Paxto
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Von der anderen Seite des Großraumbüros her hörte man Gebrüll und ein lautes Krachen. Paxton blickte von dem Display des Tablets hoch, auf dem er sich mit den Formalitäten bei verschiedenen Vorfällen in der Anlage vertraut gemacht hatte – was man ausfüllen musste, wenn jemand verletzt wurde, wenn ein Diebstahl vorkam, wenn jemand starb –, und spähte über die Trennwand seiner Kabine.
Er sah ein halbes Dutzend Blaue, die mit einem Grünen rauften. Der Grüne war ausgemergelt und hatte einen verwilderten Vollbart, der ihm bis zum Bauchnabel reichte. Er versuchte, sich von den anderen loszureißen, bis eine schlanke Gestalt mit Bürstenhaarschnitt sich aus der Meute löste und ihm einen Kinnhaken verpasste.
Der Typ mit dem Bart krachte auf den Boden, worauf sein Gegner hervorstieß: »Geschieht dir recht!«
Paxton war nicht klar, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Von der Stimmlage her war es eine Frau, der schlanke Körperbau, der nüchterne kurze Haarschnitt und die fehlenden Kurven passten allerdings mehr zu einem jungen Mann.
Nach einem Moment merkte er, dass die nicht recht bestimmbare Person sich von dem am Boden liegenden Mann abgewandt hatte und auf ihn zukam. Als sie seine Kabine erreicht hatte, sagte sie: »Bist du Paxton? Ich bin Dakota.«
Der Name sagte nicht viel aus, aber dann bemerkte
Paxton den sanft geschwungenen Hals, an dem kein Adamsapfel zu sehen war.
Er stand auf und schüttelte der Frau die Hand. Ihr Uhrband war aus schwarzem Leder und am Rand mit Metallnieten verziert.
»Freut mich«, sagte Paxton.
»Das hoffe ich doch.« Sie hob eine Augenbraue. »Ich bin deine neue Partnerin. Machen wir einen Spaziergang.«
Dakota drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte davon. Paxton musste sich beeilen, ihr hinterherzukommen. Er erreichte sie, als sie gerade auf den blank polierten Betonboden des Korridors trat.
»Was war das eigentlich für ein Getümmel vorhin?«
Sie brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, so als wäre ihr Gewaltausbruch nur eine flüchtige Geste gewesen, die man schnell vergaß. »Der Typ hat einen von den Massagesalons geleitet und dort sexuelle Dienste angeboten.«
»Du hast ihn ganz schön hart erwischt.«
»Macht dir das zu schaffen?«
»Nur wenn er es nicht verdient hatte.«
Sie lachte. »Manche von den Mädels haben nicht gerade freiwillig mitgemacht. Na, was meinst du nun?«
»Dann hättest du noch härter zuschlagen sollen«, sagte Paxton, was sie mit einem Lächeln quittierte. »Ich wusste gar nicht, dass man hier zu zweit auf Streife geht. Auf den ganzen Videos, die ich mir angesehen habe, waren die Security-Leute normalerweise alleine unterwegs.«
»Ja, wir Blauen arbeiten meistens solo, falls es sich nicht um spezielle Projekte oder eine Taskforce handelt.« Dakota drehte den Kopf leicht zur Seite, um Paxton von oben bis unten zu mustern. Wieder hob sie eine
Augenbraue. »Dobbs hat mir erzählt, du wärst der Mann, der unser Schmuggelproblem knacken wird.«
»Eigentlich habe ich noch gar nicht richtig zugestimmt …«
Dakota lächelte. »Klar hast du das.«
Sie erreichten eine Reihe von Aufzügen. Dakota hielt ihr Handgelenk vor die Scheibe, dann verschränkte sie die Hände hinter dem Rücken und musterte Paxton erneut. Ihm war absolut nicht klar, ob sie Interesse hatte, ihn kennenzulernen, oder ihn als lästig ansah. Sie hatte die Miene eines leeren Blatts Papier.
»Wo wollen wir denn hin?«, fragte er.
