Gibson
Da wär ich wieder. Und wieder muss ich ein paar Dinge ins rechte Licht rücken.
Es ist eine Weile her, dass ich das letzte Mal geschrieben habe. Das liegt daran, dass es ziemlich turbulent wurde, nachdem ich verkündet hatte, Claire werde die Firma übernehmen. Daraufhin haben die Medien allerhand Geschichten darüber verbreitet, dass Ray wütend auf mich wäre, weil er gemeint hätte, als Nächster dran zu sein. Nichts könnte weniger der Wahrheit entsprechen. Wer unser Cloud News Network verfolgt, weiß das natürlich, aber offenbar kann man von manchen Leuten nicht erwarten, sich zu informieren.
Schlimmer noch, in manchen Berichten hieß es, Ray wäre von einer der letzten großen Einzelhandelsketten abgeworben worden, die scheinbar mehr Zeit damit verbringt, mir eins auszuwischen, als damit, sich um ihr eigenes Geschäft zu kümmern (wenn die Verantwortlichen das täten, hätten sie vielleicht keine derartigen Probleme). Das stimmt ebenfalls nicht. Ray ist immer noch mein Stellvertreter.
Ich habe sogar gerade eben erst mit ihm telefoniert, und er hat mir gesagt, wie sehr er sich darauf freue, mit Claire zusammenzuarbeiten. Ich habe ja keine Geschwister, aber Ray steht mir so nahe, dass Claire immer Onkel Ray zu ihm gesagt hat. Sie hat ihn anfangs tatsächlich für meinen Bruder gehalten, bis sie ein bisschen älter wurde und begreifen konnte, dass es einfach nur ein Zeichen von Respekt war, ihn Onkel zu nennen
.
Über Ray möchte ich Folgendes sagen: Wie ich euch schon erklärt habe, war er von Anfang an da, als ich noch ein junger Kerl war, der versucht hat, ein bisschen Geld zu verdienen. Und er hat zu mir gehalten, an meiner Seite gekämpft und dazu beigetragen, Cloud zu dem Unternehmen zu machen, das es jetzt ist. Ich vertraue Ray mehr als irgendwem sonst. Und Ray vertraut mir. Wie gesagt, ich habe keinen Bruder, und er ist das Nächstbeste, was ich haben könnte. Klar, wie Brüder sind wir manchmal anderer Meinung, und manchmal streiten wir, aber genau das ist der Grund, weshalb unsere Beziehung so gut funktioniert.
Ich möchte euch eine Geschichte erzählen, und zwar eine gute. Es ist die Geschichte, die Ray auf meiner Hochzeitsfeier erzählt hat. Natürlich war er mein Trauzeuge.
Also: Meine Frau Molly war ursprünglich Kellnerin in einem kleinen Lokal ganz in der Nähe von unserem Büro. Ich ging gerne dorthin, weil es den ganzen Tag über ein ziemlich gutes Frühstück gab, aber auch weil Molly mir gefiel. Ich habe mich immer dorthin gesetzt, wo sie bediente, und oft versucht, etwas Lustiges oder Cleveres zu ihr zu sagen, was bestimmt nie so charmant war, wie ich dachte, aber sie hatte trotzdem immer ein Lächeln parat. Oft war ich auch mit Ray dort, weshalb er wohl irgendwann gemerkt hat, wie sehr ich sie mochte, und eines Tages, als wir so dasitzen und unser Rührei mit Schinken futtern, sagte er zu mir: »Wieso verabredest du dich nicht mal mit ihr?«
Worauf ich praktisch erstarrt bin. Ich dachte, eine so hübsche Frau wie Molly würde niemals auf einen Typen wie mich stehen. Das war damals in den Anfangstagen von Cloud, als ich eine Idee und zwei Paar Hosen hatte, aber nicht viel mehr. Zu dem Zeitpunkt war ich zwar
nicht gerade pleite, aber ziemlich verschuldet und machte mir Sorgen, einen gewaltigen Fehler begangen zu haben. Trotzdem hat Ray mich dazu gedrängt. Hat gesagt, ein so hübsches und liebes Mädchen würde man nicht alle Tage treffen. Aber, ganz ehrlich, ich hatte Angst, weshalb ich mich auch nicht getraut habe. Als sie kam, habe ich mir nur an die Mütze getippt, wie ich es immer tat, und dann haben wir aufgegessen und sind gegangen.
Zwei Stunden später, ich war gerade im Büro von Ray, kommt ein Anruf. Es war Molly, und die sagte: »Aber klar, Gibson, ich freue mich, wenn du mich zum Abendessen ausführst.«
Ich war völlig baff. Glücklicherweise schaffte ich es, mich so zusammenzureißen, dass ich ihr sagen konnte, ich würde mich mit einem konkreten Plan wieder bei ihr melden, und als ich mich umdrehe, sitzt Ray da an seinem großen alten Schreibtisch. Er hat die Füße hochgelegt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und den Mund zu einem so breiten Grinsen verzogen, als würde es bis zu seinem Hinterkopf reichen, sodass ihm gleich der Schädel abfallen könnte.
Er hatte ihr etwas auf die Rechnung geschrieben und meinen Namen daruntergesetzt.
