Zinni a
Ganz in der Nähe sank eine Frau auf die Knie und stieß einen verzweifelten Schrei aus.
In diesem Moment hatte Zinnia gerade versucht, die gelbe Linie in den grünen Bereich zu locken. Darauf fixiert, musste sie ein Zucken in den Beinen unterdrücken, als sie stehen blieb, um festzustellen, was geschehen war. Etwa ein Dutzend andere Leute in Rot taten dasselbe.
Die Frau war etwa Mitte dreißig. Pink gefärbte Haare, das Gesicht von Sommersprossen übersät. Sie war sehr hübsch, aber jetzt auch sehr traurig. Schluchzend blickte sie auf ihre Uhr, als könnte das, was sie da sah, sich ändern, wenn sie nur fest genug hinstarrte.
Neben Zinnia stand eine ältere Frau, deren silberweiße Haare sich zu Löckchen ringelten. Sie schüttelte den Kopf und machte ts, ts, ts . »Die arme Kleine …«
»Was ist denn passiert?«, fragte Zinnia.
Die ältere Frau sah sie an, als müsste sie das wissen. »Bilanztag«, sagte sie. Dann blickte sie auf den Artikel in ihren Händen – eine externe Tastatur für ein Tablet – und marschierte schnell davon, um das richtige Förderband zu finden. Zinnia betrachtete noch einige Sekunden die Szene, bis jemand anderes, offenbar eine Bekannte der Frau auf dem Boden, zu dieser trat und sie tröstete. Dann wandte sie sich wieder ihrer Aufgabe zu, einen rosa Werkzeugkasten zu holen.
Noch aus der Entfernung spürte Zinnia den Schrei der Frau mit den pinkfarbenen Haaren tief in ihrer Brust. Es war ein archaischer Laut gewesen, ein Ausdruck von Kummer, wie er sonst nur bei einem Begräbnis oder körperlicher Folter vorkam. Vom Verstand her sagte sich Zinnia, sie müsse sich zusammennehmen, aber sie konnte nicht leugnen, dass es ihr kalt ums Herz wurde.
Während sie durch den Raum ging, stieß sie auf weitere Leute, die auf den Knien lagen oder reglos dastanden und auf die frischen Trümmer ihres Lebens starrten.
Als sie gerade einen Artikel auf einem Förderband deponierte, sah sie einen Mann in Rot mit einem in Weiß diskutieren. Es ging um eine Fußverletzung, mit der der Rote nicht so schnell vorwärtskam. Da sich der Weiße davon offenbar nicht beeindrucken ließ, ballte der Rote die Fäuste und konnte sich sichtlich kaum zurückhalten. Ein Gewaltausbruch lag in der Luft wie ein Geruch nach Blut und flüssigem Kupfer. Zinnia wollte stehen bleiben, um zu beobachten, was geschah, doch als sie auf ihre Uhr blickte, sah sie die gelbe Linie ein Stück schrumpfen.
Kabellose Ohrhörer. Fitness-Tracker. Buch. Sneakers. Schultertuch. Bauklötze. Geldbörse mit RFID -Schutz …
Als sie die Geldbörse zum vorgesehenen Laufband trug, spürte sie mit den Fingern, dass etwas mit der Klappverpackung nicht stimmte. Sie hob die Schachtel vors Gesicht und sah, dass sich an der Seite ein Schlitz befand. Die Geldbörse sah zwar unbeschädigt aus, aber Zinnia wusste nicht recht, wie sie mit der beschädigten Ware umgehen sollte. Sie überlegte kurz, ob sie zurückgehen und den Artikel umtauschen sollte, aber die Regale hatten inzwischen bestimmt die Position gewechselt, und außerdem hatte sie die Nummer der Box vergessen. Sie hielt sich die Uhr vor den Mund und sagte: »Miguel Velandres.«
Miguel Velandres ist momentan nicht im Dienst .
»Manager.«
Das sanfte Summen führte sie durch die Halle. Sie war beinahe eine halbe Stunde unterwegs, in der die gelbe Linie gnädig pausierte. Obwohl sie an sechs Leuten in weißen Shirts vorüberkam, schickte die Uhr sie immer weiter. Was Zinnia wie Verschwendung vorkam, aber vielleicht war sie ja auf dem Weg zu einem Spezialisten.
Sie erreichte einen langen Gang mit Haushaltswaren und Badezimmerzubehör. Matten, Duschregale, Vorhänge, Toilettensitzabdeckungen. Die Uhr summte, ohne wieder aufzuhören.
»Da bist du ja!«
Sie drehte sich um und sah Rick vor sich stehen.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein!«, rief sie aus.