»Wir gehen bloß ein bisschen durch die Gegend«, sagte sie. »Damit du dir die Beine vertreten kannst. Soweit ich gehört habe, dauert es jetzt bis zu drei Stunden. Die Einführungsvideos, meine ich.«
»Ich habe zwar nicht auf die Uhr geschaut, aber das dürfte in etwa stimmen.«
»Hauptsächlich geht es dabei um Absicherung«, sagte Dakota. »Nicht für dich, sondern für das Management. Wenn was schiefläuft, können die dort sagen, sie hätten dir die ganzen Sachen beigebracht, weshalb es nicht ihre Schuld wäre, sondern deine.«
Ein leerer Aufzug kam an. Sie traten hinein, und Dakota wählte das unterste Geschoss, wo man zur Bahn gelangte. Während die Tür zuging, sagte sie: »Eigentlich brauche ich’s dir nicht erklären, du hast ja im Gefängnis gearbeitet. Aber mit der Zeit wirst du merken, dass man bei Cloud bestimmte Methoden hat, mit den Dingen umzugehen. Manchmal entsprechen die der offiziellen Vorgehensweise und manchmal nicht.«
»Mit dem Konzept bin ich vertraut, das stimmt«, sagte Paxton
.
Sie traten aus dem Aufzug und schritten den Flur entlang. Nach der nächsten Ecke sahen sie lange Schlangen vor mehreren in die Wand eingebauten Terminals stehen, an denen man sein Anliegen eintippen konnte – Wohnungsprobleme, Bankingfragen und dergleichen –, um zu der zuständigen Stelle in irgendeinem Stockwerk geleitet zu werden.
Dakota schwieg. Sie hatte anscheinend kein Interesse daran, sich zu unterhalten. Stattdessen ging sie einfach weiter, und Paxton folgte ihr. Einige Leute warfen den beiden Blicke zu. Dieses Spielchen kannte Paxton. Dobbs hatte das Poloshirt als Ausdruck von Gleichheit bezeichnet, aber das war es nicht. Wenn ein Dienstabzeichen aus Blech war, funkelte es trotzdem, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf fiel.
Eine Bahn fuhr ein, und sie stiegen ein. Die anderen Fahrgäste schienen ihnen Platz zu machen. Dakota sagte immer noch nichts. Auch das verstand Paxton. Wenn sie sich unterhalten hätten wie normale Leute, hätten sie zu menschlich gewirkt.
Es war Paxton zuwider, wie leicht es war, in diese alte Denkweise zu verfallen. Er kam sich vor, als würde er wieder durch einen Zellenblock schreiten.
Sie fuhren an Care, dem Warendepot und dem Aufnahmegebäude vorüber, bis sie schließlich in der Eingangshalle von Oak ausstiegen. Über eine Rolltreppe gelangten sie in eine separate Halle am Anfang der Promenade, wo eine andere Bahnlinie vom Aufnahmegebäude ankam. Hier gab es Ladebuchten und Rampen für die Waren, die zu den Läden und Restaurants an der Promenade geliefert werden sollten. Transportiert wurden sie hauptsächlich mit elektrischen Golfwagen, die flache Anhänger hinter sich herzogen. Arbeiter in Grün und
Braun wuselten in der großen Halle umeinander, um die Waren zu verladen.
Dakota räusperte sich. »Hier ist es. Das ist der Problembereich.«
»Inwiefern?«
»Hier kommt alles an«, sagte sie. »Das heißt, eigentlich kommt alles an der Aufnahme an, aber hauptsächlich in großen Paketen, die erst hier verteilt werden. Nach unserer Vermutung muss das auch der Ort sein, wo das Oblivion ankommt. Möglicherweise jedes Mal mit unterschiedlichen Lieferungen. Verantwortlich dafür könnte eine ganze Bande sein, aber auch eine einzelne Person. Wir haben noch keine Ahnung, wie das Ganze abläuft, aber auf jeden Fall habe ich so ein Bauchgefühl, dass hier die Lösung liegt.«
Paxton spazierte ein bisschen durch die Gegend. Ohne nach etwas Bestimmtem zu suchen, blickte er sich einfach um. Ihm war bald klar, weshalb sich der Ort hier als Umschlagplatz anbot. Es gab allerhand Ecken und Winkel. Nischen, in denen die Golfwagen abgestellt wurden, Türen, hinter denen sich wahrscheinlich ein Labyrinth an Fluren verbarg, die zu den Geschäften führten. Mehr als hundert Personen waren damit beschäftigt, Kartons auszupacken und den Inhalt auf die Anhänger zu stellen. Man hätte eine ganze Armee gebraucht, um alles im Blick zu haben.
