Zinni a
Zinnia verbrachte eine geschlagene Viertelstunde damit, durch einen Spalt zwischen den hier lose aufliegenden Deckenplatten zu spähen und zu warten, bis der Waschraum leer war. Und das, nachdem sie sich von losen Kabeln zwei Elektroschocks geholt und sich an einer scharfen Kante das Knie aufgeschrammt hatte.
Der beim Kriechen durch den engen Zwischenraum aufgewirbelte Staub hatte sich gelegt, aber ihre Atemwege fühlten sich immer noch wie verstopft an. Sie sah mehrere Leute hereinkommen, die duschen oder auf die Toilette gehen wollten, aber schließlich war nur noch eine einzige Frau übrig. Die wusch sich die Hände und verschwand dann in den Flur.
Zinnia schob eine Platte beiseite und ließ sich auf den Boden fallen. Dann stieg sie auf eine Bank, um die Platte wieder an Ort und Stelle zu schieben. Die Decke war recht niedrig. Leicht war es nicht, aber es klappte, und als sie in den Flur trat, stand vor der Tür kein ganzer Trupp von Blauen, wie sie fast erwartet hätte.
Sie tastete in ihrer Hosentasche nach dem Brillenetui und zog sich dann den Pulliärmel übers Handgelenk, um zu kaschieren, dass sie kein CloudBand trug.
Durch den Bilanztag waren alle abgelenkt. Wenn es einen günstigen Zeitpunkt gab, dann jetzt, ganz abgesehen davon, dass sie schleunigst hier wegwollte. Wobei sie sich nach Erledigung ihres Auftrags gern Zeit genommen hätte, Rick eine anständige Abreibung zu verpassen. Nur so zum Spaß .
Gerade gingen mehrere Leute zu den Aufzügen; sie folgte ihnen. Beim Einsteigen entstand ein Gedränge, weil irgendwie jeder seine Uhr an den Scanner halten wollte. Niemand achtete auf Zinnia, die sich mit auf dem Rücken verschränkten Händen nach hinten schob.
Schon auf der nächsten Etage hielt der Aufzug wieder. Zwei weitere Leute stiegen ein. So ging es weiter. Zinnia verdrehte die Augen und musste sich bezähmen, dass sie nicht laut aufseufzte. Dass so etwas gerade jetzt passierte!
Als sich die Tür endlich zur Eingangshalle öffnete, überlegte Zinnia kurz, ob sie sich ein Feuerzeug besorgen sollte, um irgendwo etwas in Brand zu stecken. Das war eine ebenso erprobte wie wirksame Ablenkungsmethode, die ihr in solchen Situationen immer einfiel, seit ein kleiner Brand auf einem Polizeirevier sie in Singapur vor der Todesstrafe gerettet hatte. Doch sobald sie auf den glänzenden Boden der Eingangshalle trat, wurde ihr klar, dass sie sich keine Sorgen machen musste. Fünf, sechs Leute inszenierten irgendeinen Protest, indem sie sich auf den Boden legten und sich dagegen wehrten, von der Security-Mannschaft auf die Beine gezerrt zu werden.
Ausgezeichnet. Zinnia ging auf den Flur zu. Alle beobachteten die Auseinandersetzung.
Sie sah sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein war. Bevor sie an dem CloudPoint-Terminal vorüberkam, ging sie in die Hocke und bewegte sich im Entengang weiter, damit sie nicht von der Kamera erfasst wurde. Dann richtete sie sich wieder auf und ging zu den Toiletten. Beide hatten keine Tür, sondern einen Eingang, hinter dem es um die Ecke ging. Wenn man sich vorbeugte, konnte man hineinspähen. Die Männertoilette sah leer aus, in der für Frauen war unter einer Kabinentür ein Paar Plateausandalen zu sehen. Gut. Zinnia wählte eine freie Kabine aus, setzte sich auf die Toilette und zählte ihre Atemzüge, während sie darauf wartete, dass die andere Frau fertig war, spülte, sich die Hände wusch und hinausging. Das dauerte länger, als ihr lieb war, aber wenigstens kam niemand Neues herein.
Auf dem Weg hinaus warf sie wieder einen Blick in die Männertoilette. Immer noch leer. Rasch ging sie den Flur entlang, den Blick auf den Eingang gerichtet, falls jemand auftauchte. Einige Leute gingen vorüber, hatten es aber offenbar darauf abgesehen, den Tumult an der Bahn zu begaffen.
Zinnia schob sich an der Wand entlang, ging in die Hocke und sank dann vor dem Terminal auf ein Knie. Sie stellte den anderen Fuß auf und löste mit einer Hand die Schnürsenkel, während sie mit der anderen das Brillenetui aus der Hosentasche zog. Sie öffnete es mit dem Daumen, holte die Plastikhülse heraus und steckte sie in den Schließzylinder. Drehte fest daran. Der dünne Metalldeckel sprang auf.
Im Innern befand sich ein Labyrinth aus Kabeln und Schaltkreisen. Zinnia hielt Ausschau nach einer freien Buchse, dann fuhr sie mit den Fingern über die Stellen, die sie nicht einsehen konnte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Was tun, wenn sie doch nichts fand?
Weitere Leute gingen am Eingang vorüber. Niemand kam herein.
Aber irgendwann würde das jemand tun.
Sie spürte etwas. Da war eine Vertiefung unter ihrem Finger. Sie wagte einen Blick nach unten.
Nein, das war nicht das, wonach sie suchte .
Zinnia tastete weiter.
Sie wollte schon aufgeben, als sie endlich eine kleine rechteckige Buchse ertastete. Schnell steckte sie den Kollektor ein, zählte lautlos bis zehn und zur Sicherheit noch bis elf, bevor sie ihn wieder herauszog.
Der erste Schritt war geschafft.
Sie band ihren Schuh zu und setzte den Deckel wieder auf der Konsole ein, während ihr Herz wie wild raste. Sie kroch einige Meter auf Händen und Füßen auf den Ausgang zu, bevor sie sich aufrichtete und schleunigst aus dem Flur in die Eingangshalle ging. Dort stellte sie sich vor die Aufzüge und trat von einem Bein auf das andere, während sie darauf wartete, dass eine größere Gruppe einstieg, weil dann mit größerer Wahrscheinlichkeit jemand in ihre Etage fuhr. Wenig später sah sie Paxton aus Richtung der Bahn kommen. Er steuerte den Flur mit den Toiletten an.
Eigentlich schlurfte er eher vor sich hin. Seine Arme hingen schlaff herab. Zweimal blieb er stehen, um seine Hände zu betrachten, aber aus der Entfernung konnte Zinnia nicht erkennen, weshalb. Sie trat hinter eine Informationstafel, damit er sie nicht sah, falls er herüberblickte.