Zinni a
Noch eine Stunde bis zum Software-Update. Falls Sie keine anderen Anweisungen erhalten haben, begeben Sie sich bitte in Ihre Wohnung.
Dann:
Bitte schließen Sie Ihren letzten Auftrag ab.
Das Regal vor Zinnia kam zum Stillstand. Ganz oben musste sich der Artikel befinden, den sie holen musste, eine Schachtel mit einem Puzzle. Sie kletterte hinauf, ohne den Sicherheitsgurt einzuklinken. Ob man sie dafür wohl bestrafen würde?
Was weniger wichtig war, als richtig zu landen.
Oben angelangt, fand sie die Box mit den Puzzles, nahm eines heraus und ließ es von ihrem CloudBand registrieren.
Dann hielt sie den Atem an, drehte sich um und sprang in die Luft.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie zog den Kopf ein und streckte den linken Arm aus. Einerseits, um den Sturz abzufangen, und andererseits, damit der Schultergelenkkopf aus der Pfanne sprang. Locker saß das Ding schon seit jenem Auftrag in Guadalajara.
Sobald sie landete, spürte sie, wie der Knochen sich verschob und herausploppte. Sie atmete kraftvoll aus, um den Schmerz zu lindern, was jedoch keine Wirkung zeigte. Als sie sich auf den Rücken drehte, fühlte ihr linker Arm sich wie ein Stück Fleisch an, das locker an ihren Rumpf gebunden war. Der Schmerz schrillte durch ihren ganzen Körper wie ein dissonantes Orchester.
Sie atmete ein. Atmete aus. Konzentrierte sich auf das Zentrum des Schmerzes, seine ganze Kakophonie. Ließ sich davon überfluten. So zerstörerisch wirkten Schmerzen nur, weil die Leute verzweifelt dagegen ankämpften. Das Geheimnis lag darin, sie stattdessen als vorübergehende Realität zu akzeptieren und sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Zum Beispiel aufs Aufstehen.
Einige Leute waren stehen geblieben, aber nicht viele. Die anderen waren zu sehr damit beschäftigt, ihren letzten Auftrag zu erledigen. Mit ihrer funktionsfähigen rechten Hand ergriff Zinnia die Puzzleschachtel und schleppte sich zum angezeigten Förderband, das glücklicherweise in der Nähe lag. Dann hob sie ihre Uhr, schaffte es aber mit dem an der Seite baumelnden Arm nicht, die Krone zu drücken. Sie presste das Kinn dagegen und sagte: »Notfall. Manager.«
Sie befolgte die Richtungsanweisungen, die sie postwendend erhalten hatte, und stieß bald auf eine blonde Powerfrau in einem weißen Poloshirt. Die warf einen Blick auf Zinnias herabbaumelnden linken Arm und meinte dann: »Brauchen Sie Hilfe oder was?«
»Das wäre nett, ja«, sagte Zinnia. »Ich bin von einem Regal gefallen.«
»Hatten Sie Ihren Sicherungsgurt eingeklinkt?«
»Nein.«
Die Frau kräuselte die Lippen, trat auf Zinnia zu und hielt ihr Tablet an deren Uhr, um die Geräte zu koppeln. Dann tippte sie aufs Display und hielt es Zinnia unter die Nase. »Ich brauche eine Unterschrift zur Bestätigung, dass Sie den Gurt nicht eingeklinkt haben. «
Zinnia stieß die Luft aus. Was Neues, worauf sie sich konzentrieren konnte. Beknackte Bürokratie. Sie hob die rechte Hand, und da sie Linkshänderin war, krakelte sie einfach etwas aufs Display. Die Frau nickte und machte sich daran, etwas einzutippen. Dafür, dass sie es hier mit einem Unfall zu tun hatte, brauchte sie ganz schön lange.
»Ich glaube, ich habe eine Gehirnerschütterung«, sagte Zinnia in der Hoffnung, den Vorgang zu beschleunigen. »Den Kopf habe ich mir nämlich auch angeschlagen.«
»Dann wollen Sie wohl ins Krankenhaus, ja?«
»Deshalb bin ich hier.«
Die Frau sah sie scharf an, wohl um ihr klarzumachen, dass jetzt nicht die richtige Zeit zum Scherzen sei.
Du kannst mich mal, dachte Zinnia. Aber mit Honig fing man bekanntlich Fliegen oder wie der behämmerte Spruch lautete. »Bitte«, fügte sie deshalb hinzu.
»Können Sie alleine gehen, oder brauchen Sie eine Begleitung?«, fragte die Frau.