Rick grinste, wobei gelbliche Zähne zum Vorschein kamen. »Tja, du bist einfach so hübsch, dass ich dich in meine Liste aufgenommen habe. So kann ich dein Standardmanager sein, falls du etwas brauchen solltest. Weißt du, Zinnia, man wird hier besser behandelt, wenn man so eine Beziehung hat.«
Sie wollte ihm einen Magenschlag verpassen. Sie wollte ihm ins Gesicht kotzen. Sie wollte wegrennen. Sie wollte alles lieber tun als das, was sie tat – sie hielt ihm die Schachtel hin. »Die ist offen. Ich weiß nicht, was man mit einer beschädigten Verpackung macht.«
Er nahm die Schachtel entgegen, wobei er die Hand weiter ausstreckte als nötig, sodass er Zinnia leicht berührte. Seine Haut war kalt. Reptilienhaft. Aber vielleicht lag das nur an Zinnias Fantasie, die ihren Abscheu ausdrückte. Sie bezähmte das Erschaudern in ihren Schultern.
»Sehen wir mal«, sagte Rick. Er drehte die Verpackung in den Händen und fand den Schlitz. »Ist eventuell bei der Anlieferung beschädigt worden. Du hast gut daran getan, das Ding herzubringen. Schließlich wollen wir nicht, dass unsere Kunden schadhafte Artikel erhalten.«
Er trat einen Schritt näher an Zinnia heran und hob seine Uhr.
»In solchen Fällen verfährt man folgendermaßen, Süße«, sagte er ganz langsam, als müsste er einem Kind etwas erklären. »Wir halten unsere Uhr so, wie ich es dir zeige, und sagen beschädigter Artikel . Dann wird uns ein Förderband zugewiesen, genau wie sonst auch.«
Er grinste sie an, als hätte er ihr gerade das Geheimnis des ewigen Lebens mitgeteilt. Zinnia roch seinen Atem. Thunfisch. Sie spürte einen Würgereflex.
»Das hätte man dir eigentlich schon bei der Orientierung erklären sollen«, sagte Rick und hob die Augenbrauen, als würde er sich ärgern. »Kannst du mir mal den Namen der Person nennen, die dafür verantwortlich war?«
Zinnia dachte einen Moment lang darüber nach. Wahrscheinlich hatte Miguel das schlicht vergessen. Weil sie ihn nicht in Probleme bringen wollte, sagte sie: »John oder so.«
Rick schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »So was musst du dir aber wirklich merken, Zinnia.«
»Oje.«
»Keine Sorge, das wirst du bestimmt wiedergutmachen.« Er hob seine Uhr und tippte aufs Display. Ihre Uhr summte. Sie warf einen Blick darauf und sah, dass sie zu einer Packung Gitarrenpicks geschickt wurde.
»Nur zu!«, sagte Rick. »Wir sehen uns. Du bist um sechs Uhr fertig, oder?«
Zinnia antwortete nicht. Sie drehte sich einfach um und ging davon .
Den restlichen Tag überstand sie, indem sie sich ganz auf das Spiel mit der gelben Linie konzentrierte. Sie hatte beim Beobachten der Leute, die weinend auf ihren Rausschmiss reagiert hatten, etwas Zeit verloren. Deshalb konnte sie sich noch so sehr abhetzen, es gelang ihr nicht, auf Grün zu kommen.
Auf dem Weg durch die Schleuse überlegte sie, ob sie in der Eingangshalle ihres Wohnbaus einen Blick in den Flur werfen sollte. Wenn die Luft rein wäre, könnte sie den Kollektor einsetzen. Allerdings war ihr klar, dass sie im Moment von Wut und Abscheu erfüllt war. Von solchen Emotionen durfte sie ihre Entscheidungen nicht beeinflussen lassen.
Sie fuhr hinauf in ihre Etage, wo mehr los war als sonst. Normalerweise sah sie dort nur ein, zwei Leute, die auf dem Weg zu den Sanitäranlagen oder zur Arbeit waren, aber jetzt hatte sich ein halbes Dutzend um einen großen älteren Mann mit Bürstenhaarschnitt und schlaffer Haut geschart. Er trug eine Reisetasche über der Schulter und blickte zu Boden, während die anderen ihn trösteten. Zwei Security-Leute, ein Afroamerikaner und eine Frau mit indischen Gesichtszügen, standen in der Nähe und behielten das Ganze im Blick. Cynthia war ebenso bei der Gruppe wie die junge Frau mit den comichaft großen Augen. Harriet? Nein, Hadley.
Hadley, das nette Mädel.
