Zinni a
Was für ein dämlicher Schwachsinn das doch war.
Das konnten unmöglich ihre Auftraggeber sein. Diese windschiefen, ungewaschenen Gestalten mit vergilbten Zähnen. Die konnten es sich kaum leisten, für sich selbst zu sorgen, geschweige denn eine anständige Summe auf Zinnias Konto zu überweisen.
Sie war nicht in der Lage gewesen, ihr Handy zu checken, weshalb sie keine Ahnung hatte, ob ihre Kontaktperson sich in der Nähe befand, woanders auf sie wartete oder schon wieder fort war. Deshalb konnte sie nichts anderes tun, als sich dumm zu stellen und auf ihre Chance zu warten. Sie sah sich prüfend um. Es war unmöglich, gleich zwei so weit von ihr entfernt stehende Personen zu entwaffnen, ohne dass jemand einen Schuss abbekam. Sie selbst wollte dieser Jemand nicht sein, und es war ihr lieber, wenn Paxton ebenfalls nicht erschossen wurde.
Nicht dass er ihr so wichtig gewesen wäre. Das war er nicht. Aber er hatte es nicht verdient, so zu enden.
Paxton trat neben sie an die Wand und ließ sich ebenfalls auf dem Boden nieder. »Können wir nicht einfach …«, fing er an.
»Stopp«, sagte Ember. »Kein Wort mehr. Jetzt hört ihr erst mal zu, kapiert? Ihr hört zu, dann dürft ihr reden. Aber überlegt euch gut, was ihr sagt, sonst hat das kein gutes Ende.«
Die Frau mit der Flinte winkte Ember zu sich und sprach leise mit ihr, wobei sie sich von Paxton und Zinnia abwandte, als könnten die sie dann nicht hören. »Meinst du denn, das sind die, hinter denen wir her waren?«
»Unmöglich«, sagte Ember. »Das Signal ist verschwunden, bevor sie hier eingetroffen sind. Außerdem haben sie bloß einen Kleinwagen.«
Scheiße. Die hatten Zinnias Kontaktperson verfolgt.
Aber weshalb? Fragen wollte sie das nicht, weil sie kein Interesse zeigen wollte. Deshalb war sie erleichtert, als Paxton das an ihrer Stelle trat.
»Moment, ihr habt jemand verfolgt? Ich dachte, ihr wohnt hier.«
Ember blickte zu ihm herab. Sie ließ den Revolver sinken und hielt ihn so, dass er mit dem Abzugsbügel an ihrem Zeigefinger hing. Einer der Männer nahm ihn ihr ab.
»Wir haben das Signal von einer Luxuslimousine aufgeschnappt, die durch die Gegend gefahren ist«, sagte sie. »Ist selten, dass solche Leute bis hier rauskommen. Wir hatten vor, sie auszurauben.«
Aha, dachte Zinnia. In dem Wagen hatte eindeutig ihre Kontaktperson gesessen.
»Wie Robin Hood?«, sagte Paxton. »Dann bist du wohl die Königin der Diebe?«
»Inzwischen sind die bestimmt schon über alle Berge.« Ember klatschte in die Hände. »Dafür haben wir gerade einen viel besseren Fang gemacht.«
Die beiden Bohnenstangen und die grauhaarige Frau zogen sich zu den Regalen zurück, wo sie sich wie Kinder im Schneidersitz auf den Boden setzten und mit Begeisterung im staubigen Gesicht zu Ember hochblickten. Die griff in ihre Gesäßtasche und zog etwas heraus, was sie vorerst in ihrer Faust verbarg. Ohne Zinnia und Paxton aus den Augen zu lassen, ging sie kurz in die Hocke. Es klickte leise, dann stand sie wieder auf. Vor ihren Füßen lag ein USB -Stick.
»Das ist das Streichholz, das ganz Cloud niederbrennen wird«, sagte sie, als stünde sie auf einer Bühne und würde zu einem Saal voller Menschen sprechen.
Das Streichholz, das auf dem CloudBand aufgetaucht war. Waren die das gewesen? Zinnia hätte zu gern gewusst, wie sie in das System eingedrungen waren – das war wirklich eindrucksvoll gewesen –, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen.
