Zinni
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Zinnia ließ sich so zu Boden sinken, dass ihr Kopf geschützt war. Sollte Paxton doch zu ihr stürzen, sie packen und schütteln, sollte er doch Angst um sie bekommen. Das würde ihn hoffentlich davon ablenken, dass sie sich den Kollektor in den Mund gesteckt und ganz nach hinten zwischen Zähne und Wange geschoben hatte, wo er sich an ihr Zahnfleisch presste.
Sie hatte überlegt, ob sie das Ding in die Hosentasche stecken sollte, aber was war, wenn Paxton sie abtastete? Oder wenn man sie medizinisch untersuchte und dabei nackt auszog? Es gab zahllose Möglichkeiten, wie sie den Kollektor verlieren konnte, und dann könnte sie den Auftrag abschreiben, denn allmählich wurde es selbst ihr zu viel.
Eine solche Situation war der Grund, weshalb sie sich immer wasserdichte Speichermedien besorgte. Das war zwar ein bisschen teurer, aber es lohnte sich. Damit steckte in ihrer Tasche zwar noch das Oblivion, doch darauf konnte sie verzichten.
Paxton eilte davon, um Hilfe zu holen. Zinnia warf einen Blick auf Rick. Der lag weiterhin am Boden.
Bestimmt hatte er gesehen, wie sie den Kollektor in die Buchse gesteckt hatte. Aber es würde jetzt sehr unangenehm für ihn werden, und zwar ganz offiziell. Schließlich hatte ein Security-Mann beobachtet, wie er eine Frau angriff. Mit so etwas kam man nicht so einfach davon.
So wie Cynthia es dargestellt hatte, war allerdings
bekannt, dass er Frauen belästigte. Ob er wohl eine besondere Stellung in der Firma hatte? Gab es etwas, was ihn in solchen Fällen schützte?
Und würde er das, was er gesehen hatte, dazu verwenden, sich aus der Affäre zu ziehen?
Auf dem Tisch über ihr lag eine Schere, die sie jetzt im Geiste vor sich sah. Sie hatte schon während der Prügelei daran gedacht, aber da war alles zu schnell gegangen. Die Schere hatte hellgelbe Kunststoffgriffe und sah so stumpf aus, dass sie möglicherweise leicht zerbrach, aber die Haut am Hals war sehr empfindlich. Und Zinnia konnte behaupten, dass Rick wieder versucht hatte, sie anzufallen.
Bevor sie sich zum Aufstehen entschließen konnte, kam Paxton um die Ecke, begleitet von der Krankenschwester und einem weiteren Mann in Blau, einem schlaksigen Kerl mit Bürstenhaarschnitt. Sie schloss die Augen und tat wieder so, als wäre sie ohnmächtig.
»Wo hast du eigentlich gesteckt, verdammt noch mal?«, hörte sie Paxton fragen.
»Ich hab … ich hab bloß …« Das war der andere Blaue.
»Was hast du?«, fragte Paxton. »Im Dienst gepennt?«
»Bitte …«
»Jetzt komm mir bloß nicht so! Da kannst dich auf was gefasst machen. Die Frau da hätte ums Leben kommen können!«
Zinnia spürte, wie Paxton sie wieder abtastete, dann folgten zwei kleinere Hände. Die Krankenschwester, die nach Knochenbrüchen suchte und an einem Augenlid zog. Zinnia griff sich mit der Hand an die Stirn und blinzelte, worauf die beiden sie hochzogen und auf ein Bett legten.
»Geht es?«, fragte Paxton
.
Ihr war nicht klar, was er dachte. Auf jeden Fall war er besorgt, was schon mal ein guter Anfang war. »Ja«, sagte sie. »Ich bin bloß … Ja, es geht schon.«
Paxton blickte auf seine Uhr, und im selben Moment summte auch die von Zinnia. Das Update war abgeschlossen. Das Display zeigte den bekannten Smiley, um dann in den Normalzustand zurückzukehren.
Auf Zinnias Uhr stand: Bitte begeben Sie sich wieder an Ihren Arbeitsplatz.
Paxton warf einen Blick darauf. »Das kannst du ignorieren.« Er sah die Krankenschwester an. »Behalten Sie sie im Auge.« Dann trat er beiseite, um etwas in seine Uhr zu sprechen. Dabei entfernte er sich ein Stück, sodass Zinnia nicht verstehen konnte, was er sagte.
Die Schwester richtete ihren Leuchtstift auf Zinnias Augen. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht recht.«
»Willst du was gegen die Schmerzen?«
»Nein.« Natürlich wollte sie etwas dagegen, und zwar das, was in ihrer Hosentasche steckte. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich vollzudröhnen.