»Wieso bringt man nicht einfach mehr Kameras an?«, sagte er.
Dakota schüttelte den Kopf. »Die mag man in der Führungsebene nicht. Das sieht man doch in dem Video, oder? Dobbs hat sich dafür eingesetzt, aber der Mann ganz oben ist dagegen. Er meint, Kameras wären ungemütlich. Würden dazu führen, dass die Leute sich unwohl
fühlen.« Bei dem Wort unwohl
hatte sie Anführungszeichen in die Luft geschrieben und dramatisch die Augen verdreht.
»Aha. Dabei tragen alle Uhren, mit denen man sie überall lokalisieren kann.«
Dakota zuckte die Achseln. »Falls einer von uns zum Chef dieses Ladens aufsteigen sollte, dann kann er das ja ändern.«
Paxton ging ein Stück weiter, um die Umgebung zu begutachten. »Lebensmittellieferungen waren für so was schon immer beliebt. Wir hatten eine Weile massenhaft Heroin im Bau. Wie sich herausgestellt hat, war das Zeug in Erdnussbuttergläsern versteckt. Da konnten die Hunde es nicht riechen.«
»Die Lebensmittellieferungen haben wir schon gründlich untersucht«, sagte Dakota.
»Erzähl mir doch mal was über Oblivion«, sagte Paxton. »Ich habe Dobbs schon erklärt, dass ich keine Ahnung habe, was das genau ist.«
»Das hat er erwähnt, ja.« Sie blickte sich um. Vergewisserte sich, dass niemand sie belauschte. »Komm mit.«
Sie führte ihn in eine ruhige Ecke neben eine lange Reihe Golfwagen, die zum Aufladen mit Steckdosen verbunden waren. Dann griff sie in die Hosentasche und zog ein winziges Plastikschächtelchen heraus, etwa so breit wie eine Briefmarke und etwas länger. Sie klappte es auf und zog ein Stückchen dünne Folie heraus. Grün gefärbt, rechteckig, minimal kleiner als das Schächtelchen. Ein Atemstreifen.
»Das ist es?«, sagte Paxton.
Dakota nickte. Er nahm den Streifen entgegen und drehte ihn um. Leicht, dünn und ein klein bisschen klebrig.
Sie nahm ihm den Streifen wieder ab und legte ihn in
das Schächtelchen zurück. »Wenn das Zeug über den Mund aufgenommen wird, geht es direkt in den Kreislauf über. Dadurch gelangt es nicht in den Magen-Darm-Trakt, wo es abgebaut würde.«
»Woher weiß man, dass die Leute nicht einfach damit hier hereinspazieren? Als ich gestern angekommen bin, hätte ich gut fünf Kilo mitbringen können.«
Dakota lachte. Nicht über das, was er gesagt hatte, sondern über ihn. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Schnüffelsonden. In den Scannern installiert, durch die du gekommen bist. Effizienter als Hunde, weil man nicht sieht, dass sie vorhanden sind. Meinst du etwa, daran hätten wir nicht gedacht?«
»Was ist mit Besuchern? Mit Leuten, die ein und aus gehen?«
»Erstens muss jeder hier durch die Scanner, egal ob Besucher oder Bewohner«, sagte sie. »Zweitens bekommt man hier nicht gerade viel Besuch. Du weißt ja, wie viel es kostet, einen Wagen zu mieten oder einen Flug zu buchen. Als ich hier angefangen habe, hat meine Mutter mich einmal im Monat besucht. Jetzt sehe ich sie nur noch an Thanksgiving.«
»Was ist eigentlich mit Naloxon? Kann man damit eine Überdosis Oblivion behandeln?«
»Anderer chemischer Prozess. Da gibt’s nichts zu behandeln. Informier dich ein bisschen über solche Sachen, ja?«
Das Blut, das in sein Gesicht geströmt war, fühlte sich heiß an. »Ich nehme an, ihr habt euch an mich gewendet, weil ihr eine frische Perspektive haben wolltet, oder? Da werde ich dir wohl ein paar naheliegende Fragen stellen dürfen. Wenn ihr es alleine schaffen würdet, hättet ihr mich sicher nicht dazugeholt.
