Zinni
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Auf einen zweiten Wodka verzichtete Zinnia. Sie wollte einen klaren Kopf behalten. Als der Abend sich dem Ende zuneigte, kroch Paxtons Hand auf ihren Oberschenkel. Zinnia schüttelte sie nicht ab, schob sich ihr jedoch auch nicht entgegen. Und als er sich mit nach Bier riechendem Atem zu ihr beugte und fragte, ob sie jetzt wohl noch zu ihr gehen könnten, sagte sie, sie habe ihre Periode.
Was gelogen war, denn die würde noch eine Woche auf sich warten lassen. Inzwischen hätte er das eigentlich wissen müssen, aber offenbar konnten Männer periodenbezogene Informationen einfach nicht behalten. Er war enttäuscht, blieb jedoch liebenswürdig und brachte sie sogar zu ihrem Wohnbau, wo er sie küsste, bevor er sich verabschiedete. Dann rannte sie geradezu in ihre Wohnung.
Ein Software-Update. Mit einer Ausgangssperre, die eigentlich keine war, weil nichts abgesperrt sein würde.
Das hörte sich gut an.
Eine ganze Armee Security-Leute auf Patrouille.
Das hörte sich weniger gut an.
Sie setzte sich auf die Matratze, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie.
Das musste gut durchdacht werden.
Alle mussten in ihrer Wohnung sein, weil die Uhren außer Funktion waren und keine Ortungsdaten liefern konnten. Außerdem verwendeten die Security-Leute ihre Uhren normalerweise dazu, miteinander zu kommunizieren. Da sie das dann vermutlich auch nicht mehr tun
konnten, mussten sie geballt auftreten, falls etwas eine schnelle Reaktion erforderte.
Das Krankenhaus blieb in Funktion. Dort war sie zwar noch nicht gewesen, aber es bot sich als Zugangspunkt an.
Zinnia mochte Krankenhäuser. Dort gab es im Allgemeinen weniger Sicherheitsmaßnahmen als anderswo. Und desinteressierte Wachleute, die früher meistens wichtigere Aufgaben wahrgenommen hatten und jetzt in erster Linie damit beschäftigt waren, den Medikamentenvorrat zu beschützen.
Der Plan entwickelte sich in ihrem Kopf von selbst so schnell, dass sie kaum mitkam. Direkt vor dem Update würde sie irgendeine Verletzung oder Krankheit vortäuschen, damit sie ins Krankenhaus kam. Anschließend konnte sie improvisieren. Die Security-Leute würden sich wahrscheinlich auf die Wohnbauten konzentrieren, um dort alles unter Kontrolle zu halten. Im Krankenhaus war wohl nur eine Rumpfmannschaft auf Posten. Und die paar Schwestern und Pfleger? Die konnte sie leicht ins Bockshorn jagen.
Duschen. Sie musste sich unter die Dusche stellen. Da konnte sie immer am besten nachdenken.
Zinnia zog sich aus, schlüpfte in Bademantel und Flipflops, griff nach ihrem Waschbeutel und trat auf den Flur. Sie war kaum drei Meter weit gekommen, als sie Rick aus dem geschlechtsneutralen Waschraum kommen sah, wo diesmal das Sperrschild hing. Zinnia spürte, wie sie eine unbändige Wut durchfuhr. Das Ganze verstärkte sich noch, als sie die Gestalt hinter Rick sah – eine junge Frau, im Bademantel wie sie selbst, mit feuchten Haaren und ebenfalls feuchtem Gesicht, Letzteres aber nicht vom Duschen. Sie zog den Mantel eng zusammen, als könnte er sie beschützen
.
Hadley.
Rick blickte zu Zinnia herüber und grinste. »Lange nicht gesehen! Hab schon gedacht, du magst mich nicht.«
Zinnia reagierte nicht auf ihn. Sie hatte nur Hadley im Blick, die zu Boden starrte und sich sichtlich wünschte, irgendwo anders zu sein als ausgerechnet hier.
Rick sah Hadley über die Schulter hinweg an. »Jetzt aber husch nach Hause«, sagte er. »Und denk dran, was ich dir gesagt habe.«
Hadley trabte davon. Zinnia beobachtete, wie sie vor ihrer Wohnung stehen blieb und die Uhr an den Scanner hielt.
Rick zuckte die Achseln. »Wie wär’s, wenn jetzt wir zwei da reingehen?«
Im Kopf von Zinnia tobte ein Sturm, der ihren Schädel fast zum Platzen brachte. Sie konnte mit Rick umgehen. Das fiel ihr zwar schwer, aber sie bekam es hin.
Die Sache mit Hadley allerdings …
Ihr Auftrag war wichtiger. Mit größter Mühe entspannte Zinnia ihre Muskeln und setzte ein Lächeln auf. »Klar«, sagte sie und spürte, wie der in ihrem Kreislauf verbliebene Wodka ihr ein warmes Gefühl im Unterbauch verlieh.
Rick sah sich um, ob jemand sie beobachtete, dann drückte er die Tür zum Waschraum auf. Zinnia schob sich an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren, als wäre seine Haut giftig. Dann ging sie auf die Duschen zu.
