Paxto
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Paxton saß allein an der Rückwand des Besprechungszimmers. Vorn saßen zwei Frauen und vier Männer, alle in blauen Poloshirts, von ihm getrennt durch drei Reihen von leeren Tischen, die aussahen, als stammten sie aus einem Klassenzimmer in der Schule.
Die Leute vorn unterhielten sich, als würden sie sich kennen. Paxton wusste nicht recht, wie das möglich war, da die Orientierung ja jetzt erst stattfinden sollte. Vielleicht waren sie auf demselben Stockwerk untergebracht.
Er saß nicht absichtlich allein da, aber er war als Erster eingetroffen und hatte sich nach hinten gesetzt. Als die anderen nach und nach hereingekommen waren, hatten sie sich vorn niedergelassen und gleich unterhalten, ohne ihn richtig zu bemerken. Wenn er aufgestanden wäre, um sich zu ihnen zu gesellen, hätte er sich womöglich eine Blöße gegeben. Deshalb blieb er, wo er war, und blickte durch die halb geschlossene Jalousie vor dem Fenster, durch das man das Großraumbüro sah.
Dieses Büro war eine Kommandozentrale. Reihenweise Arbeitsnischen, besetzt von Leuten in blauen Poloshirts, die telefonierten oder auf ihren an den Tisch montierten Tablets herumtippten. Alle sahen sich ständig um, als würde jemand sie beobachten. Die Wände waren mit Bildschirmen ausgestattet, auf denen man Lagepläne und Grafiken sah.
Jemand ging am Fenster entlang, dann öffnete sich die Tür. Herein kam ein Mann mit einem Gesicht wie Baumrinde. Seine schiefergrauen Haare waren kurz, aber
elegant geschnitten, seine Oberlippe wurde von einem buschigen Schnurrbart überwuchert. Er trug ein hellbraunes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und waldgrüne Baumwollhosen. Keine Schusswaffe, dafür steckte in dem Holster an seinem Gürtel eine leistungsstarke Taschenlampe. Der goldene Stern, der an seiner Brust steckte, war so glatt poliert, dass sich das Licht darin spiegelte. Er hatte das kerzengerade Rückgrat und den unerbittlichen Blick eines waschechten Gesetzeshüters. Wenn man so jemand begegnete, wollte man sich sofort rechtfertigen, selbst wenn man überhaupt nichts angestellt hatte.
Er schritt zum Pult und sah sich im Raum um, wobei er nacheinander mit jedem Blickkontakt aufnahm. Als Letztes fixierte er Paxton, zögerte einen Moment und nickte dann, wie um auszudrücken, dass die sieben Leute vor ihm akzeptabel waren.
»Ich bin Sheriff Dobbs, und ich bin der Mann, der für diese County verantwortlich ist«, sagte er in einem Ton, als müsste er eigentlich gerade woanders sein. »Als Sheriff bin ich verpflichtet, hier aufzukreuzen und zwei Dinge zu tun, wenn eine Gruppe Frischlinge wie ihr eintrifft. Erstens ernenne ich euch gemäß dem Gesetz für die Sicherheit in MotherCloud-Anlagen zu Deputys.« Er wedelte mit der Hand wie ein gelangweilter Zauberkünstler. »Betrachtet euch hiermit als solche. Zweitens muss ich euch erklären, was zum Teufel das bedeutet.«
Er grinste kurz. Erlaubnis zur Schließmuskelentspannung. Mehrere Leute lachten. Das tat Paxton nicht, stattdessen klappte er ein kleines Notizbuch auf. Ganz oben auf die Seite schrieb er: Sheriff Dobbs
.