»Was habt ihr für Jobs?«, fragte Ember. »Was tut ihr dort?«
»Wir sind beide Sammler«, sagte Zinnia, während Paxton gleichzeitig mit »Security« antwortete.
Sie sah Paxton an und hob missbilligend die Augenbraue. Das konnte ja wohl nicht wahr sein!
Ember nickte und wandte sich an Paxton. »Wunderbar. Dann hör mal gut zu. Du wirst den Stick da in die MotherCloud mitnehmen. Dort steckst du ihn in ein Terminal und folgst den angezeigten Befehlen, bis das Programm läuft. Bis du wiederkommst, halten wir deine Freundin hier fest, aber dann kriegst du sie wieder.«
Zinnia lachte. Anfangs fiel ihr das leicht, so als hätte sie nicht gerade erst Monate ihres Lebens mit diesem Scheiß vergeudet. Aber dann durchfuhr es sie eiskalt. Was die da vorhatten, hörte sich ganz ähnlich an wie ihr eigener Auftrag. Stellten sie eine Konkurrenz dar? War es das gewesen, was ihre Auftraggeber ihr hatten mitteilen wollen? Sollte sie etwa ausgebootet werden?
»Nein«, sagte Paxton.
»Was soll das heißen – nein?«, fragte Ember.
»Das heißt genau das, was ich gesagt habe. Ich werde sie nicht hier zurücklassen. Und ich werde überhaupt nichts tun, bevor ihr mir erklärt, was zum Teufel das überhaupt soll.«
Ember warf einen Blick auf ihre Gefährten. Blickte Paxton und Zinnia von der Seite her an. »Wenn ihr eine Erklärung braucht, weshalb Cloud vernichtet werden muss, dann weiß ich nicht recht, wo ich anfangen soll«, sagte sie.
»Was ist denn das Problem mit Cloud?«, fragte Paxton. Seine Stimme hatte einen herablassenden, sarkastischen Ton, und in diesem Moment fühlte Zinnia sich stark zu ihm hingezogen. »Klärt mich bitte auf.«
Ember lachte. »Weißt du, was früher die durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche war? Vierzig Stunden. Samstag und Sonntag hatte man frei. Für Überstunden wurde man bezahlt. Die Krankenversicherung war durchs Gehalt gedeckt. Wusstest du das? Und bekanntlich wurde man mit Geld bezahlt, nicht mit einem bizarren Credit-System. Man hat ein Haus oder eine Wohnung besessen. Man hatte ein Leben, das von der Arbeit getrennt war. Und jetzt?« Sie schnaubte. »Jetzt ist man ein Wegwerfartikel, der Wegwerfartikel verpackt.«
»Und weiter?«, sagte Paxton.
Ember erstarrte, als hätte sie erwartet, dass ihre Worte eine größere Wirkung erzielten. »Macht dich das denn nicht wütend?«
Paxton ließ den Blick über sie und ihre Spießgesellen wandern, die hinter ihr auf dem Boden hockten. »Für euch läuft es offenbar auch nicht so toll, oder? Sonst müsstet ihr nicht mitten in der Pampa irgendwelche Autos überfallen. Welche Wahl haben wir denn eigentlich?«
»Man hat immer eine Wahl«, sagte Ember. »Zum Beispiel könntet ihr euch entscheiden wegzugehen.«
Als Paxton weitersprach, dröhnte seine Stimme durch den engen Raum. Der selbstsichere Auftritt, den Zinnia so attraktiv gefunden hatte, ging in etwas anderes über, was sich tief in seinem Innern befand. Sie nahm Emotionen in ihm wahr, die ihm womöglich gar nicht bewusst waren. »Man hat eine Wahl? Wirklich? Ich habe nämlich jahrelang in einem Job gearbeitet, der mir zuwider war, damit ich eine Firma gründen konnte. Und wisst ihr, was dann passiert ist? Der Markt hat seine Wahl getroffen. Er hat Cloud gewählt. Da kann ich jammern, klagen und mich auf den Kopf stellen, das bringt überhaupt nichts. Entweder ich reiße mich zusammen und tue meine Arbeit, oder ich lebe im Elend und verhungere. Darauf kann ich verzichten. Ich wähle ein Dach über dem Kopf und was zu futtern.«
»Und damit hat es sich?«, sagte Ember. »Du akzeptierst den Status quo? Nimmst die Dinge hin, wie sie sind? Lohnt es sich nicht, für etwas Besseres zu kämpfen?«
»Was soll denn besser sein?«
»Alles andere als das, wie es jetzt ist«, sagte Ember mit lauterer Stimme.
