Gibson
Wenn man auf sein Ende zugeht, fängt man automatisch an, über sein Vermächtnis nachzudenken. Das ist ein großes Wort.
Vermächtnis.
Es bedeutet, dass die Leute auch dann noch an einen denken, wenn man tot und begraben ist, was eine ziemlich hübsche Sache ist, oder nicht? Ich glaube, das wollen wir im Grunde alle.
Komisch ist nur, dass man darüber keinerlei Kontrolle hat. Da kann man sich noch so anstrengen, eine Story zu konstruieren. Eine Geschichte darüber, wer man ist und was man alles getan hat. Letztlich entscheidet doch der Lauf der Geschichte. Was ich hier schreibe, ist völlig egal. Es wird Teil einer Bilanz werden, aber eventuell nicht der entscheidende Faktor dafür sein, wie man mich beurteilen wird.
Natürlich will ich, dass man mich positiv beurteilt. Ein Bösewicht will schließlich niemand sein. Denkt an den armen alten Christoph Kolumbus. Der Mann hat Amerika entdeckt, aber dann sind ein paar Leute darauf gekommen, dass es ihnen nicht gefiel, wie
er Amerika entdeckt hat. Sie haben behauptet, er und seine Mannschaft hätten allerhand Krankheiten mitgeschleppt, durch die die Urbevölkerung dezimiert wurde. Aber wie hätte der das wissen sollen? Als er losgesegelt ist, hatte er keine Ahnung, dass die Leute in der Neuen Welt nicht in der Lage waren, mit Sachen wie Pocken und Masern fertigzuwerden
.
Natürlich war das verdammt schade. Es ist nie schön, wenn Leute sterben, vor allem nicht durch solche Krankheiten. Aber er hat es nicht absichtlich gemacht, was meiner Meinung nach berücksichtigt werden sollte. Abgesehen davon, gibt es weitere Geschichten über Kolumbus, darüber, was er wem angetan hat, aber wir sollten uns auf das Entscheidende konzentrieren.
Er hat Amerika entdeckt. Nicht dass das nötig gewesen wäre! Dennoch hat er das Antlitz der Erde verändert.
Manchmal bedeutet so etwas, harte Entscheidungen zu treffen, was manche Leute einfach nicht kapieren. Weshalb es vor einigen Jahren doch tatsächlich dazu gekommen ist, dass man jedes Denkmal von Kolumbus niedergerissen hat, das man finden konnte. Der Höhepunkt war jene große Demonstration in Columbus, Ohio, von deren Ende ich euch nicht erzählen muss. Ich glaube, die Bilder verfolgen uns alle noch heute.
Stellt euch vor, was wäre, wenn wir Kolumbus im Jahre 1492 gerade zu dem Zeitpunkt von seinem Schiff holen könnten, wo er Land gesehen hat. Diese Verheißung eines neuen Anfangs. Und dann befördern wir ihn hierher und machen ihm klar, was sein Vermächtnis sein wird. Dass er als Bösewicht betrachtet werden wird. Ob er dann wohl weitersegeln würde? Oder würde er umkehren?
Ich weiß es nicht. Und Cloud hat das Problem der Zeitreise noch nicht gelöst (obwohl ich – das ist kein Scherz – einige Jahre lang eine Abteilung hatte, die sich damit beschäftigt hat, denn wieso sollte das nicht funktionieren?). Dazu wird es in den letzten paar Monaten meines Lebens auch nicht mehr kommen.
Jedenfalls denke ich über mein Vermächtnis nach.
Es gibt zwei Dinge, auf die ich verdammt stolz bin
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Ich habe schon davon berichtet, wie Cloud ein Modell zur Rettung der Umwelt durch die Reduktion von Treibhausgasen geschaffen hat. Ein wichtiger Aspekt davon war es, das Pendeln von daheim zur Arbeitsstätte einzuschränken. Das ist allerdings nicht in einem Vakuum geschehen. Wir haben nicht einfach eine MotherCloud errichtet und gesagt: »Erledigt! Jetzt läuft alles anders.«
Als Erstes mussten wir neu durchdenken, wie Waren produziert werden. Angeblich stellt der Kapitalismus zwar das Fundament Amerikas dar, aber es ist unglaublich, wie schwer man es früher den Unternehmen in diesem Land gemacht hat, auf einen grünen Zweig zu kommen. Deshalb haben so viele amerikanische Firmen ihre Produktion ins Ausland verlagert. Wenn man mir eine Barriere nach der anderen vor die Nase setzt, wieso sollte ich dann hier produzieren? Wieso sollte ich nicht irgendwohin gehen, wo es keine solchen Barrieren gibt?
Stellt euch mal ein Mietshaus vor. Nehmen wir an, es hat sechs Stockwerke. In diesem Haus wollen viele Leute wohnen, weil es dort ziemlich hübsch ist. Wenn jedoch immer mehr Leute einziehen wollen, denkt der Besitzer des Gebäudes: Wieso soll ich nicht eine oder zwei Etagen aufstocken? Worauf er es tut, und das ist okay. Wachstum ist schließlich etwas Gutes. Er verdient ein bisschen mehr Geld und kann besser für seine Familie sorgen.