«
Die Worte brannten ihm im Mund. Dakota schwieg. Ihre Augen wurden ein bisschen größer.
»Tut mir leid«, sagte er. »Das war ein bisschen viel.«
»Nein«, sagte Dakota und verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Das war genau richtig. Komm, gehen wir weiter!«
Schweigend schritten sie eine Weile dahin, bis Paxton es nicht mehr aushielt. »Sag mal, was hast du denn früher gemacht?«, fragte er.
»Mehr oder weniger bloß gejobbt. Unter anderem nachts als Security, weil es da ruhig war und ich Zeit zum Lesen hatte. Deshalb bin ich auch hier gelandet, glaube ich.«
Sie kamen auf die Promenade, wo die Menschen hin und her strömten. Ab und zu sah Paxton ein blaues Poloshirt, in den Läden und auf dem höher gelegenen Laufsteg. Wenn man ihn bemerkte, nickte man ihm kurz zu.
»Ehrlich gesagt, wollte ich gar nicht als Security arbeiten«, sagte Paxton. »Ich wollte ins Depot. Im Grunde wäre mir jede Farbe außer Blau recht gewesen.«
»Und wieso?«, fragte Dakota.
»Mein früherer Job hat mich nicht gerade begeistert.«
»Hier ist es was ganz anderes als in einem Gefängnis«, sagte Dakota. »Nehme ich jedenfalls an. Abgesehen davon, verstehe ich dich schon. Als ich hier angekommen bin, war ich auch nicht begeistert. Aber es hat Vorteile, kann ich dir sagen.«
So wie sie das Wort Vorteile
aussprach, klang es geheimnisvoll. Mehr oder weniger wusste Paxton, was sie meinte. Im Gefängnis hatte man auch Vorteile gehabt. Schmuggelware zum Beispiel kam oft nicht in den Abfall, sondern in die Tasche des Wärters, der sie entdeckt
hatte. In den meisten Fällen hatte es sich um Geld oder Drogen gehandelt.
Nicht dass Paxton das je selbst beobachtet hätte. Aber er hatte so allerhand gehört.
»Wie etwa?«, fragte er.
»Wenn man sich einen Tag freinehmen will, kriegt man den von Dobbs wesentlich eher genehmigt als von irgendeinem Weißen«, sagte Dakota. »Dobbs kümmert sich um uns. Solange er sieht, dass wir das Richtige tun.«
Auch hinter diesem Satz steckte mehr. Natürlich war das so, aber Paxton wusste, dass er es sich noch nicht verdient hatte, mehr zu erfahren. Dennoch wollte er es unbedingt wissen, ein Gefühl, das ihn überraschte. Er wollte, dass Dakota ihn mochte, wollte ihren Respekt. Anerkennung war eine komische Sache. Es war wie eine kleine Pille, die man in den Mund stecken konnte, um sich gut zu fühlen.
»Security! Security!«
Die beiden sahen sich nach dem Rufer um; es war ein übergewichtiger älterer Mann in einem grünen Poloshirt, der ihnen vom Eingang eines kleinen Supermarkts her zuwinkte. Dakota trabte los, Paxton folgte ihr.
Der Laden war tatsächlich klein. Snacks und Kosmetikartikel. An der hinteren Wand ein Kühlregal für Getränke. Zeitschriftenständer. Der Mann hielt einen schlaksigen Schwarzen in einem roten Shirt am Arm. Der Schwarze, ein ganz junger Kerl, wollte sich losreißen, aber der ältere Mann war groß, kräftig und hatte ihn fest im Griff.
»Was ist denn los, Ralph?«, erkundigte sich Dakota.
»Ich hab den Typen da beim Klauen erwischt«, sagte der Mann in Grün – Ralph –, wobei er hauptsächlich Dakota ansah und Paxton nur einen argwöhnischen Seitenblick zuwarf.
