Zinni a
Der Laptop gab einen Klingelton von sich.
Zinnia dachte zuerst, dass es sich wieder um eine Sinnestäuschung handelte. So einen Ton hatte sie in der vergangenen Woche mindestens ein Dutzend Mal gehört. Wenn sie gelesen oder vor sich hin gedöst hatte, war manchmal leise einer erklungen, worauf sie die Schublade unter ihrem Bett aufgezogen und den Laptop unter den Klamotten und Büchern hervorgezogen hatte, nur um festzustellen, dass ihre Fantasie ihr einen Streich gespielt hatte.
War nur ein Scherz, bin noch nicht fertig, du Dödel!
Diesmal hörte es sich allerdings ziemlich echt an, weshalb sie den Laptop wieder einmal ausgrub. Es stimmte. Der Kollektor war vollständig programmiert. Sie zog das kleine Plastikteil aus der USB -Buchse und legte es auf ihre Handfläche. Jetzt musste sie es nur noch irgendwo in ein Computerterminal stecken und würde auf diese Weise in einer guten Minute das erhalten, was sie brauchte.
Sie schob den Kollektor in das Münztäschchen ihrer Jeans. Dabei rutschte die Hose ein kleines Stück hinunter, weshalb Zinnia prüfend am Bund zog. Sie hatte deutlich abgenommen. Der einzige Vorteil, im Warendepot herumzurennen.
Ein Nachteil war das Zwicken in ihrem linken Knie. Der Betonboden war gnadenlos; sie hatte bereits ein Paar Sneakers durchgelaufen. Sie stellte sich aufs linke Bein und hob das rechte Knie an. Streckte die Hände aus und ging in eine einbeinige Hocke. Ihr linkes Bein wackelte. Um ein Haar wäre sie umgekippt; nur indem sie schnell den anderen Fuß aufsetzte, konnte sie das verhindern.
Sie seufzte. Schaltete den Fernseher ein, in dem gerade ein Werbespot für eine Mentholsalbe zum Einreiben lief, was beinahe das war, was sie brauchte, aber doch nicht ganz. Deshalb rief sie den Cloud-Store auf und bestellte eine elastische Kniebandage zum Stabilisieren des Gelenks. Es war nicht gut, an Knien herumzupfuschen. Knie waren eine heikle Angelegenheit. Sie erinnerten an eine Kugel und zwei Stöcke, die mit Gummibändern zusammengehalten wurden. Um ein Knie zu lädieren, musste man es wesentlich weniger stark verdrehen, als die meisten Leute dachten, und Zinnia hatte keinerlei Lust, das Geld aus ihrem Auftrag in irgendwelche Operationen zu investieren.
Wo sie schon dabei war, bestellte sie sich auch ein neues Paar Jeans, und zwar eine Größe kleiner. Das vermittelte ihr wenigstens ein gutes Gefühl. Als sie fertig war, verließ sie die Wohnung und nickte auf dem Weg mehreren Nachbarn zu, die sie flüchtig kannte, aber sonst eher mied.
Der Große mit der Glatze.
Der Pelzige.
Hadley, das nette Mädel.
Sie hatte Cynthia, Paxton und Miguel. Das waren genügend Freunde. Ohnehin schien es hier so zu laufen. Die Leute begegneten sich, ohne wirklich Kontakt zueinander aufzunehmen. Es gab keine Versammlungen und keine Gruppenaktivitäten bis auf gehetzte Unterhaltungen im Pausenraum. Was das anging, hatte Zinnia eine Theorie entwickelt: Je mehr Zeit man mit einer bestimmten Person verbrachte, desto stärker wurde man von dem für den Arbeitsplan verantwortlichen Algorithmus von ihr getrennt. Am Anfang hatten Zinnia und Paxton etwa denselben Arbeitsrhythmus gehabt, der sich jedoch allmählich auseinanderentwickelt hatte, sodass sie jetzt regelmäßig vier oder fünf Stunden früher Feierabend hatte als er. Mit Miguel war es dasselbe; die wenigen Male, die sie versucht hatte, über das CloudBand Kontakt zu ihm aufzunehmen, war er nicht bei der Arbeit gewesen. Sie war ihm nur ab und zu auf der Promenade begegnet.
Dennoch sprachen die Leute miteinander. In den Waschräumen, beim Schlangestehen vor den Ein- und Ausgängen des Warendepots. Meist mit gedämpfter Stimme. In letzter Zeit ging es um die angekündigte Veränderung an der Firmenspitze. Man fragte sich, ob es unter der Tochter anders sein werde. Besser oder schlechter. Zinnia hatte zwar nicht den Eindruck, dass es noch viel Raum für Verschlechterungen gab, aber in großen Unternehmen fand man bekanntlich immer etwas, was in diese Richtung ging.
