Paxto
n
»Mr. Paxton, ich bin Gibson Wells …«
Quatsch, völlig falsch. Durchatmen!
»Mr. Wells, mein Name ist Paxton. Bevor ich hier bei Cloud angefangen habe, war ich der Besitzer … nein … war ich der CEO
einer Firma mit dem Namen Das Perfekte Ei
. Es war ein kleines Unternehmen, das ich mit großem Einsatz aufgebaut habe, aber als Cloud ständig immer größere Rabatte von mir verlangt hat …«
Zu lang. Die Worte fühlten sich in seinem Mund wie Brei an. Er musste mit einem kraftvollen Statement beginnen. Es ganz direkt sagen.
»Mr. Wells, Sie behaupten, dass Sie die Arbeitnehmer unseres Landes unterstützen, aber Sie haben mein Unternehmen ruiniert.«
Paxton nickte vor sich hin. Das würde Wells dazu bringen, ihm zuzuhören. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er aus der Sonne in den Schatten trat. Den gab es inzwischen kaum mehr, weil es auf Mittag zuging. Er überlegte, ob er sich wieder in den Buchladen verziehen sollte, aber da fühlte er sich nicht wohl. Irgendwo raschelte es. Vielleicht Ratten.
Er ging zum Wagen zurück, daran vorbei und weiter die Durchfahrt entlang, neugierig, wohin sie führte. Vielleicht zu einem anderen Häuserblock. Stattdessen gelangte er zu einer Laderampe und einem von fensterlosen Hauswänden umgebenen Parkplatz. Überall Unkraut. Aus dem harten Boden sprossen riesige Stängel.
Hinter sich hörte er ein Geräusch. Schritte, die auf
Kies knirschten. Als er sich umdrehte, standen da im grellen Licht drei Gestalten. Alle drei trugen eine Sonnenbrille und hatten ein Tuch um den Mund gebunden. Die Klamotten waren derb und abgewetzt. Zwei Männer und eine Frau.
Die Männer waren weißhäutig, groß und so hager, als hätte man sie in die Länge gezogen. Vielleicht Zwillinge, was wegen der Vermummung aber nicht recht zu beurteilen war. Die Frau war kräftig und untersetzt; sie hatte dunkle Haut und aufgetürmte graue Dreadlocks. In den Händen hielt sie eine antike Flinte, deren Lauf sie auf Paxtons Brust gerichtet hatte. Das Ding hatte wohl Kaliber .22, also kaum mehr als ein Luftgewehr, und war so verrostet, dass es wahrscheinlich gar nicht losgehen würde, aber das Risiko wollte er lieber nicht eingehen.
Er blieb stehen und hob die Hände in die Luft. Die drei standen ebenfalls da und starrten ihn an. Sie warteten. Hatten keine Eile. Von so einer Aktion hatte Paxton noch nie gehört. Das hier war Amerika, nicht irgendein absurder Schundfilm. Es gab doch keine Banditen, die durch die Wildnis streiften, um nichts ahnende Reisende zu überfallen.
Die Frau zog das Tuch herunter, um sprechen zu können. »Zu wem gehörst du?«
Beinahe hätte er Zinnia erwähnt, doch dann wurde ihm klar, dass die Typen vielleicht nichts von ihr wussten. »Zu niemand«, sagte er deshalb. »Bin ganz alleine da.«
Die Frau grinste kurz. »Wir wissen von deiner Freundin im Buchladen. Die haben wir schon einkassiert. Aber zu wem gehörst du?«
»Wo ist meine Freundin?«
»Erst will ich eine Antwort hören.
«
Paxton reckte leicht die Brust.
»Wir haben eine Waffe«, sagte die Frau.
»Ja, das ist offensichtlich.«
Die Frau trat auf ihn zu und stieß den Flintenlauf mehrmals in seine Richtung, wie um ihre Worte zu unterstreichen. »Wer hat dich den weiten Weg hier rausgeschickt?«
Paxton wich zurück. »Uns hat niemand geschickt. Wir machen bloß einen Ausflug. Den Tag über. Ist ein urbanes Forschungsprojekt.«
»Ein urbanes Forschungsprojekt?«
Paxton hob die Schultern. »So nennt man das heute.«
Die Frau deutete mit der Mündung in Richtung Buchladen. »Abmarsch.«
»Wie wär’s, wenn du aufhörst, mir die Flinte auf den Bauch zu richten?«
»Später vielleicht.«
»Hör mal, wir sind bestimmt nicht hier, um irgendjemand etwas anzutun.«
»Habt ihr Wasser dabei?«
Paxton deutete auf den Wagen. »Im Kofferraum.«
»Schlüssel.«
Er zog den Schlüssel aus der Hosentasche und warf ihn ihr vor die Füße in den Dreck. Als sie sich bückte, hätte er sich auf sie stürzen können. Hätte. Er wartete eine Sekunde zu lange, und da hatte sie sich schon wieder aufgerichtet. Sie gab den Schlüssel an einen der beiden hageren Typen weiter, der daraufhin zum Wagen ging, den Kofferraum öffnete und die Wasserflaschen herausholte.