Zinnia beobachtete das Geschehen, von dem sie etwa zehn Türen weit entfernt war. Es war eine Abschiedszeremonie. Umarmungen, Küsse auf die Wange, Rückenklopfen. Offenbar hatte der Mann, um den es ging, eine ganze Weile hier gewohnt. Der Umgang mit ihm hatte eine Wärme an sich, bei der Zinnia wieder ganz kalt ums Herz wurde .
Die im Flur Stehenden schienen zu zögern, als wollten sie nicht zu etwas anderem übergehen, sondern für immer in diesem Augenblick verharren. Schließlich klatschte Cynthia in die Hände, um alle auf sich aufmerksam zu machen. Es war Zeit zu gehen. Da der Abschied beendet war, ging der ältere Mann davon, gefolgt von den beiden Security-Leuten – nicht so nah, als dass sie ihn regelrecht eskortiert hätten, aber nah genug, ihn fest im Blick zu haben. Als er an Zinnia vorüberkam, sah sie, dass an seinem CloudBand zwei winzige glitzernde Spielwürfel baumelten. Die anderen machten sich auf den Weg in ihre Wohnungen. Nur Cynthia blieb zurück. Sie blickte zu Zinnia herüber und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Kaum zu glauben, was? Dann drehte sie ihren Rollstuhl in Richtung ihrer Wohnung.
Zinnia blieb mit der Hand an ihrem Türknauf stehen, doch anstatt hineinzugehen, machte sie sich auf den Weg zu Cynthia.
An der Tür angelangt, klopfte sie. Einige Momente später schwang die Tür nach innen auf. Cynthia lächelte. »Na, was kann ich für dich tun, meine Liebe?«
»Ich würde gern was mit dir besprechen«, sagte Zinnia. »Vertraulich.«
Cynthia nickte. Zinnia hielt die Tür auf, damit ihre Gastgeberin rückwärts in die Wohnung zurückrollen könnte. Dann trat sie selbst ein und schloss die Tür. Cynthia fuhr ganz bis zur hinteren Wand, damit Zinnia genügend Platz hatte, sich auf das Bett zu setzen.
»Ganz schöner Hammer, was?«, sagte Cynthia. »Dass sie den rausgeschmissen haben, meine ich.«
»Wer war das denn?«
»Bill«, sagte Cynthia. »Aber alle haben ihn nur Dollar Bill genannt, weil er seine ganze Freizeit im Spielkasino verbracht hat. Acht Jahre war der hier.«
»Wieso muss er denn gehen?«
»Er hat’s bis zur Rente geschafft, genauer gesagt bis zur reduzierten Arbeitszeit. Weil er noch ziemlich fit war und gern durch die Gegend marschiert ist, hatte er beschlossen, Sammler zu bleiben, worauf man ihn auf die Seniorenquote gesetzt hat.« Cynthia seufzte und blickte in die Ferne, als würde sie Bill noch hinterhersehen, wie er den Flur entlangtrottete. »Aber als er älter wurde, hat er nicht mal mehr die geschafft, obwohl er gemeint hat, das würde schon gehen, und … Na ja, da ist es eben so gekommen, wie’s gekommen ist.« Sie sah Zinnia an. »Verdammt schade. Er hätte sich einfach versetzen lassen sollen.«
»Wie geht das denn?«
»Wenn man sich verletzt oder etwas nicht mehr schafft, kann man beantragen, woanders hinzukommen«, sagte Cynthia. »Zum Beispiel war ich früher Sammlerin, bis ich von einem Regal gefallen bin. Jetzt bin ich von der Taille abwärts gelähmt.«
»Du lieber Himmel!«, sagte Zinnia schaudernd.
Cynthia zuckte die Achseln. »Ich hab mich nicht eingehakt, also war es mein eigener Fehler. Trotzdem hab ich Glück gehabt. Cloud hat mich behalten und zum Kundensupport versetzt. Telefonieren und am Computer arbeiten kann ich ja noch. Na, wie auch immer, jedenfalls hätte Bill akzeptieren sollen, dass er eine zu seinem Tempo passende Arbeit bekommt, aber das wollte er eben nicht.«
Zinnia lehnte sich auf der Matratze zurück. Jetzt war ihr erst recht kalt geworden. »Was dir da zugestoßen ist, tut mir echt leid. «
Cynthia zuckte wieder die Achseln und lächelte gequält. »Immerhin habe ich ja einen Job.« Sie beugte sich vor und tätschelte Zinnia am Knie. »Aber entschuldige bitte, du hast gesagt, du willst mich etwas fragen, und ich habe bloß von mir erzählt. Also, worum geht es?«
»Tja, ich …«
»Ach je!« Cynthia schlug die Hand vor den Mund. »Wie unhöflich von mir. Möchtest du vielleicht was zu trinken? Bedienen wirst du dich leider selber müssen, aber anbieten hätte ich’s dir schon längst sollen.«
Zinnia schüttelte den Kopf. »Nein, ist schon gut, danke. Es geht mir bloß darum … Das wird doch unter uns bleiben, oder? Ich will nämlich etwas beurteilen können, was passiert ist.«
Cynthia nickte so ernst, als würde sie einen Blutschwur ablegen.