Die Stimme von Paxton wurde ebenfalls lauter. Seine Halsmuskeln spannten sich an, und sein Gesicht wurde rot. »Das ist das Beste, was man aus einer schlechten Situation machen kann. Ihr könnt also gern eure Spielchen spielen, verändern wird das überhaupt nichts!«
»Puh«, sagte Zinnia, worauf beide Kontrahenten sie ansahen. Sie stupste Paxton an. »Wie wär’s, wenn du ruhig bleibst?«
Ember seufzte und tat einen Schritt auf die beiden zu. »Ich will euch mal was über Cloud erzählen. Wir haben uns selbst dafür entschieden, dass die Bosse da so viel Macht haben. Wir haben ihnen die Kontrolle überlassen. Als sie beschlossen haben, die Supermärkte aufzukaufen, haben wir das zugelassen. Als sie beschlossen haben, die Landwirtschaft zu übernehmen, haben wir das zugelassen. Als sie beschlossen haben, immer mehr Massenmedien und Internetprovider und Mobilfunkfirmen aufzusaugen, haben wir das ebenfalls zugelassen. Man hat uns gesagt, das würde zu besseren Preisen führen, weil bei Cloud nur der Kunde zählen würde. Weil er ein Teil der Familie wäre. Aber wir gehören nicht zur Familie. Wir sind das Futter, das große Unternehmen fressen, um noch größer zu werden. Wie’s aussieht, waren die letzten Einzelhandelsketten das Einzige, was Cloud früher noch in Schach gehalten hat. Und dann kamen die Massaker am Black Friday, nach dem die Leute sich nicht mehr getraut haben, zum Einkaufen das Haus zu verlassen. Meint ihr etwa, das war ein Zufall? Eine Fügung des Schicksals?«
»Oje«, sagte Paxton mit normaler Stimme und nickte langsam. »Jetzt wird es lächerlich. Das sind doch schwachsinnige Verschwörungstheorien.«
»Das ist kein Schwachsinn.«
»Wenn du das glaubst, hast du nicht alle Tassen im Schrank.«
Sie stampfte mit dem Fuß auf, worauf ihre Gefährten zusammenzuckten. »Wie könnt ihr das bloß ignorieren? Wie könnt ihr nicht wütend darüber sein, dass sie euch und euer Leben im Würgegriff haben? Wie könnt ihr euch damit zufriedengeben, wie die Menschen von Omelas zu sein?«
»Omelas? Was ist das jetzt wieder?«
Ember presste die Hände ans Gesicht. »Das ist ja das Problem. Es ist nicht so, dass wir die Fähigkeit verloren hätten, etwas zu empfinden. Wir haben die Fähigkeit zu denken verloren.« Sie nahm die Hände herunter und sah Paxton an. »Wir leben in einem Zustand der Entropie. Wir kaufen Dinge, weil wir auseinanderfallen und weil etwas Neues uns das Gefühl vermittelt, wieder ganz zu sein. Nach diesem Gefühl sind wir süchtig, und dadurch hat Cloud uns in der Gewalt. Das Schlimmste ist, wir hätten es kommen sehen sollen. Jahrelang haben wir Geschichten darüber gelesen, Bücher wie Schöne neue Welt und 1984 und Fight Club . Die Geschichten darin haben wir verschlungen, aber die Botschaft ignoriert. Und jetzt kann man zwar alles auf der Welt bestellen, was schon am nächsten Tag geliefert wird, aber wenn man versucht, ein Exemplar von Fahrenheit 451 oder von Der Report der Magd zu bestellen, dauert es Wochen, falls das Buch überhaupt je ankommt. Das liegt daran, dass wir diese Geschichten nicht mehr lesen sollen. Man will nicht, dass wir auf bestimmte Ideen kommen. Ideen sind gefährlich.«
Paxton sagte nichts. Zinnia fragte sich, was er wohl dachte. Was sie selbst dachte, wusste sie: Ember war eine fantastische Rednerin. Sie hatte eine Stimme, die dich bei der Hand nahm, deine Wange streichelte, dich davon überzeugte, deine Kreditkartennummer preiszugeben.