Zinnia verdrehte die Augen. »Das schaffe ich alleine.«
»Gut.« Die Frau tippte wieder auf ihr Tablet. Auf Zinnias Uhr tauchten Richtungsanweisungen auf. »Folgen Sie denen zum Ambulanzshuttle.«
Zinnia fand zwar nicht, dass die Frau es verdiente, bedankte sich jedoch trotzdem bei ihr. Sie brauchte nicht lange bis zum Shuttle, der in einer Ausbuchtung zwischen einem Pausenraum und mehreren Toiletten stationiert war. Etwa so groß wie ein regulärer Bahnwaggon, war er mit Liegen und medizinischen Geräten ausgestattet und gelangte auf einem speziellen Gleis zum Krankenhaus. Zinnia stieg ein und stieß auf einen kräftigen, gut aussehenden jungen Mann mit Dreitagebart, der auf seinem Handy herumspielte. Als er sie sah, ließ er das Gerät in der Hosentasche verschwinden und sprang fast über eine Liege, um sie am Eingang zu empfangen.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Bin runtergefallen«, sagte sie. »Hab mir die Schulter ausgerenkt.«
Der Mann wollte Zinnia sofort auf eine der Liegen bugsieren, aber sie wehrte sich, was beim Zustand ihrer Schulter nicht gerade einfach war. Aber wenn er die jetzt gleich wieder in Ordnung brachte, hatte die ganze Aktion ihren Zweck verfehlt.
»Du musst mich die Schulter einrenken lassen, sonst verkrampfen sich die Muskeln«, sagte er. »Je länger das Gelenk ausgekugelt bleibt, desto schwerer kriegt man es wieder rein.«
»Mag sein, aber ich würde wirklich lieber …«
Während sie noch damit beschäftigt war zu protestieren, griff er fest zu. Sie hätte nicht gedacht, dass es so einfach war, aber er verdrehte die Schulter schnell und kraftvoll, und zack, war das Gelenk wieder eingerenkt. Einfach so. Die Schmerzen veränderten sich, verwandelten sich einen Moment lang in ein seltsam angenehmes Gefühl und beruhigten sich dann, bis sie nur noch als Hintergrundgeräusch vorhanden waren. Zinnia setzte sich auf die Liege, hob den Arm senkrecht in die Höhe und drehte ihn einwärts und auswärts.
»Das war gekonnt«, sagte sie beeindruckt.
»Mit so was haben wir oft zu tun«, sagte der Mann. »Lass mich mal raten – du hast deinen Gurt nicht eingeklinkt.«
Zinnia lachte. »Natürlich nicht.«
»Geh nach Hause, nimm etwas Ibuprofen und leg eine kalte Kompresse auf die Stelle, dann wird das schon wieder.« Er sah sich um. »Oder … falls du was haben willst, was ein bisschen … wirksamer ist …«
Zinnia war zwar jederzeit bereit, alles zweimal zu versuchen, aber das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. »Übrigens habe ich mir den Kopf heftig angeschlagen«, sagte sie.
Der Sanitäter nahm einen Stift aus der Brusttasche und klickte darauf. Ein Lichtstrahl leuchtete auf, so grell, dass Zinnia zusammenzuckte, als er ihn vor ihren Augen hin und her führte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe nicht den Eindruck, dass du eine Gehirnerschütterung hast.«
»Also, ich glaube, es ist trotzdem besser, wenn ich ins Krankenhaus gehe«, sagte sie. »Zur Sicherheit.«
Wieder blickte er sich um, als wollte er sich vergewissern, dass sie allein waren. »Meinst du wirklich? Ich will deinen Zustand nämlich nicht verharmlosen. Aber bei so was bist du besser dran, wenn du alleine damit fertigwirst.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich will dir nur helfen, ganz ehrlich.«
»Das habe ich schon kapiert«, sagte sie. »Aber mir tut der Kopf furchtbar weh, und ich will nichts falsch machen.«
Er nickte und seufzte. Offenbar hatte auch er kapiert, fand es jedoch schade, dass sie seinen Rat nicht annahm. Er klopfte auf die Liege. »Leg dich hin und schnall dich an.«
Zinnia machte es sich bequem, worauf er nach vorn in die geschlossene Kabine schlüpfte. Sie tastete nach dem Gurt, der von der Liege hing, legte ihn sich um und fixierte den Verschluss. Im selben Moment fuhr der Shuttle los. Er schwebte so sanft dahin, als würde er sich kaum bewegen.