»Ich bin nämlich auf einen bestimmten Typen gestoßen«, sagte Zinnia. »Einen Manager. Rick …«
Cynthia schnaubte. Verdrehte die Augen. »Rick.«
»Also hab ich die Sache richtig eingeschätzt?«
»Und ob«, sagte Cynthia. »Er wohnt am anderen Ende vom Flur. Lass mich mal raten. Hat er mit dir das Schildvertauschespielchen gespielt, als du duschen gegangen bist?«
»Wie kommt es, dass so jemand immer noch hier arbeitet?«
Cynthia ließ den Kopf sinken. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist er mit jemand Wichtiges verwandt, oder das obere Management will sich einfach nicht damit befassen. Ich weiß nur, dass sich einmal eine von uns bei der Personalabteilung über ihn beschwert hat – Constance hieß sie, ein richtig lieber Mensch –, und am nächsten Bilanztag war sie weg vom Fenster. Sie hat beim Support gearbeitet, ganz in meiner Nähe, und sie war total clever.« Sie seufzte. »Ich weiß schon, dass das nicht besonders angenehm ist, und es ist natürlich auch nicht die Antwort, die du hören wolltest. Aber … wenn du ihn siehst, verzieh dich woandershin. Geh ausschließlich in die Frauendusche. Wenn du Glück hast, nimmt er bald jemand anderes aufs Korn.«
Das Mitgefühl, das Zinnia empfunden hatte, löste sich in Luft auf.
Glück. So wie Cynthia das Wort ausgesprochen hatte, klang es deformiert.
»Ich habe heute wegen irgendwas einen Manager gebraucht und wurde direkt zu ihm geleitet«, sagte Zinnia.
»Dann hat er ein echtes Interesse an dir«, sagte Cynthia. »Das ist nicht gut.«
»Was meinst du, wie weit er gehen wird?«
»Dumm ist er nicht«, sagte Cynthia. »Das heißt, er wird keine Gewalt anwenden, um dich ins Bett zu kriegen oder so. Er ist einfach ein Ekel. Beglotzt einen gern. Was ich dir rate? Tja …« Sie seufzte wieder. »Geh damit um.«
Einen Moment lang wusste Zinnia nicht recht, auf wenn sie zorniger war, auf Cynthia oder auf Rick. Dann merkte sie, dass ihr Zorn noch größer war. Er war wie jemand, der neben ihr stand und sie dazu antrieb, etwas zu unternehmen.
Sie bedankte sich bei Cynthia und verließ schleunigst die Wohnung, bevor sie etwas von sich gab, was sie später vielleicht bedauert hätte. Marschierte durch den Flur, hielt ihre Uhr an den Scanner und ließ sich drinnen auf die Matratze fallen. Dann schaltete sie den Fernseher ein und hoffte, dass seine Geräusche den Lärm in ihrem Kopf übertönten .
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie hob ihr CloudBand und fragte: »Wie ist mein Rating?« Ohne zu wissen, ob das überhaupt ein legitimer Befehl war.
Auf dem Display leuchteten vier Sterne auf.
»Fick dich«, sagte sie.
Sie holte das Multitool von ganz hinten in der Küchenschublade hervor, stieg aufs Bett, löste den Wandbehang und machte sich an die Arbeit. Es fehlten nur noch etwa zehn Zentimeter, und diesmal hörte sie nicht auf, bis sie fertig war. Sie rammte das Messer so in die Decke, wie sie es am liebsten Rick in die Kehle gebohrt hätte. Mit einer letzten Staubwolke löste sich das Rechteck aus Gipskarton.
Sie ließ das Bruchstück aufs Bett fallen, fuhr mit den Händen am Rand der Öffnung entlang, um den besten Halt zu finden, und hievte sich dann in den Raum zwischen den Platten und der eigentlichen Decke. Mit der Taschenlampe ihres Handys leuchtete sie ringsum. Was sie sah, war ein Durcheinander aus Kabeln und Rohren. Es roch nach etwas Verfaultem. Der Zwischenraum war jedoch so hoch, dass man darin herumkriechen konnte, und da die Zwischenwände sichtbar waren, würde sie nicht bei irgendjemand anderes durch die Decke krachen.
Von hier waren es circa siebenunddreißig Meter bis zur Frauentoilette. Das hatte sie mit Schritten abgemessen.