Zinni
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Zinnia rutschte mit dem Fuß ab. Ihr Magen verkrampfte sich. Es gelang ihr gerade noch, sich an der Seite des Regals festzuhalten, bevor sie rücklings abgestürzt und mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen wäre.
Es hatte nicht lange gedauert, bis sie aufgehört hatte, den Karabinerhaken zu verwenden. Das Ein- und Ausklinken nahm wertvolle Sekunden in Anspruch, die man nicht vergeuden durfte. Sie machte sich mehr Sorgen um die gelbe Linie als darum herunterzufallen.
Nachdem sie sich von Miguel verabschiedet hatte, erhielt sie den Auftrag, ihren zweiten Artikel zu holen, eine Dreierpackung Deospray. Sie marschierte flott zu dem betreffenden Regal, brauchte jedoch mehr als zehn Minuten durch den riesigen Raum. Ständig musste sie den anderen Roten und den sich bewegenden Regalen ausweichen. Als sie die Packung endlich aufs Förderband legte, war die grüne Linie auf ihrer Uhr gelb geworden.
Der nächste Artikel war ein Buch. Zinnia machte sich noch schneller auf den Weg, bis die Regale schließlich in eine rotierende Bibliothek übergingen, deren Titel sich um sie herum drehten. Da die Bücher Rücken an Rücken auf dem Regalbrett standen, war das gesuchte schwerer zu finden, aber sie spürte es auf und schaffte es an den gewünschten Ort. Nun war die Linie zwar immer noch gelb, hatte sich jedoch ein bisschen aufgefüllt.
Der nächste Artikel: eine Sechserpackung Suppendosen, in Plastik gehüllt
.
Dann: Wecker. Duschradio. Buch. Digitalkamera. Buch. Handyladegerät. Schneestiefel. Sonnenbrille. Medizinball. Designer-Messengerbag. Tablet. Buch. Salzpeeling. Schlauchschal. Kneifzange. Ondulierstab. Vakuumiergerät. Weihnachtsbaumbeleuchtung. Packung Kugelschreiber. Set mit drei Schneebesen aus Silikon. Geräuschunterdrückende Kopfhörer. Digitalwaage. Sonnenbrille. Vitamine. Taschenlampe. Regenschirm. Gripzange. Portemonnaie. Digitales Fleischthermometer. Hundekekse. Puppe. Kompressionsstrümpfe. Shampoo. Buch. Gummiente. Sportuhr. Nuckelbecher. Messerschärfer. Bohrmaschinenakku. Duschregal. Thermokaffeebecher. French-Press-Kaffeebereiter. Maßband. Kindersocken. Filzstifte. Wickeldecke. Knieschiene. Katzenbett. Schere. Sonnenbrille. Weihnachtsbaumbeleuchtung. Dremel-Set. Teddybär. Bücher. Proteinpulver. Nasenhaartrimmer. Spielkarten. Zange. Handyladegerät. Backblech. Armreif. Multifunktionswerkzeug. Wollmütze. Nachtlicht. Packung Männerunterhemden. Kochmesser. Yogamatte. Handtücher. Weihnachtsbaumbeleuchtung. Ledergürtel. Salatschleuder. Packung Druckerpapier. Ballaststofftabletten. Pfannenwender-Set. Buch. Hoodie. Tablethülle. Stabmixer. Plätzchenausstecher. Tablet. Tastatur. Handyladegerät. Actionfigur.
Mit jedem neuen Artikel taten Zinnia die Füße ein bisschen mehr weh. Bald galt das auch für die Schultern; die Gelenke ächzten, die Muskeln pochten. Einige Male blieb sie an der Wand oder in einer ruhigen Ecke stehen, um ihre Schnürsenkel zu lockern oder fester zuzuziehen, auf der Suche nach der idealen Schnürung, bei der ihre Stiefel aufhörten, die Füße zu foltern. Aber die gelbe Linie war erbarmungslos. Wenn Zinnia lange genug stehen blieb, konnte sie sehen, wie das Ding langsam
rückwärtskroch. Als sie sich ein-, zweimal richtig abhetzte, wurde es grün, aber nur für einen Augenblick.
