Paxto
n
Der Mann mit den zusammengewachsenen Augenbrauen rempelte Paxton so heftig mit der Schulter an, dass er fast zu Boden gegangen wäre. Er fing sich gerade noch und sah den Mann an, weil er eine Entschuldigung erwartete, aber der andere knurrte nur: »Verdammte Scheiße! Jetzt warte ich schon eine geschlagene Stunde.«
Inzwischen war der Mann in den Terahertz-Scanner getreten und hob die Arme, um sich von den mechanischen Flügeln umkreisen zu lassen. Paxton warf einen Blick zu Robinson, der Frau am Monitor, die daraufhin leicht nickte: Keine Schmuggelware.
Niemand hatte etwas in den Taschen. Niemand war so dämlich, hier etwas zu klauen. Alle wussten, was das bedeutet hätte: sofortige Entlassung. Noch nicht mal die Zeit, seine Habseligkeiten zu packen, bekäme man gewährt. Man würde sofort nach draußen geschleppt und dort stehen gelassen werden.
Drei Tage stand Paxton nun schon hier und zählte die Rempelei des Mannes im Scanner noch zu seinen angenehmeren Begegnungen. Niemand hatte besondere Lust, nach einem langen Tag auf den Beinen auch noch Schlange zu stehen. Deshalb tat Paxton, was er am besten konnte: Er lächelte und tat so, als wäre alles in bester Ordnung. Abgesehen davon, hoffte er, irgendwann Zinnia zu sehen, aber unter den Tausenden Leuten, die in den letzten drei Tagen an ihm vorbeigekommen waren, war sie nicht gewesen. Wahrscheinlich war das hier nicht mal der Teil des Warendepots, wo sie arbeitete
.
Um sich die Zeit zwischen dem Kreisen des Scanners und dem leichten Kopfnicken von Robinson zu vertreiben, grübelte er über das Drei-Sterne-Rating nach, das er nach dem Gespräch mit Dobbs auf seinem CloudBand entdeckt hatte.
Darüber und über die Punkte auf der Überwachungsaufnahme.
Wahrscheinlich hatten die nichts zu bedeuten. Vielleicht hatte Zinnia sich nur nach ihm umgesehen. Es gab unzählige mögliche Erklärungen, die nicht darauf hinausliefen, dass sie ihm regelrecht hinterherspioniert hatte.
Über die Sterne und Punkte nachzugrübeln lenkte ihn außerdem von den Bildschirmen ab, auf denen in Endlosschleife Cloud-Videos liefen. Bereits am Ende seines ersten Tages hatte er den Text auswendig gelernt. Am zweiten Tag fraßen sie sich wie eine Bohrmaschine in seinen Kopf. Am dritten Tag waren sie zu einer wahrhaft höllischen Geräuschkulisse geworden.
Cloud ist die Lösung für alle Bedürfnisse.
… arbeite ich
für Sie
.
Vielen Dank, Cloud!
Als seine Schicht zu Ende war, fuhr er zu Live-Play hinüber, wo er auf Dakota stieß. Sie trabte von den Aufzügen her auf ihn zu.
»Wo brennt’s denn, Kleine?«, fragte er.
»Nenn mich bloß nicht Kleine. Ich glaube, ich bin älter als du. Los, wir gehen beide auf Patrouille.«
»Ich war gerade mit der Arbeit fertig«, sagte er.
»Und heute ist Bilanztag. Das bedeutet: Alle Mann an Deck. Aber wenn du verhindern willst, dass man dir wieder wohlgesinnt ist, kannst du gerne ablehnen.
«
Paxton folgte Dakota ergeben. »Na, dann wohin, Boss?«
»Schon besser. Auf die Promenade. Wir machen einen Rundgang. Vor allem müssen wir die Bahnen im Auge behalten.«
»Wieso die Bahnen?«
»Die transportieren heute massenhaft Leute rein und raus«, sagte sie. »Jetzt hör aber mal auf, Fragen zu stellen, und leg lieber einen Zahn zu.«
»Schon gut, schon gut«, murmelte Paxton vor sich hin. Er bemühte sich, seinen Ärger zu unterdrücken, was ihm jedoch nicht gelang. »Wenn Dobbs sauer auf mich ist, wieso eigentlich nicht auch du?«
Dakota warf ihm einen Seitenblick zu. »Weil du ein paar mehr graue Zellen im Kopf hast als die meisten Trottel, die hier durchkommen. Du hast zwar Scheiße gebaut, aber ich finde, Dobbs war zu hart zu dir. Deshalb hab ich versucht, ihn dazu zu bringen, dass er dich wieder der Taskforce zuteilt. Hat allerdings nicht geklappt.«
»Du meinst die Taskforce, die eigentlich keine ist.«
»Genau die.«
»Tja, danke, dass du’s versucht hast.«
Dakota hob die Hände. »Immerhin darf ich heute mit dir auf Streife gehen.«
Sie erreichten die Promenade, wo ihnen in Tränen aufgelöste Leute entgegenkamen, die mit Reisetaschen oder Rollkoffern zur Bahn unterwegs waren. Die würde sie zum Aufnahmegebäude bringen, das für sie nun zur Endstation ihrer Zeit bei Cloud wurde.