Sie trat aus ihrem Wohnbau auf die Promenade. Machte einen langen Rundgang, wie sie es jeden Tag vor der Arbeit tat. Vor allem hielt sie dabei Ausschau nach irgendetwas, was wie ein Terminal aussah. Keiner für das CloudPoint-System, die waren zu riskant, und nachdem Paxton den Rest der Plastikhülle entdeckt hatte, der versehentlich im Schloss geblieben war, hatte man die Sicherheitsmaßnahmen wahrscheinlich verschärft. Sie brauchte einen Ort, wo sie sich mindestens eine Minute aufhalten konnte, ohne erwischt zu werden.
In den Geschäften gab es allerdings keine Computer, zumindest keine, die zugänglich waren. Ein paarmal hatte sie etwas in der Administration besorgen müssen und gedacht, dabei könne sie sich in ein Büro schleichen, aber wenn eine Tür offen stand, hatte immer jemand im Raum gesessen. An einem Büro, das sichtbar leer war, war sie noch nicht vorbeigekommen.
Eine derartige Operation war eine heikle Angelegenheit. Wenn man sie zu sehr forcierte, fiel das auf.
Manchmal ergab sich eine gute Gelegenheit, wenn Inspiration und Chance zusammentrafen. Zum Glück hatte man ihr sechs Monate zugebilligt. Sie hatte also noch Zeit. Nicht massenhaft, aber genug.
Auf dem Weg zur Arbeit betrat sie den gewohnten kleinen Laden, dessen glänzende Regale so von hinten beleuchtet waren, dass die Artikel darauf zu glühen schienen. Wie immer ging sie nach links hinten zu der Schachtel mit den PowerBuff-Riegeln. Sie war dankbar, dass sie nach jahrelanger Suche einen Eiweißriegel gefunden hatte, der wenig Fett und wenig Kohlenhydrate, aber viel Protein enthielt, ohne wie ein mit fader Erdnussbutter beschmierter Styroporblock zu schmecken.
Sie hatte festgestellt, dass sie sich selbst in den härtesten Momenten bei der Arbeit darauf freuen konnte, den salzigen Karamellriegel auszupacken. Den konnte man zwar mit vier Bissen verschlingen, aber sie machte immer fünf daraus, um ihn wirklich zu genießen.
Als sie jedoch nach hinten kam, war die Schachtel leer. Es gab andere Geschmacksrichtungen von PowerBuff, mit denen sie durchaus schon geflirtet hatte, denen aber irgendetwas fehlte. Der Riegel mit Schokolade und Erdnussbutter war zu mächtig und auch etwas bitter, und der mit dem schönen Namen Geburtstagskuchen schmeckte wie aus dem Abflussrohr einer Zuckerersatzfabrik.
Sie betrachtete die Schachtel eine Weile und fragte sich, wie lange die schon leer war. Wie lange war es her, dass jemand den letzten Riegel herausgenommen hatte? War es gestern gar sie selbst gewesen, ohne darauf zu achten?
Gestern hatte sie ihren letzten Karamellriegel von PowerBuff gegessen, ohne es zu wissen. Das machte sie traurig. Noch trauriger wurde sie, als ihr klar wurde, wie traurig sie das machte.
Neben ihr tauchte ein korpulenter Latino in einem grünen Poloshirt auf. Er hatte eine neue Schachtel in den Händen. Zinnia strahlte ihn an. Er strahlte ebenfalls, nahm die leere Schachtel vom Regal, stellte die neue darauf und drückte die perforierte Linie zum Öffnen nach innen.
»Mir ist aufgefallen, dass nicht mehr viel drin war«, sagte er. »Zuerst war ich überrascht, weil die sonst nicht gut gehen. Niemand mag sie. Aber dann hab ich gesehen, dass du sie regelmäßig kaufst, und da dachte ich, du wärst enttäuscht, wenn ich sie nicht auf Lager habe.«
Er nahm einen Riegel heraus und streckte ihn ihr hin. Sie nahm ihn entgegen. Die Zellophanhülle knisterte. Der Mann stand lauernd da, als würde er erwarten, dass sie ihn abklatschte oder ihm einen Blowjob verpasste.
»Danke schön«, murmelte sie.
Er nickte, drehte sich um und ging zur Kasse zurück.
So traurig sie vorher schon gewesen war, jetzt war sie noch trauriger. Sie hatte eine Routine entwickelt. War zu einer Stammkundin geworden. War schon so lange hier, dass ein völlig Fremder über ihre Essgewohnheiten Bescheid wusste. Es ging nicht um ihren Auftrag und darum, sich nicht zu verraten oder nicht sonst wie aufzufallen. Das beschissene Gefühl hatte sie nur, weil es sie daran erinnerte, dass sie sich schon monatelang an dem Ort hier aufhielt, und nichts hatte sich verändert. Sie hatte sich lediglich besser daran gewöhnt .
Zinnia machte sich auf den Weg zum Warendepot. Als sie dort den harten Betonboden betrat, protestierte ihr Knie schmerzhaft.
Tablet. Ausweishülle aus Leder. Fliege zum Umbinden. Wollmütze. Tampons. Filzstifte. Kopfhörer. Telefonladegerät. Leuchtmittel. Gürtel. Luftbefeuchter. Schminkspiegel. Socken. Marshmallow-Röstspieße …