Die Arbeit war geisttötend. Sobald Zinnia sich dem Rhythmus des CloudBands überließ, schaffte sie es wie auf Autopilot von Regal zu Förderband zu Regal. Ab und zu wurde sie von der Platzierung eines Artikels in die Irre geführt, sodass sie die Aufbewahrungsboxen verschieben musste und bei der Suche einige Sekunden vergeudete. Im Normalfall funktionierte das System allerdings.
Sie lenkte sich von den Schmerzen in den Füßen und der Eintönigkeit des Jobs ab, indem sie an ihrem Plan tüftelte.
Das Ziel war simpel – sie musste in die Energieverteilungsanlage gelangen.
Leichter gesagt als getan. Es bedeutete, in ein bestimmtes Gebäude einzudringen.
In der Praxis war es ein Albtraum.
Die Anlage befand sich auf der anderen Seite des Campus. Zugänglich war sie nur über ein Verkehrssystem, das Zinnia nicht verwenden konnte, da es unwahrscheinlich war, dass ihr CloudBand das erlaubte. Zu Fuß konnte sie auch nicht gehen. Sie hatte sich die Satellitenaufnahmen, auf denen man jeden Grashalm erkennen konnte, eingeprägt. Das Gelände war flach. Zwischen den Wohnbauten und dem Warendepot dehnte sich eine große, freie Fläche aus, noch ein Stück weiter war es bis zu den Wind- und Solaranlagen, bis schließlich die Verteilungsanlage kam. Selbst wenn die Überwachung der MotherCloud nur aus einem alten Knacker bestanden hätte, der mit einer Flasche schwarzgebranntem Fusel auf einer Veranda saß, hätte Zinnia es nicht riskiert; sie wäre zu leicht zu entdecken gewesen.
Deshalb stellte die Bahn den logischen Zugang dar,
genauer gesagt deren Tunnel. Zinnia machte sich keine großen Sorgen, darin gesehen zu werden; wie Gibson Wells es in seinem Begrüßungsvideo gesagt hatte, gab es nicht viele Überwachungskameras. Das Problem war der verfluchte Ortungssender an ihrem Handgelenk.
Aber eins nach dem anderen.
Die Uhr hatte sie gerade beauftragt, ein Ladegerät zu holen. Sie joggte zum Regal, marschierte im Schnellschritt zum Förderband und wollte sich gerade über den nächsten Artikel informieren, als auf dem Display eine bislang unbekannte Nachricht stand:
Sie sind jetzt zu einer 15-minütigen Toilettenpause berechtigt.
Zinnia befand sich inmitten eines gewaltigen Lagers mit Gesundheits- und Kosmetikprodukten. Sobald sie sich nicht mehr bewegte, brach die fragile Choreographie in sich zusammen. Sie hüpfte von einem Bein auf das andere, um den an ihr vorüberflitzenden Roten auszuweichen. Sie versuchte sich zu orientieren, was ihr aber nicht gelang.
Sie hob die Uhr, drückte die Krone und sagte: »Toiletten.«
Die Uhr wies sie an, nach links zu gehen, und sie lachte, um sich von dem Unbehagen abzulenken, das sie empfand, weil jetzt irgendwo registriert wurde, dass sie an einem Dienstag um 11.15 Uhr zum Pinkeln gegangen war.
Bis zum WC
brauchte sie beinahe sieben Minuten und war dankbar, dass sie nur pinkeln musste. Sie trat in einen lang gestreckten Raum – graue Fliesen, ein langer Spiegel über einer Reihe Waschbecken, vor denen sich
Frauen in Rot drängten, weiße Lampen, so grell, dass sie einen Blaustich hatten. Es roch deutlich nach Urin. Zinnia schlüpfte in eine der wenigen freien Kabinen und stellte fest, dass der Boden mit Papierfetzen vermüllt war. Die Toilettenschüssel war mit einer dunkelgelben Flüssigkeit gefüllt, in der weiteres Klopapier schwamm.
Sie seufzte, ging über dem Sitz in die Hocke, erleichterte sich und ersparte sich das Spülen, da es eh sinnlos gewesen wäre. Nachdem sie sich draußen einen Platz am Spiegel erkämpft hatte, wusch sie sich die Hände und beugte sich vor.