Die Chance, einen echten Durchbruch zu erzielen, beflügelte sie so sehr, dass es ihr leichtfiel, diesen geilen Bock zu ignorieren, der ein paar Minuten auf ihre Titten stieren wollte. Was mit Hadley geschehen war, schob sie erst einmal von sich weg. Damit konnte sie sich später
beschäftigen. Wenn alles erledigt war, würde sie es Rick endlich heimzahlen.
Als er hinter ihr eintrat, drehte sie sich zu ihm um, bereit, ihren Bademantel auszuziehen.
»Morgen wird ein Update durchgeführt«, sagte er.
Zinnia nickte, während sie an ihren Gürtel griff.
»Da ist zwar Ausgangssperre, aber du könntest mich ja mal besuchen, um mir ’ne Privatvorführung zu geben«, fuhr er fort. »Zum Ausgleich für die ganze Zeit, die du mir aus dem Weg gegangen bist. Ich bin in Wohnung S.«
Die Hand am Knoten, hielt Zinnia inne. Sie sah Rick an. In seinem Gesicht lag kein Lächeln, und er zwinkerte nicht. Er meinte es ernst.
»Das wäre wirklich nett von dir, Zinnia«, sagte er. »Und klug dazu.«
»Nein«, sagte sie, ohne zu überlegen. »Das werde ich nicht tun.«
Sein Gesicht verfinsterte sich. »Tut mir leid, als Frage war das nicht gemeint.«
Wieder spürte sie, wie die Wut sie durchzuckte. Nachdem sie zwei Monate lang Tag für Tag diesen Schwachsinn mitgemacht hatte, würde sie es nicht zulassen, dass dieses kranke Arschloch ihre Chance zunichtemachte.
Und sosehr sie es auch verhindern wollte, ging ihr das Gesicht von Hadley nicht aus dem Kopf.
Im Allgemeinen hatte Zinnia kein Mitgefühl für zarte Seelen. Die Welt war ein harter Ort, und man lernte entweder, ein paar Schläge hinzunehmen, oder man kaufte sich einen Helm. Aber der Blick auf Hadleys Gesicht, während Rick sie herumkommandiert hatte – das ließ sie an ein Vögelchen denken, das jemand in der Hand zerquetschte
.
»Ich hab eine andere Idee«, sagte Zinnia und ließ ihren Bademantel fallen, damit Rick ihre nackte Haut beglotzen konnte. »Wie wär’s, wenn ich dir jetzt gleich eine Privatvorführung gebe? Eine ganz spezielle?«
Rick grinste, wich jedoch einen Schritt zurück. Offenbar hatte er Angst vor diesem plötzlichen Ausbruch sexueller Aggression. Was für ein Feigling. Als Zinnia sich ihm jedoch näherte, wurde er mutig, blieb stehen und bereitete sich auf das vor, was kommen sollte.
Dass es sich um einen harten, schnellen Schlag mit dem Ellbogen an seine Schläfe handeln würde, hatte er wohl nicht erwartet.
Als ihr Ellbogen sein Ziel traf, spürte Zinnia das Adrenalin in ihren Adern. Mit einem Aufschrei stürzte Rick zu Boden und schlug sich dabei an der Bank den Kopf auf. Sie kniete sich neben ihn, während er auf dem Boden zappelte und wegzukriechen versuchte, von der Bank jedoch daran gehindert wurde.
»Wie traurig und wie schade, dass du hingefallen bist und dir wehgetan hast«, sagte Zinnia.
»Du verfluchte Schlampe!«, fauchte Rick.
Zinnia packte ihn an der Gurgel. »Ist dir nicht klar, wie gefährlich es ist, mich noch wütender zu machen, als ich es eh schon bin?«
Das brachte ihn zum Schweigen. Zinnia beugte sich näher zu ihm.
»Das war das letzte Mal, dass du dein Spielchen mit den Schildern draußen abgezogen hast«, sagte sie. »Das letzte Mal, dass die Frauen, die hier wohnen, deinen kranken Scheiß ertragen mussten. Klar, du kannst dafür sorgen, dass man mich rausschmeißt, aber bevor ich abhaue, finde ich dich und mache dich endgültig fertig, das kannst du mir glauben. Ist ja nicht so, dass du deine
Kollegen dazu bringen könntest, dich vor mir zu beschützen, denn dann müsstest du denen sagen, wieso das nötig ist, und das wäre gar nicht gut für dich. Hast du kapiert?«
Rick murmelte etwas, was unverständlich blieb, weil nicht genügend Luft durch seine Kehle kam. Zinnia lockerte ihren Griff ein wenig.
»Ob du kapiert hast?«, wiederholte sie.
»Ja.«
»Kann ich dir das glauben?«
»Ja, bestimmt. Ich tu’s nicht mehr.«
»Gut.«
Sie ließ los. Überlegte, ob sie ihm zum Abschied noch einen Hieb oder Tritt verpassen sollte. Aber sie kam zu dem Schluss, dass sie genug getan hatte, weshalb sie ihren Bademantel wieder anzog und den Waschraum verließ. Draußen nahm sie das Sperrschild ab und warf es über die Schulter.