Nehmen wir nun jedoch an, dass es in der Stadt eng wird. Immer mehr Leute ziehen zu, was dazu führt, dass der Besitzer sein Haus nicht nur aufstocken will,
er muss
das tun, um die Nachfrage zu befriedigen. Das geht darüber hinaus, mehr Geld verdienen zu wollen. Der Mann besitzt Eigentum, und dieses Eigentum ist wertvoll. Ich würde sagen, da hat er eine Verantwortung gegenüber der Stadt als solcher. Ohne Menschen kann eine Stadt
nicht wachsen. Deshalb setzt er noch eine oder zwei Etagen obendrauf. Allerdings ist die Stabilität des Fundaments beschränkt. Das heißt, man muss mit der vorhandenen Infrastruktur umgehen.
Je höher das Gebäude wird, desto instabiler wird es.
Und wenn man zu viele Stockwerke draufsetzt, bricht es in sich zusammen.
Was daran liegt, dass man versucht, einem bereits vorhandenen Modell neue Bedürfnisse aufzupfropfen.
Wesentlich klüger wäre es, das verdammte Gebäude abzureißen! Ganz von vorn anzufangen! Sich mit den Bedürfnissen zu beschäftigen, die man momentan hat, ausgiebig über zukünftige Bedürfnisse nachzudenken und auf dieser Grundlage zu bauen. Dann errichtet man nämlich ein dreißigstöckiges Gebäude und macht das Fundament so stabil, dass man noch weiter aufstocken kann, falls das nötig werden sollte.
Denkt an all die Großstädte, die praktisch unbewohnbar geworden sind, weil die Straßen für einhunderttausend Menschen geplant waren, die Bevölkerung aber auf über eine Million gestiegen ist. Kein Wunder, dass dann die Kanalisation zusammenbricht und auseinanderfällt, weil ein Mehrfaches an Menschen seinen Abfall wegspült.
Ich will darauf hinaus, dass man manchmal überdenken muss, wie man die Dinge tut, anstatt zu versuchen, auf unsicherem Boden zu bauen. Deshalb habe ich mich so beharrlich für Gesetze eingesetzt, die das Wirtschaftswachstum fördern, anstatt es zu behindern. Zum Beispiel das Gesetz zur Vermeidung bürokratischer Hürden. Früher hat man Jahre gebraucht, bis man ein Gebäude errichten und geschäftlich nutzen konnte. Man musste allerhand Untersuchungen finanzieren und massenhaft
Auflagen erfüllen, die größtenteils sinnlos waren. In einem Bundesstaat zum Beispiel – ich glaube, es war Delaware – musste man bei einer bestimmten Behörde eine Umweltverträglichkeitsstudie einreichen, für die man eine Stange Geld und etwa sechs Monate brauchte. Nun gab es aber noch eine andere
Behörde, die eine solche Studie haben wollte, nur dass man nicht dieselbe Studie für beide Behörden verwenden konnte. Das heißt, man musste zweimal exakt dasselbe machen lassen – und die Kosten schlucken. Im Grunde diente das nur dazu, dem Amtsschimmel Futter vorzuwerfen.
Ganz und gar verratzt warst du schließlich, wenn du versucht hast, ein Gebäude zu errichten, ohne mit einer von den Baugewerkschaften zusammenzuarbeiten. Dann haben sie dir eine riesige aufblasbare Ratte vor die Zentrale gestellt und alle Leute angebrüllt, die durch den Eingang gehen wollten. Hast du jedoch versucht, dich mit diesen Leuten zu einigen, so hast du das Vierfache vom üblichen Lohn bezahlt, ganz zu schweigen davon, dass die Arbeitsleistung schlechter war. Wenn die Leute einen sicheren Arbeitsplatz haben, strengen sie sich nicht so an. Leute, die sich ihren Lohn wirklich verdienen müssen, arbeiten härter. Deshalb habe ich mich derart für das Gesetz gegen die Behinderung von Bauvorhaben eingesetzt. Jetzt sieht man diese aufblasbaren Ratten nicht mehr. Sobald jemand eine aufstellt, kann die Polizei sie sofort entfernen und in den Abfall befördern, wo sie hingehört.