Ihre Augenlider waren geschwollen. Da sie nicht mehr von ihren Füßen abgelenkt war, taten diese höllisch weh. Sie überlegte, ob sie die Stiefel kurz ausziehen sollte, aber das hätte es womöglich noch schlimmer gemacht. Außerdem wollte sie nicht sehen, welcher Schaden entstanden war. Deshalb verließ sie das WC
, und weil sie wahrscheinlich noch zwei bis drei Minuten Pausenzeit übrig hatte, stellte sie sich an das nächste CloudPoint-Terminal. Sie tippte aufs Display, das sie prompt begrüßte: Willkommen, Zinnia!
Sie suchte nach Sneakers
und wählte gleich das erste Paar aus, das sie sah. Neongrün wie Alienkotze, aber dafür auf Lager. Abgesehen davon, war ihr die Farbe scheißegal, sie wollte nur keinen weiteren Tag in den Stiefeln verbringen.
Sie fügte Reißzwecken und mehrere große Mandala-Wandbehänge hinzu, kaleidoskopische Farborgien, wie man sie sonst eher an der Wand von Studenten fand, die zu viel kifften. Die gehörten zu ihrem Plan, unbemerkt aus ihrer Wohnung zu gelangen.
Das Letzte, was sie brauchte, durfte allerdings nicht zu ihr zurückverfolgt werden
.
Sie ließ die Lieferung an ihre Wohnung gehen und wandte sich von dem Terminal ab.
Die CloudPoint-Terminals. Erster Schritt eines aus zwei Schritten bestehenden Prozesses.
Die gesamte Infrastruktur von Cloud – von der Navigation der Drohnen bis hin zu den vom CloudBand übermittelten Richtungsanweisungen – wurde durch ein eigenes Netzwerk von Satelliten gesteuert. Es von außen zu hacken war absolut unmöglich. Vor einigen Wochen hatte Zinnia es versucht, indem sie an der Peripherie herumstocherte, um zu beobachten, was dabei passierte. Es war, als würde man versuchen, mit dem Fingernagel ein Loch in eine Betonmauer zu kratzen. Die einzige Möglichkeit, einen Zugang zum Netzwerk zu finden, bot sich innerhalb einer Cloud-Anlage.
Was sie brauchte, war das Schema. Sie brauchte Pläne. Irgendwas, worauf die Eingeweide dieses Ortes zu erkennen waren. Leider war so etwas unauffindbar gewesen. Versucht hatte sie es durchaus. Sie hatte nach Umweltverträglichkeitsstudien gesucht. Nach Geschäftsberichten. Nach Dokumenten der örtlichen Baubehörde. Wenn man so eine Anlage errichten wollte, hatte man früher einen gewaltigen Packen Formulare einreichen müssen. Aber dank des sogenannten Gesetzes zur Vermeidung bürokratischer Hürden, für das sich Gibson Wells eingesetzt hatte, waren große Firmen inzwischen davon ausgenommen, weil es sich angeblich um ein »Hindernis zur Schaffung von Arbeitsplätzen« handelte.
Zinnia musste herausbekommen, ob es irgendeine Möglichkeit gab, sich umherzubewegen, ohne entdeckt zu werden. Ob sie gewissermaßen eine Hintertür zu der Energieverteilungsanlage finden konnte. Zugangstunnel, große Schächte, etwas in der Richtung. Das würde
ihr jedoch nicht einfach in den Schoß fallen, indem sie in ein Terminal eindrang. Zuerst musste sie ein kleines Stück von dem Code entdecken, den Cloud verwendete.
An ihrem Handgelenk summte es. Die gelbe Linie war wieder da.
Sie haben momentan eine Leistungsrate von 73 %.
Dann:
Falls diese Rate unter 60 % sinken sollte, hätte das negative Auswirkung auf Ihr Mitarbeiter-Rating.
Dann:
Denken Sie daran, genügend zu trinken!
Und schließlich:
Eine Artikelnummer und die der zugehörigen Box, dazu das Foto eines Buchcovers.
Zinnia seufzte, drehte sich um und machte sich im Laufschritt auf den Weg.