Daraufhin habe ich mich für ein paar Tage später abends mit Molly verabredet und hatte vor, sie nach der Arbeit abzuholen. Es war ein hektischer Tag, aber Ray hat dafür gesorgt, dass ich rechtzeitig Schluss machte. Also habe ich mich in meinem Büro umgezogen, und ich hatte so eine Fliege zum Umbinden. Was für eine tolle Fliege, wenigstens dachte ich das. Rot und blau, mit einer Art Paisley-Muster. Ich habe sie immer noch. Die habe ich mir umgebunden, bin ins Büro von Ray marschiert und habe ihn gefragt: »Na, wie sehe ich aus?
«
Nun waren ich und Ray damals schon lange befreundet, aber trotzdem war ich sein Chef. Und eine Menge Leute hätten ihren Chef angeschaut und nur gesagt: »Klar, Sir, Sie sehen prima aus!«
Nicht jedoch Ray. Er hat mich von oben bis unten gemustert und gesagt: »Kumpel, du weißt schon, dass es beim ersten Date darum geht, ein zweites Date zustande zu bringen, oder?«
Wozu sind Freunde da? Ich habe die Fliege abgenommen und mir eine von Rays Alltagskrawatten geborgt, ein hübsche kleine schwarze. Die, wie Molly mir an jenem Abend beim Essen gesagt hat, richtig vornehm aussah. Als ich ihr die Geschichte einige Jahre später erzählt und ihr dabei die Fliege gezeigt habe, ist sie vor Schreck beinahe vom Hocker gefallen.
Und ich hatte das Ding für hübsch gehalten! Jedenfalls bedeutet Ray mir nicht nur so viel, weil er von Anfang an dabei ist, sondern weil er ein ehrlicher Kerl ist. Er ist mir gegenüber aufrichtig. Wenn ich irgendetwas so oder so machen wollte, hat Ray mir nicht gesagt, was ich hören wollte, sondern was ich hören musste. Das ist etwas Besonderes.
Aber so ist es eben mit den Medien, oder? Deshalb sind die Zeitungen ja schon vor Jahren zusammengebrochen. Es ist nicht so, dass die Leute keine Nachrichten hören wollen. Natürlich wollen sie erfahren, was auf der Welt geschieht. Aber sie wollen nicht angelogen werden, und sie merken es, wenn das geschieht. Wenn man eine Story darüber bringt, dass ich und Ray uns angeblich an die Gurgel gehen, generiert das eventuell genügend Klicks, um mit den Werbeeinnahmen ein paar Tassen Kaffee zu kaufen. Es ist traurig. Das ist übrigens der Grund, weshalb ich das Cloud News Network gegründet
habe. Ich hatte es satt, die Dinge ständig ins rechte Licht rücken zu müssen.
Dass meine Entscheidung den Kurs unserer Aktie beeinflusst hat, stimmt allerdings. Ja, der ist ein bisschen abgesackt, nachdem ich Claire ernannt hatte. Allerdings hatte das nichts mit ihr zu tun. So läuft es an der Börse eben, Leute. Der Markt hat einfach darauf reagiert, dass meine Zeit bald zu Ende ist und dass die Firma in andere Hände kommt. Abgesehen davon, wird alles weitergehen wie bisher, weshalb der Kurs sich wieder erholen wird. Bis dahin bin ich knapp eine Milliarde Dollar ärmer. Schluchz, schluchz.
So ist es also. Was euch daran erinnern sollte: Wenn ihr die Wahrheit hören wollt, müsst ihr das Cloud News Network einschalten. Alles andere sind bloß Fake News, hinter denen irgendwelche Absichten stecken, was wirklich traurig ist. Aber das ist die Sache mit dem Internet. Keine Regulierung, keine Normen, jeder kann sagen, was er will. Von mir aus! Ich bin hier mit echter Arbeit beschäftigt.
Puh.
Wie gesagt, es ist eine Weile her, dass ich hier etwas geschrieben habe. Eigentlich fühle ich mich ziemlich gut. Ich nehme sechs verschiedene neue Medikamente, weil mein Arzt der Meinung ist, dass ich an diesem Punkt nicht mehr viel tun könne, was mir schade, und vielleicht schenkt mir eines davon sogar ein bisschen mehr Zeit. Jedenfalls schlucke ich den Tag über so viele Pillen, dass ich den Überblick verloren habe. Molly hilft mir, sie abzuzählen.
Auch meine Bustour läuft ziemlich gut. Bald ist Weihnachten, was sowohl gut wie schlecht ist. Gut, weil Cloud dann optimal die Rolle erfüllt, den Menschen im Land
Glück und Komfort zu liefern. Schlecht, weil es wieder einmal an der Zeit ist, uns an die Massaker am Black Friday zu erinnern, aber natürlich ist es wichtig, dass wir sie nie vergessen.
Nach allem, was mein Arzt mir sagt, muss ich euch mitteilen, dass mein Verfallsdatum irgendwann nach Neujahr liegen dürfte. Eventuell ist mir also noch einmal Weihnachten auf dieser Erde vergönnt. Was eine letzte Gelegenheit bedeutet, Cloud in vollem Schwung zu sehen. Das wird schön sein. Es hat mich immer begeistert, in der Adventszeit durch unsere Anlagen zu spazieren. Da kann man so viel gute Arbeit beobachten.
Behaltet die Straßen im Blick, Leute! Wer weiß, vielleicht fahre ich doch bald einmal an euch vorüber …