Oder das Gesetz über papierlose Währung, das die Regierung dazu gezwungen hat, die Nahfeldkommunikation sicherer und populärer zu machen, damit wir aufhören konnten, so viel Papiergeld zu drucken und auszutauschen
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Bei weitem am wichtigsten war jedoch das Gesetz zur Vermeidung von Mechanisierung, das bestimmte Einstellungsquoten und die maximale Anzahl an Arbeitsplätzen festlegt, die ein Unternehmen durch Roboter ersetzen kann. Das war das Umstrittenste, was ich je in die Wege geleitet habe, noch umstrittener als das Rating-System für Mitarbeiter, weil viele andere Unternehmer deshalb richtig zornig auf mich waren. Tatsächlich könnten viele Aufgaben bei Cloud kostengünstiger erledigt werden, wenn wir dafür Roboter einsetzen würden. Damit könnten wir womöglich eine oder zwei weitere Milliarden einsparen. Aber ich will, dass die Leute Arbeit haben! Wenn ich durch ein Warendepot gehe, will ich Männer und Frauen sehen, die in der Lage sind, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Dadurch hat sich das Blatt in vielerlei Hinsicht gewendet. In dem Jahr bevor wir das Gesetz zur Vermeidung von Mechanisierung durchgedrückt haben, betrug die Arbeitslosenquote circa 28 Prozent. Und zwei Jahre später? Drei Prozent. Die Zahl lässt mich nachts ruhig schlafen. Abgesehen davon, haben sich die ganzen anderen Unternehmer schließlich damit abgefunden, als ihnen klar wurde, dass die Steuererleichterungen nicht von Pappe sind.
Jeder einzelne dieser Faktoren hat meine Aufgabe erleichtert, hat mir geholfen, Cloud wachsen zu lassen und vielen Leuten gut bezahlte Jobs zu verschaffen. Darauf bin ich stolz, nicht nur aus eigenem Interesse, sondern auch mit Blick auf die ganzen anderen Unternehmen, die ich damit gefördert habe.
Allerdings wäre es ziemlich traurig, wenn das mein einziges Vermächtnis wäre, und ich bin froh darüber, dass das nicht der Fall ist
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Mein anderes Vermächtnis ist meine Tochter Claire.
Claire ist unser einziges Kind. Bisher habe ich zwar nie darüber gesprochen, aber Molly hatte eine schwere Schwangerschaft, weshalb wir entschieden haben, dass ein Kind genug ist. Als Claire geboren wurde, hat man mich gefragt, ob ich enttäuscht sei, weil ich ein Mädchen und keinen Jungen bekommen hätte. Das hat mich richtig zornig gemacht. Da war diese wundervolle kleine Person, das vollkommenste Wesen auf der Welt, ein sichtbarer Ausdruck der Liebe, die ich für meine Frau empfand – wie hätte ich da auch nur ein Fünkchen Bedauern empfinden können? Was muss man für ein Mensch sein, dass man so eine Frage überhaupt stellt?
Claire war ein Glückskind. Sie wurde zu der Zeit geboren, wo Cloud richtig in die Gänge kam, weshalb ihr nie etwas gefehlt hat, aber das heißt nicht, dass ich es ihr leicht gemacht hätte. Sobald sie alt genug war, habe ich sie zur Arbeit geschickt. Im Büro, mit verschiedenen kleinen Jobs. Habe ihr sogar ein kleines Gehalt bezahlt. Ich glaube zwar nicht, dass ich damit irgendwelche Gesetze gegen Kinderarbeit missachtet habe, aber garantieren kann ich das nicht.
Jedenfalls wollte ich Claire damit klarmachen, dass einem in diesem Leben niemand etwas schenkt. Man muss sich alles erarbeiten. Außerdem war ich nie darauf aus, dass sie in meine Fußstapfen tritt. Sie sollte in die Welt hinausziehen und ihr eigenes Ding machen. Aber sie war einfach so verdammt intelligent und so interessiert daran, wie alles bei Cloud funktionierte. Da dauerte es nicht lange, bis sie sich einstellen ließ. Ob ihr es glaubt oder nicht, das hat sie unter einem Decknamen gemacht und in einer Niederlassung, wo niemand sie kannte. Sie wollte mir zeigen, dass sie es schafft. Wir haben uns alle
köstlich darüber amüsiert, obwohl das im Grunde ein (wenn auch geringfügiges) Täuschungsdelikt war.
Nachdem sie das durchgezogen hatte, habe ich sie in die Zentrale geholt und von da an immer denselben Maßstab an sie angelegt wie an alle anderen. Sie ist beurteilt worden wie jeder andere Mitarbeiter, und ich habe dafür gesorgt, dass dieses Rating durch nichts beeinflusst wurde, was ich sagte oder tat. Claire lag konstant bei vier Sternen, Jahr für Jahr. Ein einziges Mal gab es einen Ausreißer auf drei Sterne, aber das war das Jahr, wo sie ihr erstes Kind bekommen hat und nicht so oft im Büro war. Bei so was kann man einfach nichts machen.
Worauf es ankommt: Ich habe eine kluge, starke Frau großgezogen. Eine Person, die mir vor einem Raum voller Menschen offen ins Gesicht sagt, wenn ich unrecht habe. Eine Person, die auf unerwünschte Avancen mit einer Ohrfeige reagiert. Eine Person, die ich mit Stolz meine Tochter nenne. Sie hat mich auf tausenderlei Weise zu einem besseren Menschen gemacht. Aber auch Cloud ist durch sie zu einem besseren Unternehmen geworden.