Zinni
a
Zinnia verzichtete darauf, das Deckenlicht anzuschalten. Durchs Fenster strömte mattgelbes Licht. Sie warf einen Blick auf die beinahe leere Flasche Wodka, die auf der Ablage stand. Ihr Gehirn fühlte sich an wie mit einer Frischhaltefolie umwickelt, die langsam straffer gezogen wurde. Sie war sich nicht sicher, ob das an dem Wodka lag oder an dem Tritt, den sie gestern an den Schädel bekommen hatte. Vielleicht an beidem.
Dass sie kaum geschlafen hatte, half auch nicht gerade.
Sie war ein paarmal eingeschlummert, wenn ihr Körper den Druck des Wachseins nicht mehr ausgehalten hatte, aber hauptsächlich hatte sie an die Wandbehänge an der Decke gestarrt und nachgegrübelt, wieso zum Henker sich ihre Auftraggeber wohl mit ihr treffen wollten.
So etwas war noch nie vorgekommen. Nicht ein einziges Mal, jedenfalls nicht, bevor sie den jeweiligen Auftrag erledigt hatte. Selbst Weisungsänderungen konnten durch codierte Nachrichten übermittelt werden. Es ging also um etwas, was zu sensibel war, als dass es auf gewohnte Weise mitgeteilt werden konnte.
Oder es ging um etwas anderes.
Etwas anderes
gefiel Zinnia gar nicht.
In der Aufnahme standen Mietwagen zur Verfügung. Sie rief in ihrem Fernseher das System auf, klickte sich durch und stellte fest, dass die Wartezeit drei Monate betrug, falls man keinen Aufschlag bezahlte. Der jedoch war so hoch, dass er ihr Konto ruiniert hätte. Sie
überlegte, ob es möglich war, die Anlage zu Fuß zu verlassen und sich so weit davon zu entfernen, dass sie ungefährdet Kontakt mit ihren Auftraggebern aufnehmen konnte, um einen Treffpunkt zu vereinbaren. Nur gab es hier meilenweit keinen Ort, der irgendeine Deckung bot.
Aber für so etwas gab es ja Paxton in ihrem Leben.
Sie griff nach ihrem Handy und tippte hastig eine Nachricht.
Wie wär’s mit einem Ausflug? Würde unheimlich gern mal einen Tag raus hier. Leider ist Warteliste für Mietwagen zu lang. Kannst du da was drehen?
Sie musste nicht lange warten.
Ich versuche mein Bestes. Melde mich bald wieder.
Zinnia lächelte. Sie schlüpfte in ihren Bademantel und machte sich auf den Weg zum Waschraum, um zu duschen. Wahrscheinlich brauchte sie später noch mal eine Dusche, weil die Prügelei mit Rick noch an ihr klebte, ein Gefühl, das wahrscheinlich nicht so bald verschwinden würde. Am liebsten hätte sie sich unters warme Wasser gestellt, bis ihre Haut sich abschälte.
Nur zwei der Duschkabinen waren belegt, und auf einer der Bänke saß Hadley, in ein weißes, flauschiges Handtuch gewickelt. An den Füßen hatte sie neonfarbige Flipflops. Daneben saß Cynthia in ihrem Rollstuhl, ebenfalls nackt bis auf ein Handtuch. Sie massierte Hadley die Schultern und flüsterte ihr dabei etwas zu, was Hadley mit einem Nicken quittierte.
Als Zinnia den Raum betrat, hob Cynthia den Kopf und riss die Augen auf. Zinnia brauchte eine Sekunde,
bis ihr klar wurde, woran das lag – an ihrem lädierten Gesicht.
Stirnrunzelnd nahm Cynthia die Hände von Hadleys Schultern. »Was ist denn mit dir passiert?«, fragte sie.
Zinnia zuckte die Achseln. »Bin in eine Schlägerei geraten.«
»Du lieber Himmel …«
»Ach, du solltest mal den anderen sehen.«
Hadley schielte zu Zinnia hoch, die sie kurz anlächelte und fixierte. Sie wollte ihr wortlos mitteilen, was geschehen war, aber Hadley ließ den Blick gleich wieder in den Schoß sinken. Zinnia ging zu einer anderen Bank und legte die Sachen darauf, die sie später anziehen wollte. Cynthia tätschelte Hadley noch einmal beruhigend die Schulter und rollte zur Behindertendusche am anderen Ende des Raums.
Zinnia ging zu einer freien Kabine und wollte schon den Bademantel ausziehen und an die Wand hängen, als ihr Blick noch einmal auf Hadley fiel. Die saß vornübergebeugt da wie eine zusammengerollte Katze und starrte auf den Boden. Zinnia trat zu ihr und setzte sich auf die Bank ihr gegenüber, so dicht, dass sich die Knie der beiden fast berührten.
Hadley sah nicht auf. Sagte kein Wort. Schien sich noch weiter in sich zurückzuziehen.
»Hör auf damit«, sagte Zinnia mit leiser Stimme, damit Cynthia nichts mitbekam und womöglich intervenierte.
Jetzt hob Hadley endlich den Kopf ein Stück. Durch die Haare, die ihr ins Gesicht hingen, war nur ein Auge sichtbar.
»Du darfst keine Angst vor ihm haben«, fuhr Zinnia fort. »Sonst hat er gewonnen. Und dann wächst er in
deiner Vorstellung zu einem Monster, das du nicht mehr loswirst. Dann liegst du jede Nacht im Bett, bis du vor Erschöpfung einschläfst. Aber das ist er nicht wert. Er ist nicht unbesiegbar.« Zinnia beugte sich nah zu Hadley und senkte die Stimme noch weiter. »Wie gesagt, du solltest jetzt ihn mal sehen.«
Von dem Gesagten offenbar geschockt, zuckte Hadley zusammen, doch dann streckte sie ihr Rückgrat ein bisschen. Durch den Schleier aus Haaren hindurch wurde auch das andere Auge sichtbar.
»Hör doch endlich mit dem weinerlichen Getue auf«, sagte Zinnia.
Hadley sank in sich zusammen, als hätte die gerade gewonnene Kraft sich wieder in Luft aufgelöst, und Zinnia bekam leichte Gewissensbisse, weil sie so scharf gewesen war. Aber Hadley brauchte so etwas. Eines Tages würde sie vielleicht sogar dankbar dafür sein.
Unter der Dusche genoss Zinnia das warme Wasser auf ihrer Haut. Als sie auf den Seifenspender an der Wand drückte und sich einseifte, merkte sie, dass ihr das eine andere Wärme vermittelte, die sich von innen her in ihr ausbreitete. Sie ging von dem Bereich zwischen den Lungenflügeln aus, an der linken Seite der Brust.