Abgesehen davon, hatte sie nicht unrecht.
»Das ist eben das System, das wir haben«, sagte Paxton schließlich. »Die Welt fällt auseinander. Cloud versucht wenigstens, sie wieder ganz zu machen.«
»Ach, mit diesen sogenannten grünen Initiativen?«, sagte Ember. »Das soll eine Rechtfertigung sein?« Sie schüttelte den Kopf, machte einen weiteren Schritt vor und griff wieder in ihre Gesäßtasche. Zog etwas Kleines heraus und hielt es mit Daumen und Zeigefinger. Zinnia brauchte eine Sekunde, bis sie erkannte, was es war.
Ein schwarzes Streichholz mit einem weißen Kopf .
»Seht ihr das?« Ember fixierte Paxton und Zinnia abwechselnd so lange, bis beide nickten. »Das ist so klein und so zerbrechlich. Mit der Zeit wird es alt und unbenutzbar werden. Wenn es feucht ist, funktioniert es nicht. Man kann es unheimlich leicht verlieren oder verlegen. Und dennoch kann der darin enthaltene Funke einen ganzen Wald niederbrennen. Er kann eine Sprengstoffladung zünden, die in der Lage ist, ein ganzes Gebäude zu zerstören.«
Paxton lachte. »Das also war euer Plan mit dem Bild auf dem CloudBand? Ihr habt gemeint, wenn ihr den Leuten ein Streichholz zeigt, würde sich was ändern? Stattdessen hat niemand kapiert, was es bedeuten sollte.«
»Wir haben das Fundament geschaffen«, sagte sie mit scharfer Stimme. Widerspruch war sie offensichtlich nicht gewohnt. Sie war daran gewöhnt, dass die Leute sich an ihre Worte klammerten wie an einen Rettungsring. »Wir gewöhnen die Leute langsam daran.« Sie deutete hinter sich auf den USB -Stick, der wie ein sakraler Gegenstand auf dem Boden lag. »Aber damit schaffen wir es. Das ist unsere Antwort. Das ist unser Streichholz.«
»Und was dann?«, sagte Paxton. »Wenn ihr Cloud zu Fall gebracht habt, wie läuft es dann weiter? Wo sollen die Leute arbeiten? Was werden sie anfangen? Das würde bedeuten, die Wirtschaft völlig neu zu gestalten. Den Wohnungsmarkt ebenfalls.«
»Die Leute werden sich anpassen«, sagte Ember. »Jedenfalls können wir nicht zulassen, dass ein einziges Unternehmen die totale Macht über alles hat. Wisst ihr, dass es früher Gesetze dagegen gegeben hat? Bis die Regierung immer weniger Macht hatte und die Konzerne immer mehr. Bald haben die Konzerne die Gesetze geschrieben. Meint ihr etwa, euer Essen würde mit eurem Gehalt bezahlt? Oder eure Wohnung? Das ist nämlich nicht der Fall. Das bezahlt der Staat, indem er das Ganze subventioniert, genauso wie die medizinische Versorgung. Er bezahlt Geld, damit ihr euren Job behaltet, denn dann wählt ihr die entsprechenden Politiker, die dadurch ebenfalls ihren Job behalten. Das Ganze ist schlicht zu kaputt, als dass man es reparieren könnte. Es ist an der Zeit, das System zu Fall zu bringen und in Stücke zu schlagen.«
»Verdammt richtig«, murmelte einer der hageren Männer.
»Das klingt aber furchtbar überheblich«, sagte Paxton.
Zinnia war überrascht, mit welcher Leidenschaft er Cloud verteidigte. Das Unternehmen, das ihn ruiniert hatte. Bisher hatte er ihm immer kritisch gegenübergestanden, aber vielleicht war er ja bekehrt worden. Hatte sich zu einem wahren Gläubigen entwickelt. Vielleicht musste er den Anteil, den er daran hatte, im Angesicht von Gewalt und Tod vor sich selbst rechtfertigen, weil die Wahrheit zu schwer zu akzeptieren war. Sie lehnte sich zurück, beobachtete das Geschehen und wartete auf einen günstigen Moment.