»Ihr fragt euch jetzt wahrscheinlich, ob ihr Verhaftungen vornehmen könnt«, fuhr der Sheriff fort. »Tja, die
Antwort lautet: Nicht so richtig. Immerhin könnt ihr jemand festsetzen. Nehmen wir an, ihr habt jemand geschnappt, der was angestellt hat – vielleicht hat er was geklaut, sich mit jemand angelegt oder was auch immer. Den bringt ihr zur Verwahrung in die Administration. Laut dem erwähnten Gesetz müssen dort rund um die Uhr zehn Beamte der örtlichen Polizeibehörde anwesend sein, um sich mit kriminellen Angelegenheiten zu beschäftigen. Aber da zehn Leute nicht ausreichen, eine derart große Anlage zu überwachen, seid ihr unsere Augen und Ohren.«
Verwahrung. Augen und Ohren. Echte Cops für die schwerwiegenden Fälle.
»Meist ist die Lage ziemlich ruhig«, sagte Dobbs. »Und woran liegt das? Wer bei Cloud irgendwelchen Scheiß baut, ist sofort draußen. Wenn du beim Klauen erwischt wirst oder genügend Minuspunkte sammelst, um gefeuert zu werden, hast du bei keiner einzigen mit Cloud assoziierten Firma in den Vereinigten Staaten oder anderswo auf Gottes schöner Erde mehr eine Chance. Ich muss euch nicht sagen, was das bedeutet – erheblich eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten. Das wiederum bedeutet, dass die meisten Leute clever genug sind, nicht den Ast abzusägen, auf dem sie hocken.«
Wer was vermasselt, ist draußen. Hält die Leute bei der Stange.
»Eure Aufgabe besteht in erster Linie darin, gesehen zu werden«, sagte Dobbs. »Ihr geht durch die Gegend, seid ein Teil der Gemeinschaft.« Er zupfte am Kragen seines Uniformhemds. »So was ist wie eine Demarkationslinie, und deshalb tragt ihr bloß Poloshirts. Wir wollen zu einer freundlichen Atmosphäre beitragen. Daher bekommt ihr keine spezielle Uniform.
«
Poloshirts drücken Gleichheitsprinzip aus.
»Die meisten von euch sind hier, weil sie Berufserfahrung bei der Polizei oder einem Sicherheitsdienst haben«, fuhr der Sheriff fort. »Allerdings läuft es überall ein bisschen anders, was bedeutet, dass wir Informations- und Schulungseinheiten haben. Zweimal pro Monat. Heute ist die längste. Wir setzen euch hin und zeigen euch ein paar Videos darüber, was ihr im Falle von Konflikten tun solltet, also wenn ihr zum Beispiel jemand des Diebstahls verdächtigt und so weiter und so fort. Aber ich habe einen Beutel Popcorn mitgebracht, vielleicht tröstet euch das.«
Wieder ein paar Lacher.
Dobbs offenbar ganz okay.
»Jetzt geht mal bitte da den Flur runter, und sucht euch einen Platz. Ich komme gleich nach, dann fangen wir in wenigen Minuten an. Aber zuerst … Sitzt hier jemand namens Paxton?«
Paxton hob den Kopf. Dobbs sah ihn an und lächelte.
»Bleiben Sie noch eine Minute da, junger Mann«, sagte Dobbs. »Ich muss was mit Ihnen besprechen.«
Die anderen sechs im Raum standen auf und gingen zur Tür. Dabei warfen sie Paxton neugierige Blicke zu. Offenbar fragten sie sich, was ihn so besonders machte. Das fragte Paxton sich ebenfalls.
Als alle draußen waren, sagte Dobbs: »Folgen Sie mir.«
Er drehte sich um und schritt aus der Tür. Paxton sprang auf, eilte in das Großraumbüro und folgte Dobbs zu der Tür am anderen Ende, neben der ein großes Spiegelglasfenster in die Wand eingelassen war.
Er trat in einen abgedunkelten Raum, in dem sich nur ein Schreibtisch mit zwei Stühlen befand. An der Wand hingen mehrere Fotos und einige Pläne der Anlage, auf
denen jeweils eine bestimmte Struktur abgebildet war. Ein kurzer Blick darauf genügte, um zu erkennen, dass einer der Pläne das Transitsystem darstellte, ein anderer das Elektrizitätsnetz und ein dritter irgendwie allgemein die Topografie. Es war ein Büro für jemand, der kein großes Bedürfnis hatte, ein Büro zu haben.