Dakotas Uhr gab einen Klingelton von sich. Sie hob den Arm.
»Code S in der Technik«, sagte jemand.
Dakota drückte zum Antworten die Krone. »Verstanden.
«
»Code S?«, sagte Paxton.
Dakota bedachte ihn mit einem eisigen Grinsen. »Wirst du bald genug rausbekommen.«
Sie gingen weiter. Im Lauf von zwei Stunden bekamen sie nichts Besonderes zu Gesicht außer weiteren traurigen Leuten, die zur Bahn schlurften. Dann war es Zeit, etwas zu essen. Paxton schlug den CloudBurger vor, aber Dakota rümpfte nur die Nase und bestand auf Tacos. Nicht die schlechtesten, wie sich herausstellte. Während sie schweigend aßen, beobachteten sie die Leute draußen. Zweimal wurde erneut Code S gemeldet, woran Dakota aber kein besonderes Interesse zeigte. Sie bestätigte die Meldungen nur und aß weiter.
Nach langem Schweigen versuchte Paxton, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, indem er einen Gedanken äußerte, der ihm ständig im Kopf herumgegangen war. »Was ist, wenn der Trick von diesen Typen wie ein Faradaykäfig funktioniert?«
»Was soll das denn sein?«
»So nennen Techniker eine Hülle, die elektromagnetische Wellen abschirmt. Benannt nach dem Wissenschaftler, der auf das Prinzip gestoßen ist, irgendwann im 19. Jahrhundert. Deshalb funktioniert ein Handy in einem Aufzug nicht so gut. Weil man da von Metall umschlossen ist.«
Dakota nickte. »Wirkt wie ein Signalblocker.«
»Ich will dir mal was aus dem Gefängnis erzählen. Da darf man bekanntlich keine Handys besitzen. Weshalb die mit Vorliebe eingeschmuggelt werden. Allerdings hatten wir diese Sensoren, mit denen man Funksignale aufspüren kann. Deshalb sind ein paar von den Insassen auf die Idee gekommen, ihr Handy in ein Säckchen zu stecken, das sie mit Alufolie ausgekleidet haben.
«
»Und das hat funktioniert?«
Paxton spreizte die Finger. »Je nachdem welcher Provider es war und wie gut sie den Beutel ausgestopft haben. Darauf gekommen sind sie offenbar durch die präparierten Taschen, die manche Ladendiebe verwenden. Wenn man Waren in eine solche Tasche steckt und durch den Ausgang geht, schirmt die Folie den Inhalt vor dem Scanner ab, der sonst Alarm schlagen würde. Bei uns hat der Trick nicht mehr funktioniert, weil man direkt neben dem Gefängnis einen neuen Handymast errichtet hat. Danach war das Signal zu stark.«
Dakota schluckte ihren letzten Tacobissen, wischte sich den Mund ab und warf die Serviette aufs Tablett. Sie standen auf, entsorgten den Abfall und traten hinaus. Dakota nickte unablässig mit dem Kopf, als würde sie Musik hören.
»Du meinst also, diese Genies wickeln sich Alufolie ums Handgelenk?«, sagte sie.
»Nicht unbedingt«, sagte er. »Bei uns hat es zwar relativ gut geklappt, war jedoch nicht gerade narrensicher. Aber vielleicht ist es was Ähnliches.«
Ein Klingelton, diesmal nicht nur auf der Uhr von Dakota, sondern auch auf seiner. »Code W, Code W, Eingangshalle von Maple.«
»Auf geht’s!«, sagte Dakota.
»Was heißt Code W nun wieder?«
»Widerstand. Jemand, der sich weigert, seinen Rausschmiss zu akzeptieren.«
»Und was tun wir da?«
»Denk dir was aus.«
Die beiden trabten los. Als sie sich der Eingangshalle von Maple näherten, wurde die Menge dichter. Die Leute blieben stehen, um das Geschehen zu beobachten. Es
dauerte nicht lange, bis Paxton und Dakota es vor sich sahen: eine sechsköpfige Gruppe – zwei Rote, zwei Grüne, ein Brauner und ein Blauer – hatte sich auf den Boden gelegt und stellte sich tot. Sie ließen den Körper schlaff werden, während eine ganze Brigade von Blauen versuchte, sie zur Bahn zu zerren. Auf dem Boden lagen Reisetaschen, die teilweise aufgerissen waren; Kleidung und persönliche Gegenstände quollen heraus. Paxton kickte eine rosa Dose Deo aus dem Weg. Er hörte die auf dem Boden liegenden Leute schreien.