Allerdings hatte Ember etwas gesagt, was ihr im Kopf herumging. Omelas. Das war aus einer Geschichte, die sie mal gelesen hatte, ganz bestimmt. Vor langer Zeit. Es war eine Geschichte, die ihr nicht gefallen hatte …
»He«, sagte Ember. »Du da.«
Zinnia hob den Blick.
»Du bleibst hier«, fuhr Ember fort. »Er verschwindet und tut das, was wir von ihm wollen, dann kommt er wieder. Wir werden dir nichts antun, außer es geht etwas schief. Zum Beispiel wenn er nicht alleine wiederkommt. Das Ganze tut mir leid, aber es geht nicht anders. Wir arbeiten schon jahrelang daran. Dies ist unsere beste Chance.«
»Schon gut«, sagte Zinnia. Sie sah Paxton an. »Geh nur.«
»Wie bitte?«
Sie ließ ein bisschen Angst in ihre Stimme fließen. »Ich glaube, es ist am besten, wenn wir tun, was sie sagen.«
»Ich kann dich doch nicht einfach hierlassen!«
Verfluchter Beschützerinstinkt. Sie setzte eine tapfere Miene auf. »Bitte. Ich glaube, anders geht es nicht.«
Paxton lehnte sich an die Wand, als wollte er es sich gemütlich machen. »Nein!«
Ember ließ sich den Revolver geben und richtete ihn auf Zinnias Stirn, sah dabei jedoch Paxton an. »Los jetzt!«
Paxton hob die Hände in die Luft und stand auf, indem er sich an der Wand nach oben schob. Als er losging, senkte Ember ihre Waffe bei jedem Schritt ein bisschen. Er hob den USB -Stick auf, dann drehte er sich zu Zinnia um. »Ich komme bald zurück.«
»Das ist gut«, sagte Zinnia.
Er ging ein Stück weiter, bevor er sich wieder umdrehte. »Wenn ihr auch nur ein Härchen gekrümmt wird …«
»Ja, ja, hab schon kapiert«, schnitt Ember ihm das Wort ab. »Hier wird nichts gekrümmt. Tu einfach, was ich gesagt habe.«
Als Paxton weiterging, folgten die Frau mit der Flinte und die beiden Männer ihm. Das war der erste eindeutig dämliche Schachzug, den sie machten, denn damit blieben Zinnia und Ember allein. Wahrscheinlich hielten sie Paxton für gefährlicher, weil er ein Mann war .
Zinnia blickte zu Ember hoch. »Willst du mich eigentlich fesseln oder so?«
»Ist das denn nötig?«
»Ich dachte, ihr wärt vorsichtig.«
Ember hob den Revolver. »Aufstehen!«
Zinnia erhob sich mit ausgestreckten Händen, wobei sie sich ein Stück auf Ember zubewegte, ganz langsam, damit die das vielleicht nicht bemerkte. Das Komische an Schusswaffen war, dass sie wesentlich weniger gefährlich als Messer waren. Deshalb verteidigte sie sich lieber gegen Leute, die einen Revolver in der Hand hatten. Um jemand damit in Schach zu halten, musste man einen Mindestabstand von gut sechs Metern einhalten. Tat man das nicht, konnte der andere den Spieß umdrehen. Abgesehen davon, brachte das Adrenalin in einer solchen Situation die Feinmotorik durcheinander, und der abrupt angestiegene Blutdruck machte einen schwindlig.
Man musste jahrelang trainieren, um das zu überwinden, und Zinnia rechnete damit, dass Ember nicht dasselbe Training hinter sich hatte wie sie. Außerdem waren die beiden jetzt keine drei Meter mehr voneinander entfernt.
»Ich muss dich nicht fesseln«, sagte Ember. »Da hinten ist ein Lagerraum, wo du warten kannst. Es ist zwar heiß da drin, aber glücklicherweise habt ihr ja Wasser mitgebracht.«
Zinnia machte einen weiteren Schritt vorwärts. Zweieinhalb Meter Abstand. Noch weniger. Sie tat so, als wollte sie an Ember vorbei in den Lagerraum gehen, und als die einen winzigen Moment zu der Tür hinblickte, durch die Paxton und die anderen verschwunden waren, ergab sich die Gelegenheit, auf die Zinnia gewartet hatte .
