeil, der sie aufforderte, geradeaus zu gehen.
Miguel hob warnend die Hand. »Nicht trödeln. Bloß nicht trödeln! «
Sie schüttelten sich die Hände, dann machte Zinnia sich auf den Weg. Sie ließ sich von der sanften Vibration der Uhr lenken. Hinter sich hörte sie die Stimme von Miguel: »Und denk dran, mi amiga! Besorg dir schleunigst Sneakers.«