Gibson
Kennt ihr die Geschichte von Lazarus und dem reichen Mann? Sie steht im Lukasevangelium und geht so: Es war einmal ein reicher Mann, der sich in feines Leinen kleidete und im Luxus lebte. Am Tor seines Palastes hauste ein Bettler namens Lazarus, der sich in einem ziemlich bedauernswerten Zustand befand. Er war mit Geschwüren bedeckt, hungrig und dreckig. Sehnte sich nach den Krumen, die vom Tisch des Reichen fielen.
Als es für Lazarus an der Zeit war zu sterben, trugen die Engel ihn zum Himmelstor hinauf. Auch der Reiche starb, aber zu dem kamen keine Engel. Er fuhr hinab in die Hölle, wo er gemartert und gequält wurde. Als er nach oben blickte, sah er Gott mit Lazarus an seiner Seite, und da flehte er: »Bitte hab Mitleid mit mir, und sende Lazarus, damit er die Fingerspitze ins Wasser taucht und mir die Zunge kühlt.«
Worauf Gott erwiderte: »Denk dran, dass du im Leben Gutes empfangen hast, Lazarus hingegen Schlechtes. Jetzt wird er getröstet, während du Qualen erleidest. Zwischen euch besteht ein tiefer Abgrund, der nicht überwunden werden kann.«
Daraufhin bat der Reiche, dass Gott Lazarus zu seinen Brüdern schicken solle, um sie vor dem ihnen drohenden Schicksal zu warnen, damit sie es vermeiden konnten. Aber Gott sagte: »Nein, die sollten auch so wissen, dass man auf die Propheten hören muss.«
Daher litt der reiche Mann die restliche Ewigkeit, während Lazarus einen Logenplatz für die Wunder des Universums hatte.
Ich will euch sagen, wieso ich die Geschichte nicht mag. Ganz einfach: Sie stellt Reichtum und Ambition als Sünde dar. Es gibt so vieles, was wir über Lazarus und den Reichen nicht wissen. Wieso war der reiche Mann reich? Ist er durch Verbrechen zu seinem Geld gekommen? Hat er im Laufe seines Lebens anderen Menschen Schaden zugefügt? Oder hat er ein Geschäft aufgebaut? Hat er für seine Familie und das Gemeinwesen gesorgt? Und wieso war Lazarus arm? Wieso war er mit Geschwüren bedeckt? Ist er durch eine Ungerechtigkeit aus der Gesellschaft ausgestoßen worden? Oder hat er in seinem Leben schlechte Entscheidungen getroffen? Hat er etwas getan, womit er seinen Zustand verdient hat?
Das wissen wir alles nicht. Man sagt uns nur, dass Reichtum grundlegend falsch sei, Armut hingegen grundsätzlich eine Tugend – ohne irgendwelche Ahnung davon, wie die betreffenden Personen zu dem wurden, was sie sind.
Die meisten Leute beurteilen mich im Lichte von dem, was ich getan habe: Ich habe ein Unternehmen aufgebaut, für meine Familie gesorgt, ein neues Lebens- und Arbeitsparadigma entworfen, das für den amerikanischen Arbeitnehmer eine bessere Welt erschaffen soll. Dennoch gibt es ein paar Zeitgenossen, die mich für einen habgierigen Drecksack halten. Sie meinen, wenn ich tot und beerdigt bin, was jetzt nicht mehr lange dauern wird, werde ich zu dem reichen Mann in die Hölle kommen, zu Lazarus hinaufblicken und mich fragen, was ich eigentlich falsch gemacht habe.
Dazu möchte ich in erster Linie sagen, dass es keine Sünde ist, wenn man die Welt zu einem besseren Ort machen will. Es ist keine Sünde, für seine Familie zu sorgen, und es ist keine Sünde, im Leben ein bisschen Vergnügen zu haben. Deshalb besitze ich ein Boot. Ich gehe gern angeln. Bin ich dadurch zur Hölle verdammt? Ich habe nie die Hände zu einer Gewalttat erhoben. Soll ich deshalb leiden?
Seht euch doch mal den tristen Zustand der Welt an! Viele kleine Städte sind verödet. An der Küste liegende Dörfer stehen unter Wasser. Die Großstädte sind überfüllt. Platzen aus den Nähten. Manche Drittweltländer sind praktisch nur noch eine Wüste.
Die Welt ist in einem traurigen Zustand, und ich versuche zu helfen. Ist alles, was ich getan habe, perfekt gewesen? Nein, verdammt noch mal! Das ist der Preis des Fortschritts. Cloud zu erschaffen war so, wie wenn man ein Omelett zubereitet, so läuft es im Geschäftsleben. Anders gesagt, dabei mussten ein paar Eier zerbrochen werden. Nicht dass ich mich je gefreut hätte, so etwas zu tun. Ich habe es nie genossen. Worauf es ankommt, ist jedoch das Endergebnis. Ihr wisst ja, was ich seit Jahren, ja immer schon sage: Der Markt bestimmt. In einer Zeit jugendlichen Leichtsinns hätte ich mir das beinahe mal auf die Schulter tätowieren lassen. Durchgezogen habe ich das nicht – ich muss zugeben, dass ich Angst vor Nadeln habe –, aber es steht auf einem Blatt Papier, das ich mir am Gründungstag von Cloud über den Schreibtisch gepinnt habe.
Das Blatt gibt es immer noch. Ein kleiner Streifen, so vergilbt und verknittert, dass die Worte kaum noch zu lesen sind. Dafür habe ich den Spruch überall in unseren Büros aufhängen und auf Kaffeebecher drucken lassen. Ich habe nach diesem Motto gelebt und geatmet. Habe dadurch Erfolge und Misserfolge gehabt .