Paxton stand wieder neben ihr. »In ein paar Minuten wird mein Chef hier sein. Er sagt, dass allerhand Schwachsinn passiert ist. Aber bevor er kommt – weißt du, weshalb der Typ dich angegriffen hat?«
Zinnia überlegte, ob sie die Frage verneinen und sagen sollte, es sei wie aus heiterem Himmel passiert. Völlig unerwartet. Das wäre ihr lieber gewesen. Dann hätte sie nicht eingestehen müssen, dass sie sich in der Dusche Ricks Forderungen gefügt hatte wie ein schwaches, kleines Ding, das keine andere Wahl hatte.
Aber der Kollektor steckte zwischen ihrem Zahnfleisch und ihrer Wange, und Paxton sollte sich nicht
daran erinnern, dass sie an dem Computer hantiert hatte.
Deshalb erzählte sie, was passiert war.
Dass sie es gewesen war, die Rick hier ins Krankenhaus befördert hatte, ließ sie weg, aber die Story zeigte trotzdem ihre Wirkung, denn Paxton und die Krankenschwester machten ein immer längeres Gesicht. Vor allem Paxton sah wiederholt zu Rick hinüber, der auf dem Rücken lag und an die Decke starrte, als wüsste er, dass er erledigt war. Es schien Paxton schwerzufallen, dem Kerl keinen Fußtritt an den Schädel zu verpassen.
Als Zinnia geendet hatte, sagte er: »Das hättest du mir aber erzählen sollen.«
Das hörte sich wie eine Schelte an, was Zinnia gar nicht passte. »Manchmal ist es am besten, so was auf sich beruhen zu lassen«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Du hättest es mir erzählen sollen.«
Diesmal klang der Satz trauriger. In Zinnia löste das ein Durcheinander aus komplexen Gefühlen aus. Aus Gefühlen, die ihr nicht gefielen, auch wenn sie sie nicht richtig deuten konnte.
Wenig später war der ganze Raum voller Menschen. Fragen über Fragen wurden gestellt. Man legte Rick auf ein Bett und schnallte ihn fest. Ein älterer Mann mit einem verwitterten Gesicht in einer braunen Uniform – der berüchtigte Dobbs – wollte von ihr wissen, was geschehen sei. Ganz unvoreingenommen, ganz ohne Hintergedanken wollte er einfach ihre Geschichte hören. Sie spulte die Version ab, in der sie am besten davonkam, und zog dabei aus den Fragen, die Dobbs stellte, ihre Schlüsse. Auch die Unterhaltungen der Leute ringsum waren informativ
.
Wahrscheinlich hatte der für diese Station zuständige Security-Mann, er hieß Goransson, sich irgendwo anders hin verzogen oder sogar im Nebenraum schlafen gelegt. Dobbs wiederum erklärte ihr, der mit der Einsatzleitung beim Update betraute Mitarbeiter habe ihr Profil aufgerufen, als sie ins Krankenhaus transportiert worden sei, und dann eine anzügliche Nachricht mit ihrem Foto verfasst. Eigentlich habe er die nur an einen Kumpel senden wollen, sie aber stattdessen an das gesamte Security-Personal geschickt.
Wodurch Paxton in der Lage gewesen sei, gerade noch rechtzeitig bei ihr einzutreffen.
Offenbar nahm man das, was Zinnia gegen Rick vorbrachte, ernst. Es war ihr zwar zuwider, die Opferrolle zu spielen, aber wenigstens würde er dafür bezahlen. Sie wollte das Ganze schon als Sieg abhaken, als sie ihn etwas brüllen hörte, während er auf seinem Bett aus dem Raum geschoben wurde. »Fragen Sie sie doch wenigstens! Fragen Sie sie!
«
Dobbs, der gerade mit Rick gesprochen hatte, senkte den Kopf, stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte sich, dann kam er anmarschiert.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen die Frage stellen muss, aber der Mann behauptet, Sie hätten vorhin an einem der Computer herumgepfuscht«, sagte er. »Ich neige zwar nicht dazu, solchen Scheißkerlen Glauben zu schenken, aber ansprechen muss ich es trotzdem.«
Zinnia spürte, wie die scharfen Kanten des Kollektors in ihr Zahnfleisch schnitten.
»Als er mich überfallen hat, war ich auf dem Weg zur Toilette«, sagte sie. »Ich habe keine Ahnung, wovon er da redet.«
Dobbs nickte. Offenbar war er mit ihrer Antwort
zufrieden. Hinter ihm stand Paxton und starrte zu Zinnia herüber. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihr nicht.