Das war dumm gewesen.
Ausgesprochen dumm.
Aber das war ihr völlig schnuppe.
Sie ging in den Frauenwaschraum, wo mehr los war als sonst. Zwei WC
-Kabinen waren besetzt und sämtliche Duschen hinten. Cynthia und zwei Frauen, die Zinnia kaum kannte, saßen da und warteten, dass etwas frei wurde. Sie flüsterten miteinander. Die Luft war dampfig.
Cynthia winkte Zinnia, die sich zu ihr setzte. »Na, wie geht es dir heute, Liebes?«
»Ich schwebe wie auf Wolken«, sagte Zinnia.
»Das sieht man«, sagte Cynthia. »Nichts für ungut, aber so gestrahlt hast du noch nie, seit ich dich kenne.«
»Manche Tage sind eben besonders.
«
»Sind sie das, ja?«
Zinnia nickte, gewärmt von dem Gedanken an das Gefühl, mit dem ihr Ellbogen an den Knochen gekracht war. Es bestand die reelle Chance, dass sie Rick das Jochbein gebrochen hatte.
Einer der Duschvorhänge wurde beiseitegezogen, und eine schlanke ältere Frau trat heraus. Sie griff nach ihrem Handtuch und wickelte sich darin ein. Eine der Wartenden stand auf und ging in die frei gewordene Kabine.
»Allerdings hab ich den Eindruck, dass ich mir irgendwas geholt habe«, sagte Zinnia. »Eine Magengrippe oder so.«
»Das tut mir aber leid, Liebes.«
»Vielleicht sollte ich für ein, zwei Tage ins Krankenhaus gehen. Zur Sicherheit.«
»O nein, nein, nein«, sagte Cynthia. »Das solltest du nicht tun.«
»Wieso nicht?«
Cynthia sah sich um, dann beugte sie sich in ihrem Rollstuhl vor. »Wenn man sich krankmeldet, wirkt sich das auf das Ranking aus.«
»Im Ernst?«
»Wenn man sich richtig verletzt, müssen sie einen natürlich ins Krankenhaus schicken«, sagte Cynthia. »Aber wenn man bloß Bauchschmerzen, eine Erkältung oder so was in der Richtung hat, wird erwartet, dass man zur Arbeit geht und es ausschwitzt. Manchmal lassen sie einen nicht mal in den Ambulanzshuttle, wenn sie meinen, es wär nicht so schlimm.«
Zinnia lachte, weil das wie ein Scherz klang. »Das ist ja völlig absurd.«
Cynthia lachte nicht mit, ja sie lächelte nicht einmal. »Mit solchen Sachen ist nicht zu spaßen.
«
»Gott, was für ein Scheißladen.«
Nun lächelte Cynthia doch. »Ich will dir einen Rat geben. Meide das Krankenhaus, soweit es geht. Die Versorgung da ist zwar ziemlich gut, aber man will nicht, dass wir sie tatsächlich in Anspruch nehmen. Außerdem kostet sie massenhaft Credits.«
Der Vorhang der Behindertendusche am Ende der Reihe ging auf. Eine Frau kam heraus, nackt und auf Krücken, den Bademantel unter dem Arm und ihren Waschbeutel um den Hals gehängt. Sie humpelte zu einer Bank, während Cynthia die Räder ihres Rollstuhls fasste und sich vorwärtsschob.
»Tut mir leid, das mit deinem Magen«, sagte sie. »Gute Besserung!«
Zinnia lehnte sich zurück und sah zu, wie Cynthia den Vorhang zuzog. Einige Minuten lang saß sie reglos da und dachte an Hadley.
Sie konnte sich vorstellen, wie Hadley auf ihrer Bettkante saß und sich mit den Armen umklammerte, während sie sich schluchzend an das erinnerte, was Rick ihr angetan hatte. Zinnia überlegte, ob sie zu Hadleys Wohnung gehen und an die Tür klopfen sollte, um nachzusehen, wie es ihr ging. Aber dazu war sie emotional nicht in der Lage, weshalb sie an Cynthias Kabine trat. »Hör mal«, rief sie durch den Vorhang.
»Was denn, Liebes?«
»Du kennst doch Hadley, oder? Die mit den Augen wie ein Comichäschen?«
»Natürlich.«
»Kannst du nachher mal bei ihr vorbeischauen? Als ich sie vorhin gesehen hab, ist sie mir ziemlich durcheinander vorgekommen. Aber ich kenne sie nicht genug, und …
«
»Hab schon verstanden«, sagte Cynthia. »Ich besuche sie gleich nachher.«
Zinnia lächelte. Sie war immer noch aufgebracht, aber das half ein bisschen. Und während sie, ohne geduscht zu haben, zu ihrer Wohnung zurückging, hatte sie wieder eine Idee.
Es war eine Idee, die ihr zwar nicht gefiel, die jedoch wahrscheinlich funktionieren würde.