Gibson
Ist eine Weile her, seit wir uns unterhalten haben, hm?
Ich tue mein Bestes, aber leicht ist es nicht. Jeden Tag spüre ich, was mit mir los ist. Inzwischen macht es mir ein bisschen mehr Mühe, aus dem Bett zu steigen. Im Bauch spüre ich jetzt so ein Pochen. Ich trinke Kaffee wie ein Irrer, um mich tagsüber aufrecht zu halten.
Wisst ihr, worüber ich ständig nachdenke?
Meine letzten Male.
Wisst ihr, neulich sind wir durch New Jersey gerollt, und als wir auf dem Garden State Parkway nach Süden fahren, sage ich zu Jerry, meinem Fahrer, er soll an einem bestimmten Sandwich-Laden stoppen. Bud’s Subs. Ich schwöre euch, es gibt nirgendwo anders ein besseres Sandwich auf unsrer schönen Erde, und deshalb muss ich einfach haltmachen, wenn ich mich dem Laden auf dreißig Meilen nähere. Jerry biegt also vom Parkway ab, und dann muss der arme Kerl sich doch tatsächlich eineinhalb Stunden die Beine in den Bauch stehen, bloß um reinzugelangen. So beliebt ist der Laden.
Schließlich kommt Jerry mit dem Bud Sub Special wieder. Also, das Ding ist ein Monstrum. Sechzig Zentimeter lang, mit Salami, Provolone, Schinken, Coppa und Peperoni. Früher habe ich mir immer zwei besorgt, eines für sofort und eines für später. Aber diesmal habe ich mir nur eines bestellt, weil mein Appetit nicht so besonders war. Ich dachte, ich würde erst mal nur die eine Hälfte essen und mir die andere für den nächsten Tag aufsparen. Und als ich etwa die Hälfte weghatte und
vergnügt vor mich hin kaue, wird mir klar, dass es wahrscheinlich das letzte Mal sein wird, dass ich so ein Sandwich esse.
Ich habe das Ding beiseitegelegt und bin ein bisschen melancholisch geworden. Was hatte ich eigentlich sonst noch zum letzten Mal getan? Zum Beispiel werde ich wahrscheinlich keine Zeit mehr finden, jagen oder angeln zu gehen, was die einzigen Aktivitäten sind, bei denen ich mich komplett ausklinke und weigere, mein Handy einzuschalten. Auch einen Weihnachtsmorgen mit meiner Frau und meiner Tochter werde ich nicht mehr erleben. Das hat mich ziemlich mitgenommen, weshalb ich eine ganze Weile wirklich nicht in der Stimmung war, etwas zu schreiben.
Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr akzeptiere ich es. Wie alles andere ist es genau das, was mir das Schicksal vorgesetzt hat, und obwohl ich es nicht mag, muss ich damit umgehen. Deshalb dachte ich, heute wäre ein guter Tag, mich wieder zu melden und ein bisschen über das zu sprechen, was so abläuft. Bei Cloud ist heute nämlich Bilanztag. Den haben wir zwar nur vier Mal im Jahr, aber jedes Mal regen die Leute sich furchtbar auf. Man hat ihn als barbarisch bezeichnet. Da bin ich anderer Meinung. Ich habe es ja schon früher gesagt: Es nützt weder dir noch deinem Arbeitgeber, wenn du einen Job machst, für den du nicht geeignet bist.
Nicht dass ich glücklich darüber wäre. Am liebsten würde ich niemand gehen lassen. Aber es ist besser für die Betroffenen, und es ist besser für mich, weshalb es mich auf die Palme bringt, was darüber gefaselt wird. Diese ganzen unwahren Geschichten, dass die Leute mit Gewalt vor die Tür gesetzt werden, sich unter einen Zug werfen und dergleichen. So was kommt schlicht
und einfach nicht vor, und wenn es doch mal passieren sollte, ziemlich selten, und damit ist es wahrscheinlich ein Anzeichen dafür, dass die Betroffenen irgendwelche anderen Probleme haben. Es ist hundsgemein, uns für solche Leute verantwortlich zu machen, das heißt für deren psychischen Zustand, und es dient lediglich dazu, das Märchen von Cloud als einer Art bösartigem Imperium weiterzuverbreiten. Ich habe eine ziemlich gute Ahnung, wer so etwas tut – dieselben Genies, die für die Massaker am Black Friday verantwortlich waren –, werde jedoch lieber nicht deutlicher, weil ich schon höre, wie meine Anwälte kollektiv in Schnappatmung verfallen.
Worauf ich hinauswill – ein Job muss etwas sein, was man sich verdient, nicht etwas, was man einfach überreicht bekommt. Das ist der amerikanische Imperativ: Strebe nach Größe! Nicht: Jammere wegen etwas, was jemand anderes hat.
Tut mir leid. Wie schon gesagt, mir geht in letzter Zeit viel im Kopf herum. Trotzdem versuche ich, positiv zu bleiben, und ich werde mich anstrengen, das auch hier zu tun, weil es keinen Sinn hat, euch mit so was zu belasten. Diese Last muss ich alleine tragen.