»Sehr gut«, sagte sie. »Los jetzt.«
Die drei blieben ein Stück zurück, um Paxton genügend Abstand zu lassen, während er an den Ladenfronten
entlang zum Buchladen ging. Sie waren clever. Kamen nie zu nah an ihn heran. Ein, zwei Meter näher, dann hätte Paxton den Lauf der Flinte packen, ihn in den Himmel richten und dann nach unten greifen können, um sich die Waffe anzueignen. Das war ein simpler Entwaffnungstrick, den er im Gefängnis alle drei Monate bei dem vorgeschriebenen Selbstverteidigungstraining geübt hatte.
Zumindest war ihm das simpel vorgekommen, aber eine Flintenattrappe war etwas anderes als eine echte.
Außerdem hatte er nicht das Gefühl, dass die drei ihm etwas antun wollten. Sie plusterten sich zwar mächtig auf, aber die Frau hatte ein leichtes Zittern in der Stimme, und ihre Schultern waren zu verspannt. Je länger Paxton nachdachte, desto mehr kamen die drei ihm wie verängstigte kleine Tiere vor, deren Versteck man entdeckt hatte. Nun bleckten sie die Zähne und hofften, dass das Raubtier sich davonmachte und sich eine andere Beute suchte.
Er trat in den Buchladen. »Zinnia!«, rief er. »Alles in Ordnung?«
Ihre Stimme kam von ganz hinten. »Ja, mir ist nichts passiert.«
Paxton hörte, wie die drei hinter ihm hereinkamen. Er hielt die Hände gehoben und bewegte sich ganz langsam. Nur keine plötzlichen Bewegungen. Wenn er cool blieb, wenn er und Zinnia es geschickt anstellten, war das hier bald erledigt, und sie konnten in die Geborgenheit der MotherCloud zurückkehren.
Zinnia saß hinten mit dem Rücken an der Wand da, die Hände auf dem Boden aufgestützt. Einige Meter von ihr entfernt stand eine junge, schmächtige Frau mit Zöpfen und milchweißer Haut und richtete einen kleinen schwarzen Revolver auf sie
.
Verwirrt sah Zinnia ihn an, während seine drei Begleiter in den Raum zwischen den Regalen und der Ladentheke traten.
»Dich haben sie also auch erwischt, was?«, sagte Zinnia.
Paxton tröstete sich mit der Tatsache, dass sie offenbar nicht in Panik geraten war. »Bist du verletzt?«, fragte er.
»Nein.«
Paxton sah die Frau mit dem Revolver scharf an. »Gut.«
»Klappe«, sagte die Frau mit der Flinte und richtete ihre Waffe ebenfalls auf Zinnia. Die ließ brav die Hände auf dem Boden.
Paxton spürte, dass die Temperatur im Raum noch weiter anstieg. Dieses Gefühl kannte er. Man musste etwas dagegen tun, bevor das Thermometer explodierte. »Moment mal!«, sagte er laut und deutlich.
Alle sahen ihn an.
»Das Ganze ist ein Missverständnis«, fuhr er fort. »Wir wollen uns doch nichts gegenseitig antun, oder? Schließlich hat niemand ein Interesse dran, verletzt zu werden. Wir wollen alle bloß nach Hause.« Er deutete auf die Frau mit der Flinte, um Kontakt mit ihr herzustellen. »Ihr könnt das Wasser gern behalten. Wie wär’s, wenn ihr einfach eure Waffen senkt und uns gehen lasst? Dann vermeiden wir, dass jemand erschossen wird.«
Die Frau fasste ihre Waffe fester, warf jedoch einen Blick auf die mit dem Revolver. Was bedeutete, dass Letztere das Sagen hatte.
»Wie heißt du überhaupt?«, fragte Paxton und wandte sich der Frau mit dem Revolver zu. »Ich bin Paxton, und meine Freundin da auf dem Boden heißt Zinnia. Wie ist dein Name?
«
»Ember.«
»Amber?«
»Ember. Mit einem E.«
»Okay, Ember. Jetzt kennen wir uns. Wie wäre es also, wenn ihr beide eure Waffen sinken lasst, damit wir gehen können. Dann ist alles erledigt.«
»Auf eurem Wagen ist das Logo von Cloud«, sagte Ember.
»Wir arbeiten da.«
Ember nickte, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Etwas an ihrem Gesicht war ihm vertraut, aber er wusste nicht, woher. Gesehen hatte er sie schon einmal. Vielleicht in der MotherCloud? Dort gab es so viele Gesichter.
»Dich habe ich doch bei der Bewerbung gesehen«, sagte Zinnia. Alle wandten sich ihr zu. Sie sah Ember fest an und nickte. »Du bist die, die man weggeführt hat. In dem Theater.«
Der harte Ausdruck auf Embers Gesicht milderte sich. »Da warst du auch dabei? Und erinnerst dich an mich?«
Zinnia hob die Schultern. »Ich kann mir Gesichter ganz gut einprägen.«
Jetzt erinnerte Paxton sich ebenfalls. Die Frau in dem lila Hosenanzug mit dem orangefarbenen Preisschild aus dem Secondhandladen. Während alle zum Bus gegangen waren, hatte man sie herausgegriffen.
»Wer seid ihr eigentlich?«, fragte Paxton.
Ember lächelte. »Wir sind der Widerstand.«
»Wogegen?«, fragte Zinnia.
»Gegen Cloud. Und ich glaube, ihr könnt uns helfen.«