Der Markt bestimmt.
Wenn der Markt sagt: Dieser Artikel kann für den Kunden billiger sein, er kann effizienter geliefert werden, er kann das Leben der Menschen verbessern, dann sage ich – frisch ans Werk!
Wisst ihr, vor vielen Jahren hatten wir es mit einem bestimmten Essiggurkenproduzenten zu tun. Wie Molly euch bestätigen kann, liebe ich Essiggurken. Die von jener Firma hergestellten Essiggurken habe ich auch geliebt, aber die waren ziemlich teuer, und unsere Kunden hatten eigentlich keine Lust, so viel zu bezahlen, wie die Firma haben wollte. Das waren, soweit ich mich erinnere, ungefähr fünf Dollar pro Glas.
Also haben wir uns an die Firma gewandt und gesagt: »Lasst uns euch helfen!« Wir haben den Leuten eine andere Verpackung empfohlen und ihnen gezeigt, wie man Rohstoffe sparen kann. Schon indem sie Plastik anstatt Glas verwendet haben, konnten sie eine Stange Geld sparen, weil die Lastwagen, mit denen das Produkt transportiert wurde, leichter waren und weniger Kraftstoff brauchten.
Das Endziel bestand darin, sie auf zwei Dollar pro Glas herunterzuhandeln, was der Preis war, den unsere Kunden bezahlen wollten. Aber sie haben auf drei fünfzig bestanden. Seht mal, wie viel Geld ihr jetzt spart, haben wir ihnen vorgehalten – da könntet ihr leicht auf zwei Dollar heruntergehen. Nein, haben sie gesagt, das sei unmöglich. Sie haben mir lang und breit erklärt, was das für ihren Erlös bedeuten würde und dass sie dann ihre Organisationsstruktur verändern müssten. Gut, habe ich gesagt, dann solltet ihr das eben tun; ihr könnt uns ja mitteilen, wenn ihr dabei Hilfe braucht.
Langer Rede kurzer Schluss, sie haben sich nicht umstimmen lassen. Gut, habe ich gesagt, dann gebe ich meinen Kunden eben trotzdem, was sie wollen, nämlich Essiggurken für zwei Dollar pro Glas. Das war die Geburtsstunde unserer eigenen Essiggurkenmarke, und egal was andere behaupten, die schmeckt mir besser als die Gurken von dem besagten Produzenten.
Ohnehin sind die schließlich pleitegegangen. Ich sehe es zwar nie gerne, wenn jemand arbeitslos wird, aber das war deren eigene Schuld. Sie hätten uns nur ein bisschen entgegenkommen müssen, dann hätten wir gemeinsam Großes leisten können. Ihr würdet nämlich staunen, wenn ihr wüsstet, wie viele Essiggurken wir verkaufen. Die schmecken den Leuten ausgezeichnet und sind lange haltbar, und es läuft bestens für alle Beteiligten.
Der Markt bestimmt.
Nach der Sache mit den Essiggurken waren ein paar Leute ziemlich wütend auf mich, aber wisst ihr was? Wenn ich ein Produkt oder eine Dienstleistung günstiger, aber in derselben Qualität liefern kann, bin ich gerne bereit, das zu tun. Dann können die Kunden das Geld, das sie sparen, für etwas anderes verwenden – für Lebensmittel, Wohnung, Gesundheitsfürsorge oder auch dazu, abends mal nett auszugehen. Der Sinn von Cloud war es von Anfang an, den Menschen das Leben zu erleichtern. Es gibt massenhaft Unternehmen, die mit unserer Unterstützung ihre Kosten reduziert haben und denen es jetzt bestens geht. Sie arbeiten nicht mit uns zusammen, weil sie das müssten, sondern weil sie es wollen.
Tut mir leid, ich bin ein bisschen vom Thema abgekommen. In letzter Zeit schlafe ich nicht mehr besonders gut. Ich habe Schmerzen im Bauch. Wie ein schwelendes Feuer. Wie Holzkohlen in einem Gartengrill. Man meint zwar nicht, dass die heiß sind, aber das sind sie. Die Hitze breitete sich allmählich bis in meinen Kopf aus. Deshalb ärgere ich mich neuerdings unheimlich über verschiedene Dinge, obwohl ich mich bemühe, mich nicht so zu ärgern, weil ich meinem Schöpfer mit einem Lächeln im Gesicht entgegentreten will, nicht mit einer verächtlichen Grimasse.
Die Sache ist die: Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich reich bin. Und wenn meine Zeit gekommen ist und ich jene Grenze überschreite, werde ich nur aufgrund dessen, was ich geschaffen habe, nicht in der Hölle landen, da bin ich mir sicher. Ein Mensch muss auch nach anderen Maßstäben beurteilt werden.
Vor zwanzig Jahren waren die Vereinigten Staaten für einen Ausstoß von 5,4 Milliarden Tonnen Kohlendioxid verantwortlich. Im vergangenen Jahr war es weniger als eine Milliarde. Das ist es eben! Vieles von dieser Entwicklung ist auf das zurückzuführen, was wir bei Cloud getan haben, und ihr könnt mir glauben, dass ich Claire beauftragt habe, diesen Wert weiter zu verringern. Cloud soll nicht nur kohlenstoffneutral werden, sondern kohlenstoffnegativ. Ich will, dass wir das Kohlendioxid aus der Luft saugen. Ich will, dass der gestiegene Meeresspiegel wieder sinkt. Ich will, dass die Menschen in den Küstenstädten wieder in ihre Häuser zurückkehren können. Ich will ein Miami, das nicht mehr so aussieht wie Venedig früher. Ich will Venedig wiederhaben.
Soll ich dafür zur ewigen Verdammnis verurteilt werden?