»Ich hab überhaupt nichts geklaut«, sagte der Junge
und riss sich endlich los. Sobald ihm das gelungen war, rannte er aber nicht etwa davon. Er wich nur einige Schritte zurück, um Abstand zu gewinnen.
»Er hat ’nen Schokoriegel eingesteckt«, sagte Ralph.
»Nein«, sagte der Junge sichtlich erregt. »Nein, hab ich nicht!«
»Durchsucht ihn!«, sagte Ralph im Befehlston.
Der Junge drehte freiwillig die Taschen um. Sie waren leer. Sein Blick wanderte zwischen Paxton und Dakota hin und her. Er hob die Schultern. »Seht ihr?«
»Dann hat er das Ding eben schon gefuttert«, sagte Ralph.
»Und wo ist die Hülle?«, fragte der Junge.
Dakota sah Ralph an, als wollte sie die Frage wiederholen.
»Wie zum Teufel soll ich das wissen!«, sagte Ralph. »Heutzutage sind die Kids unheimlich clever. Aber geklaut hat er das Ding trotzdem. Hab ich mit meinen eigenen zwei Augen gesehen. Schon wie er reingekommen ist, hat er sich total verdächtig verhalten.«
Der Junge grinste höhnisch. »Verdächtig, klar. Was soll verdächtig an mir sein … außer dass ich zufällig schwarz bin?«
Ralph hob abwehrend die Hände. »He, he, ich bin doch kein Rassist«, rief er beleidigt. »So ’ne Beschuldigung muss ich mir nicht bieten lassen!«
»Das ist keine Beschuldigung«, brüllte der Junge fast. »Das ist die Wahrheit!«
Das war der entscheidende Moment. Der Siedepunkt, wo es entweder besser oder schlimmer wurde. Damit umgehen konnte man nur, wenn man die Kontrahenten voneinander trennte.
»Nur die Ruhe«, sagte Paxton und deutete auf Ralph. »
Sie gehen jetzt mal da rüber. Vorläufig, während wir die Sache klären.«
Ralph hob wieder die Hände, bevor er sich dann doch zu seiner Ladentheke verzog.
»Gut gemacht«, flüsterte Dakota Paxton zu, dann deutete sie mit dem Kinn auf den Jungen. »Na, hast du den Riegel geklaut oder nicht?«
Der Junge ballte die Fäuste und schüttelte sie, um seine Worte zu unterstreichen. »Wie oft soll ich’s denn noch sagen? Nein!«
»Okay, dann hör jetzt mal gut zu«, sagte sie. »Ralph ist alt, und er ist ein ziemliches Arschloch. Wenn er die Sache aufbläst, bleibt wahrscheinlich was an dir hängen, und dann besteht die Chance, dass du dir ein Minus einhandelst. Oder du schenkst ihm jetzt ein paar Credits, bezahlst also praktisch für den Riegel, und wir überreden ihn, die Sache fallen zu lassen.«
»Ich soll also für was bezahlen, was ich nicht genommen habe, bloß weil dieser rassistische alte Knacker sich aufspielt? Ist es das, was ihr wollt?«
»Nein, wir wollen, dass wir alle den Weg des geringsten Widerstands gehen«, sagte Dakota. »Was bedeutet, dass die Sache in den nächsten zwei Minuten beendet ist, niemand kriegt ein Minus, und in einem Monat erinnerst du dich nicht mal mehr daran, was dich das gekostet hat. Kapiert?«
Der Junge blickte zu Ralph hinüber, der an der Theke stand. Die Sache gefiel ihm nicht. Paxton gefiel sie auch nicht, aber er begriff, weshalb Dakota so handelte. Manchmal musste man bei kleinen Dingen eben wegschauen, um des lieben Friedens willen.
Was war ein Credit beim aktuellen Umtauschkurs eigentlich wert
?
»Das ist nicht richtig«, sagte der Junge.
»Richtig ist es vielleicht nicht, aber es ist für alle das Einfachste, auch für dich«, sagte Dakota. »Es gibt massenhaft andere Shops, in denen du einkaufen kannst, ohne auf irgendwelche fiesen alten Typen zu stoßen. Also mach schon. Tu uns allen einen Gefallen. Nimm den Schlag in den Magen einfach hin. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Der Junge seufzte. Er ließ die Schultern sinken. Dann ging er zur Theke, tippte auf seine Uhr und hielt sie an die Scheibe, die daraufhin grün aufleuchtete.