»Setzen Sie sich«, sagte Dobbs und ließ sich auf den ausgeleierten Drehsessel hinter dem Schreibtisch fallen. »Ich will die anderen nicht zu lange warten lassen, aber mir ist was in Ihrem Lebenslauf aufgefallen. Sie haben im Strafvollzug gearbeitet.«
»Das stimmt«, sagte Paxton.
»Zwischen damals und heute klafft allerdings eine kleine Lücke.«
»Ich habe eine eigene Firma gegründet, aber das hat letztlich nicht geklappt«, sagte Paxton. »Die heutige Wirtschaft ist ein Vollkontaktsport, wissen Sie?«
Auf die sarkastische Bemerkung reagierte Dobbs nicht. »Tja, ich würde gern was wissen. Wieso haben Sie sich für den Strafvollzug gemeldet?«
Paxton lehnte sich zurück. Er hätte lieber eine bessere Antwort gegeben, zum Beispiel indem er was von Berufung geschwafelt hätte, aber da das eine Lüge gewesen wäre, sagte er die Wahrheit. »Ich brauchte einen Job. Habe die Stellenanzeige gesehen. Bin schließlich länger geblieben, als ich vorhatte.«
»Und wie geht es Ihnen jetzt damit, dass Sie hier sind?«, fragte Dobbs
»Ehrlich gesagt?«
»Nur frisch von der Leber weg, junger Mann.«
»Ich hatte auf ein rotes Shirt gehofft.«
Dobbs setzte ein schmallippiges Lächeln auf. »Hören Sie, ich habe keine Zeit, hier zu sitzen und um den heißen
Brei herumzureden. Dass Sie nicht rasend scharf auf diesen Job sind, gefällt mir. Je begeisterter jemand von solchen Tätigkeiten ist, desto argwöhnischer werde ich. Manche Leute sind allzu stolz auf ihre Autorität. Für die ist es ein Sport, ein Bewältigungsmechanismus oder auch bloß eine Chance, es der Welt heimzuzahlen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
Nach Paxtons Meinung hatten praktisch alle seine Kollegen im Gefängnis zu breit gegrinst, wenn sie ihren Knüppel geschwungen hatten, um einem misslaunigen Häftling damit in die Rippen zu stoßen. Und wenn es nötig war, jemand in den Bunker zu befördern, hatten sie gepfiffen und gejohlt.
»Durchaus«, sagte er. »Ich weiß genau, was Sie meinen.«
»In der Anstalt, in der Sie gearbeitet haben – wie häufig hatten Sie es da mit eingeschmuggelten Drogen zu tun?«
»Ein paar Probleme damit hatten wir schon«, sagte Paxton. »Ich habe unter mehreren Direktoren gearbeitet. Manche hatten eine Nulltoleranzstrategie, andere haben beide Augen zugedrückt, weil sie meinten, zugedröhnte Häftlinge wären leichter zu handhaben.«
»Und war das wirklich so?«, fragte Dobbs.