Wichtig ist hingegen, dass meine Reise durchs Land ganz gut läuft. Nach New Jersey haben wir uns auf den Weg nach Pennsylvania gemacht, zu einer der ersten MotherClouds, die ich errichtet habe. Ich war jahrelang nicht dort, und es war toll zu sehen, was daraus geworden ist. Anfangs gab es zwei Wohnbauten mit je sechs Stockwerken. Jetzt sind es vier, alle haben zwanzig Etagen, und die Anlage wächst weiter. Im Grunde sieht sie wie ein riesiger Bauplatz aus. Ich liebe Baumaschinen. Das Geräusch eines Baggers ist das Geräusch des Fortschritts. Besonders schön war es, das in Pennsylvania zu
beobachten. Historisch gesehen, hat der Schwermaschinen- und Baumaschinenbau zu den wichtigsten Industriezweigen in diesem Staat gehört. Das weiß ich nur zu gut, schließlich habe ich diesen Zweig vor etwa zwölf Jahren selbst übernommen.
Als ich dort ein bisschen herumspaziert bin, habe ich einige wirklich nette Leute kennengelernt. Das war eine gute Erinnerung daran, weshalb ich meine letzten paar Monate unterwegs verbringe, anstatt zu Hause zu hocken und Trübsal zu blasen. Ich tue das wegen Leuten wie Tom Dooley, einem unserer erfahrensten Sammler.
Wir kamen ins Gespräch, und da wir beide alte Hasen sind, hatten wir viel gemein. Er hat mir erzählt, wie er bei der letzten Wohnungskrise sein Haus verloren hat, weshalb er und seine Frau schließlich einen schrottreifen Campingbus gekauft haben, um darin zu wohnen. Wie sie damit durch die Gegend gefahren sind und sich mit Hilfsarbeiten über Wasser gehalten haben, bis sie eines Tages an einer Tankstelle gehalten haben, um Sprit nachzufüllen. Leider hatten sie ihre Finanzen aus dem Blick verloren – Toms Frau hatte einen Scheck ausgeschrieben und vergessen, ihm davon zu erzählen –, und das Konto war leer. Deshalb saßen sie mitten in Pennsylvania fest, ohne Geld, ohne Ziel und mit kaum genügend Proviant, die Woche zu überstehen.
Das war genau die Woche, wo die MotherCloud von Pennsylvania eröffnet hat. Wie das Schicksal so spielt! Tom und seine Frau haben dort gute Jobs und eine Wohnung bekommen, wofür sie unheimlich dankbar sind, was mich wiederum ungemein freut. Er hat gesagt, das sei mir zu verdanken, aber ich habe erwidert: Nein, Tom, das stimmt nicht. Ihre Frau und Sie, habe ich gesagt, haben es geschafft, weil Sie hart gearbeitet und
nicht aufgegeben haben. Ihr beide habt euch nicht unterkriegen lassen.
Wir haben so lange miteinander geplaudert, dass wir schließlich zusammen in die Cafeteria gegangen sind, um einen Happen zu essen. Dort habe ich mich an einen Manager gewandt, der Margaret – so heißt die Frau von Tom – von ihrem Arbeitsplatz im technischen Support losgeeist und zu uns gebracht hat. Wir drei haben uns bestens unterhalten. Ich wette, die beiden werden in den nächsten paar Wochen ziemlich gefragt sein. Ihr hättet die ganzen Leute sehen sollen, die mit ihnen sprechen wollten, nachdem ich mich verabschiedet hatte.
Tom und Margaret – danke für eure Freundlichkeit und dafür, dass ihr einem alten Mann beim Schwadronieren zugehört habt! Ich freue mich, dass es euch beiden so gut geht, und ich wünsche euch noch viele Jahre Glück und Zufriedenheit.
Die beiden zu sehen hat mich richtig aufgebaut.
Ach, ich wollte ja noch etwas berichten: Ich bin bereit zu verkünden, wer meine Nachfolge antreten wird.
Und das wird …
… in meinem nächsten Posting geschehen!
Tut mir leid, ich wollte euch nicht auf die Schippe nehmen. Aber angesichts der Tatsache, dass heute Bilanztag ist, will ich nicht zu der Hektik beitragen, die an solchen Tagen in unseren Cloud-Anlagen herrschen kann. Nur so viel – die Entscheidung ist gefallen. Erwartet jedoch bitte keine Leaks! Ich habe es bisher nur einer einzigen Person erzählt, meiner Frau Molly, und da werde eher ich
es versehentlich ausplaudern, als dass sie etwas verraten würde. Das Geheimnis ist also gut gehütet. Ihr könnt euch darauf verlassen, bald mehr zu hören. Übrigens glaube ich, dass dann alle zufrieden
sein werden. Meiner Meinung nach ist es die logischste Wahl.
So, das wäre alles für heute. Jetzt geht es weiter nach Westen zu einigen weiteren letzten Erlebnissen. Wie ich festgestellt habe, ist es wichtig für mich, so zu denken, weil es mich etwas wirklich Wichtiges gelehrt hat – kürzerzutreten und die Dinge zu genießen, weil man nie weiß, wann es vorüber sein wird. Ganz ehrlich, nachdem ich mich wieder zusammengenommen hatte, hat mein Bud Sub Special besser denn je geschmeckt.
Ich werde es vermissen, aber ich bin froh, dass ich es gegessen habe.