»Bitte!«
»Nein!«
»Gebt uns noch eine Chance!«
»O Mannomann!«, sagte Dakota und stürzte sich ins Getümmel. Im selben Moment sah Paxton Zinnia, die auf einen zu den Toiletten führenden Flur zuging. Bei ihrem Anblick war er wie gelähmt, bis Dakota ihm zubrüllte: »Her mit dir!«
Er riss sich zusammen und lief zu Dakota, die eine Frau mittleren Alters am Arm gepackt hatte, um sie zur Bahn zu schleifen.
»Was tun wir hier eigentlich?«, fragte Paxton.
»Wir schaffen sie in die verdammte Bahn, damit das Team an der Aufnahme sich mit ihnen rumschlagen kann.«
»Ist das wirklich die beste Methode, die wir haben?« Er ging neben der Frau auf ein Knie und sagte: »Miss, ich bin Paxton. Sagen Sie mir bitte, wie Sie heißen?«
Mit tränennassen Augen sah sie ihn an. Sie bewegte den Mund, als wollte sie etwas sagen, spuckte ihm stattdessen jedoch eine Ladung ins Gesicht. Er schloss die Augen, während ihm die warme Flüssigkeit über die Wange lief
.
»Verpiss dich, du Schwein«, sagte sie.
Inzwischen waren die beiden an allen Seiten von Security-Leuten umringt, einer Wand aus Blau, die alle Umstehenden daran hinderte zu sehen, was auf dem Boden vor sich ging. Dakota sah in die Runde, um auf Nummer sicher zu gehen, dann legte sie der Frau den Daumen an den Hals, direkt über dem Schlüsselbein, und drückte fest zu. Die Frau schrie auf und versuchte ihr zu entkommen, aber Dakota hatte sie fest im Griff.
»Hoch mit dir, verdammt noch mal«, sagte sie. »Das Spiel ist vorbei.«
»Bitte nicht …«, keuchte die Frau.
»Dakota«, sagte Paxton.
»Was ist?« Sie sah zu ihm hoch, während sie den Druck erhöhte. »Die arbeiten nicht mehr hier, da ist es egal, was wir mit ihnen anstellen. Und je schneller wir hier fertig werden, desto besser, denn …«
Hinter ihnen gellte ein Schrei.
Paxton sprang auf die Beine und rannte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Auf die Bahngleise zu. Auf den zum Bahnsteig führenden Stufen drängten sich die Leute, dahinter sah man eine Bahn stehen, die nur zur Hälfte eingefahren war. Paxton drängte sich durch, um nach vorn zu gelangen.
Der Zugführer, ein älterer Mann mit Glatze, beugte sich aus dem Fenster und starrte auf die Schienen vor seinem Fahrzeug. Sein Gesicht war völlig erschlafft. Ein Stück weiter lag etwas, was gerade noch als Mensch erkennbar war.
Paxton sprang zwischen die Schienen und machte sich auf den Weg. Schon aus der Distanz war zu sehen, dass der Mann nicht mehr am Leben war. Zu viel Blut. Reglos lag der Körper da; ein Bein stand so absurd zur
Seite ab, als hätte das Knie sich vollständig in die falsche Richtung gedreht. Am Handgelenk funkelte etwas – ein CloudBand, das mit kleinen glitzernden Spielwürfeln geschmückt war.
Als Paxton vor der Leiche stand, erfasste ihn ein leichter Schwindel. Dann hörte er, wie jemand neben ihn trat. Er drehte den Kopf und sah Dakota auf den Toten starren.
»Das ist Code S«, sagte sie.
»S steht für Springer, ja?«
Dakota nickte. »Hab gehofft, dass du deinen ersten Bilanztag überstehst, ohne mit so was zu tun zu haben. War offenbar ein frommer Wunsch.« Sie hob ihre Uhr an die Lippen. »Code S, Bahngleis Maple. Exitus bei Ankunft schon erfolgt.«
Paxton ließ sich in die Hocke sinken und hielt die Hand vor den Mund. Es war nicht die erste Leiche, die er zu Gesicht bekam; im Gefängnis damals war es zwar einigermaßen zivilisiert zugegangen, aber trotzdem gelegentlich zu Drogentoten und Gewaltdelikten gekommen. Auf einen weiteren solchen Anblick hätte er jedoch gern verzichtet.
»Komm jetzt«, sagte Dakota. »Wir müssen hier aufräumen.« Sie schwieg für einen Moment. »Besser er als wir, oder?«
Paxton wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein einziges Wort zustande, und selbst das blieb ihm in der Kehle stecken.
Nein.