Sie sprang auf Ember zu, griff nach dem Revolver und umklammerte den Zylinder. Der schnitt zwar in ihre Handfläche, als Ember abdrückte, bewegte sich jedoch nicht. Zinnia schob die Mündung von sich weg, falls sich ihr Griff lockerte und das Ding doch losging.
Im selben Augenblick ließ sie den Ellbogen an Embers Schläfe krachen. Während ihr Arm erzitterte, sank Ember in sich zusammen und stürzte zu Boden. Dabei drehte Zinnia die Waffe und brachte sie in ihren Besitz.
Sie wich mehrere Meter zurück, klappte kurz den Zylinder heraus und stellte fest, dass nur zwei Patronen darin waren. Sie richtete die Waffe auf Embers Stirn. »Was ist eigentlich auf diesem USB -Stick?«, fragte sie.
Ember spuckte aus. »Du verfluchte Sklavin. Du Marionette. Willst du etwa für diese Typen kämpfen?«
»Wer bezahlt euch?«
»Wir werden von niemand bezahlt«, sagte Ember. »Wir leisten Widerstand.«
»Ja, ja, bla, bla, bla, ihr macht Revolution. Schon kapiert. Du bleibst jetzt schön da sitzen.«
Es leuchtete ein, dass diese Typen unabhängig waren. Ihr Plan war völliger Schwachsinn. Sie wollten sich nur Zugang zur MotherCloud verschaffen, dort ein Chaos veranstalten und die Flucht ergreifen. Es ärgerte Zinnia, dass Ember das so simpel dargestellt hatte. Während sie selbst schon Monate festsaß und sich den Arm auskugeln musste, um weiterzukommen.
Zinnia machte sich auf den Weg zum Ausgang, blieb jedoch gleich wieder stehen. Sie spürte den überwältigenden Drang, Ember wehzutun. Nicht, indem sie ihr eine Ohrfeige verpasste oder anderswie körperliche Schmerzen zufügte, sondern indem sie ihr etwas vom Schmerz der Welt zeigte. Von dem Schmerz, der das Hintergrundgeräusch zu jedem einzelnen Tag darstellte, den sie in dieser verdammten Anlage verbrachte.
»Nimm doch dein Streichholz«, sagte sie. »Geh rüber zur MotherCloud. Reiß das Streichholz an, und halt es an die Betonmauer. Sag mir, wie lange es dauert, bis die niedergebrannt ist.«
Embers Augen wurden trübe. Ihre Angriffslust hatte deutlich abgenommen.
Zinnia ging nach vorn und drückte sich ans Fenster. Niemand zu sehen. Paxton konnte noch nicht abgefahren sein. Wahrscheinlich waren sie gerade alle in der Durchfahrt. Sie sprang nach oben, um die Ladenglocke von der Tür zu reißen, damit sie nicht klingelte, dann schlüpfte sie so leise wie möglich hinaus. Zuckte bei jedem Geräusch zusammen, das ihre Sohlen auf dem ausgedörrten Pflaster hinterließen. Vorsichtig schob sie sich an den Ladenfronten entlang, deren Hitze ihr die Haut verbrannte.
Kurz vor der Durchfahrt hörte sie Stimmen. Sie blieb an der Ecke stehen und lauschte. Paxton beendete gerade einen Satz: »… und wenn ihr meiner Freundin auch nur das Geringste antut, mache ich euch fertig!«
Hm.
Seine Stimme war klar und deutlich, woraus zu schließen war, dass er in ihre Richtung blickte. Was wiederum bedeutete, dass seine drei Bewacher ihn anschauten und ihr den Rücken zuwandten. Sie duckte sich und spähte um die Ecke. Sah sechs Beine. Die Frau mit der Flinte stand ganz hinten.
Das war leicht.
Zinnia trat aus der Deckung. Als Paxton sie sah, riss er die Augen auf. Sie hielt der Frau mit der Flinte den Revolver an den Kopf. Es war riskant, so nah an jemand heranzugehen, aber diese Typen waren nicht so gut, dass sie ihr die Waffe abnehmen konnten. Wenn sie es versuchten, würden sie sich nur eine Kugel einfangen. Alle drei drehten sich gemeinsam um und starrten sie an, zuerst verwirrt, dann verängstigt.