Paxton wählte seine Worte sorgfältig. Inzwischen kam er sich wie bei einer Abschlussprüfung vor. »Ja und nein. Wenn jemand high ist, kann man unter Umständen ziemlich gut mit ihm umgehen. Aber wenn er zu
high ist, nimmt er womöglich eine Überdosis oder schlägt alles kurz und klein, was weniger gut ist.«
Dobbs lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Das Band, an dem er seine Uhr trug, war die Standardausführung; es sah nicht anders aus als das von Paxton. »Wir haben hier ein kleines Problem, und
ich organisiere gerade etwas … Tja, als Taskforce würde ich es nicht gerade bezeichnen. So offiziell soll es nicht werden. Bloß ein paar Leute, die Augen und Ohren offen halten. Und eventuell ein paar Fragen stellen, wenn sie der Meinung sind, damit was Nützliches zu tun.«
»Worum geht es denn?«
»Um Oblivion. Wissen Sie, was das ist?«
»Ich weiß, dass es sich um eine Droge handelt, aber die ist ja erst in letzter Zeit in Mode gekommen. Nachdem ich in der Anstalt gekündigt hatte.«
Dobbs blickte zur Tür und zuckte dann leicht die Achseln, so als könnte er noch ein paar Minuten riskieren. »Es ist eine modifizierte Form von Heroin, die körperlich nicht abhängig macht. Heroin wirkt bekanntlich derart katastrophal, weil es das Gehirn umstrukturiert, und zwar so, dass der Körper ohne den Stoff nicht richtig funktioniert. Deshalb ist auch der Entzug so schwer. Oblivion macht genauso high, aber ohne diesen Nachteil. Psychisch wird man durchaus davon abhängig, so wie bei allem, was einem ein gutes Gefühl vermittelt. Deshalb kommt es manchmal zu einer Überdosis, aber nicht so oft wie bei Heroin. Momentan haben wir allerdings viel damit zu tun, und manchmal ist das Zeug nicht richtig gestreckt, sodass die Junkies schon bei normaler Verwendung davon krank werden. Gelegentlich sterben sie sogar daran. Deshalb heißt es von ganz oben, dass wir den Scheiß stoppen müssen.« Dobbs senkte die Stimme. »Ich will Ihnen gegenüber offen sein. Die County kann keine weiteren Beamten entbehren. Daher will die obere Etage, dass wir die Männer und Frauen in Blau einsetzen, die ohnehin vor Ort sind. Darum geht es mir. Ich brauche ein paar gute Leute, die sich umsehen können … aber auf entspannte Weise. Und da
wäre jemand nützlich, der ein Auge für Schmuggelware hat.«
»Wieso auf entspannte Weise?«, fragte Paxton.
Dobbs starrte ihn kurz an, bevor er antwortete. »Ich mag es, wenn die Dinge entspannt sind.«
Paxton richtete sich auf seinem Stuhl auf. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Irgendwie hatte er gehofft, Dobbs würde ihm erklären, man habe einen Fehler gemacht. Dann hätte er sein rotes Shirt bekommen und ins Lager verschwinden können, um sich seinen Stress aus dem Leib zu rennen und vielleicht bald wieder zu verschwinden. Stattdessen bot man ihm jetzt an, zusätzliche Aufgaben in einem Job zu übernehmen, den er gar nicht gewollt hatte.
Allerdings hatte Dobbs etwas an sich, was Paxton gefiel. Er sprach bedachtsam, deutlich und mit Respekt, was Paxton bei seinen Vorgesetzten im Gefängnis kaum erlebt hatte. Außerdem war es nett, so einen Vorschlag zu erhalten. Da kam man sich vor, als ob man spezielle Fähigkeiten hätte. Als ob man gebraucht würde.
Dobbs lächelte gequält und hob die Hand. »Sie müssen jetzt noch nichts entscheiden. Ich weiß, das alles ist eine ganz schöne Herausforderung, und es ist erst Ihr erster Tag hier. Aber Sie haben eine weiße Weste und offenbar einen Blick für Details. Und Sie haben sich vorhin als Einziger Notizen gemacht. So etwas weiß ich zu schätzen. Denken Sie also darüber nach, und in ein, zwei Tagen unterhalten wir uns wieder.«
Paxton stand auf. »Hört sich fair an.«
»Nur damit Sie’s wissen, in einem Job wie diesem gibt es Aufstiegsmöglichkeiten«, sagte Dobbs. »Außerdem würden Sie etwas wirklich Gutes tun, indem Sie Leuten helfen, die Hilfe brauchen. Und jetzt …« Er wedelte mit de
r Hand. »Gehen Sie rüber, und suchen Sie sich einen Platz. Sollen die anderen sich ruhig fragen, wieso ich so lange mit Ihnen geredet habe. Ich komme gleich mit dem Popcorn nach.«