»Na also, ich hab’s ja gesagt«, blaffte Ralph triumphierend.
Der Junge hatte sich schon umgedreht, aber als er das hörte, hielt er inne. Ballte eine Hand. Senkte den Kopf und schloss die Augen. Dachte offenbar ernsthaft daran, dem Alten mit der Faust eins auf die Nase zu geben. Paxton ging auf ihn zu und stellte sich so nah vor ihn, dass Ralph nichts mitbekam.
»Er ist es nicht wert«, sagte er. »Du weißt, dass er’s nicht wert ist.«
Der Junge öffnete die Augen. Runzelte die Stirn, schob Paxton ruppig beiseite und stürmte aus dem Laden.
Dakota wandte sich an Ralph und seufzte. »Du bist ein richtiger Dreckskerl, weißt du das?«
Ralph zuckte die Achseln. Setzte ein kleines Siegesgrinsen auf. »Na und?«
Dakota marschierte hinaus, und Paxton folgte ihr. Als man sie nicht mehr hören konnte, sagte er: »Der Junge hatte nicht unrecht, weißt du das?«
»Meinst du etwa, er hätte als Einziger Probleme bekommen? Wenn ich ihn und Ralph mitgenommen hätte, was wäre dann wohl passiert? Dobbs hätte mich
beiseitegenommen und gesagt …« Sie senkte die Stimme um eine Oktave. »Und das wegen einem verfluchten Schokoriegel!« Sie stellte ihre Stimmlage wieder auf normal. »Womit er recht gehabt hätte. Wegen ein paar Credits lohnt sich so was einfach nicht.«
»Das heißt, so möchte Dobbs solche Dinge erledigt sehen?«
»Wenn ein Vorfall gemeldet wird, kommt er in die Statistik, und außerdem wird ein Bericht verfasst. Solche Berichte haben ziemliche Auswirkungen. Unsere Aufgabe ist es, die Zahlen niedrig zu halten. Stell dir das wie eine umgekehrte Quote vor. Je weniger man nach oben melden muss, desto besser.«
Sie gingen weiter. Durch den zweiten Wohnbau zum nächsten Abschnitt der Promenade und dann in das dritte Gebäude. Die Uhr von Paxton summte.
Ihre Schicht ist beendet. Ihre nächste Schicht beginnt in 14 Stunden.
Dakota blickte ebenfalls auf ihre Uhr. Sie entspannte die Schultern, wahrscheinlich aufgrund derselben Nachricht. »Du hast gute Instinkte«, sagte sie. »So wie du die beiden getrennt hast. Ich glaube, du wirst prima zu uns passen. Denk drüber nach, was Dobbs gesagt hat, okay? Hauptsächlich spaziert man in unserem Job nur durch die Gegend, um gesehen zu werden. Die Sache mit Oblivion ist wenigstens mal interessant.«
»Ich werd’s mir überlegen«, sagte Paxton.
»Gut. Bis morgen dann.«
Sie drehte sich um und ging davon, ohne eine Reaktion abzuwarten. Während er sie in der Menge verschwinden sah, knurrte sein Magen, weshalb er zu Live-Play
hinüberschlenderte. Er wusste nicht recht, was er essen wollte, bis er auf einen CloudBurger stieß. Den hatte er schon immer mal ausprobieren wollen. CloudBurger war dafür bekannt, dass es dort mit die besten und günstigsten Hamburger im ganzen Land gab, aber die bekam man eben nur in einer MotherCloud-Anlage.
Ein Hamburger war jetzt genau das Richtige. Den hatte Paxton sich verdient. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann er das letzte Mal einen gefuttert hatte. Als er das Lokal betrat, wurde er vom Geruch von brutzelndem Fleisch und Frittieröl begrüßt. Es war viel los, die meisten Stühle waren besetzt, aber da, an einem kleinen Tisch in der Ecke drüben, saß Zinnia. Der Stuhl ihr gegenüber war leer.