»Die Flinte«, sagte Zinnia. »Wirf sie ihm zu.«
Die Frau ließ die Schultern hängen. Sie drehte sich zu Paxton um. Der machte grinsend ein paar Schritte auf sie zu, worauf sie die Flinte hob und sie ihm mit beiden Händen zuwarf. Paxton fing sie auf und richtete sie auf einen der Männer.
Zinnia feuerte in die Luft. Die anderen zuckten erschrocken zusammen, auch Paxton.
»Und jetzt fort mit euch«, sagte sie.
Die drei rannten los, an Zinnia vorbei um die Ecke, und dann waren sie auch schon verschwunden. Zinnia ließ die Hand mit dem Revolver baumeln und die Waffe in den Dreck fallen. Paxton warf ebenfalls die Flinte weg, sprang auf Zinnia zu, packte sie bei den Schultern und zog sie eng an sich. Sie ließ es geschehen. So blieben sie eine Weile stehen, damit ihr Herzschlag sich beruhigen konnte.
»Alles okay?«, fragte er.
Sie sprach mit dem Gesicht an seine Schulter gedrückt. »Ja, klar.«
Er trat einen Schritt zurück und sah ihr in die Augen. Immer noch hektisch und schwitzend. »Wie hast du das geschafft?«
»Du weißt doch, dass ich in Detroit Lehrerin war. Meinst du, das ist das erste Mal, dass jemand mir einen Revolver unter die Nase gehalten hat?«
»Hör auf.«
»Sie hat mich unterschätzt, und ich habe Glück gehabt«, sagte Zinnia. »Ich hab schon als Mädchen Krav Maga gelernt.«
»Das hast du mir nie erzählt.«
Zinnia hob die Schultern. »Über das Thema haben wir nie gesprochen.«
Paxton schüttelte den Kopf. Bückte sich und hob die Flinte auf. Richtete die Mündung in den Himmel und drückte ab. Nichts.
»Das ist ja wirklich ein erholsamer Ausflug«, sagte er.
»Tja. Ich glaube, wir sollten zurückfahren.«
»Die haben unser Wasser in den Laden geschafft.«
Zinnia nahm den Revolver wieder an sich. »Ich gehe rein und hole es. Außerdem will ich meine Bücher haben.«
»Ehrlich?«
»Und ob.« Sie deutete mit dem Kinn zum Wagen. »Steig schon mal ein, und lass die Klimaanlage laufen. Wenn ich wiederkomme, will ich mir den Arsch abfrieren.«
»Soll ich nicht mitkommen?«
Zinnia lächelte. »Das schaffe ich schon. Und, ehrlich gesagt, muss ich mal einen Moment allein sein. Das war … ein bisschen viel.«
Paxton hob die Hände. »Na gut, dann geh.«
»Aufs Klo muss ich übrigens auch«, sagte sie über die Schulter hinweg. »Es kann also ein paar Minuten dauern. Tut mir leid.«
Sobald sie den Buchladen betreten hatte, rannte sie nach hinten, wo jetzt niemand mehr war. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, aber bevor sie die Nachricht lesen konnte, die sie erhalten hatte, knarrte hinter ihr eine Bodendiele, und jemand sagte: »Nicht umdrehen.«
Es war eine Männerstimme. Tief und alt. Kratzig. Ein Raucher. Zinnia umklammerte ihre Waffe und hielt sie so, dass sie sichtbar war, hob sie jedoch nicht. Sie fragte sich, wo der Mann wohl vorher gewesen war. Vielleicht hinten im Laden. Vielleicht hatte er alles beobachtet.
»Sie werden Ihren Auftrag wie geplant fortsetzen.«
Zinnia nickte nur, weil sie sich nicht sicher war, ob sie etwas erwidern sollte.
»Allerdings kommt eine weitere Aufgabe hinzu. Wenn Sie damit Erfolg haben, verdoppelt sich Ihr Honorar.«
Zinnia hielt den Atem an.
»Töten Sie Gibson Wells.«
Die Worte dröhnten ihr in den Ohren.
»Zählen Sie jetzt bis dreißig, bevor Sie sich umdrehen.«
Zinnia schaffte es bis hundertzwanzig, bis sie die Energie aufbrachte, sich zu bewegen.