Paxto n
»Setz die mal auf«, sagte Dakota und reichte Paxton eine Sonnenbrille.
Die Brille reduzierte das grelle Licht erheblich, wodurch er sich besser auf das scheinbare Chaos konzentrieren konnte, das auf dem Dach herrschte. Die Ränder konnte er nicht sehen, weshalb er das Gefühl hatte, inmitten eines hektischen Spielfelds zu stehen. Die Sonne spiegelte sich in den im Boden eingebetteten Kollektoren. Ringsum standen schuppengroße Verladestationen, wo eine Aufzuganlage Pakete anlieferte, die an den wartenden Drohnen befestigt wurden.
Hier waren die Arbeiter in Orange gekleidet. Viele trugen langärmelige, weiße Shirts unter ihren Polohemden und breite Schlapphüte. Am Gürtel hatten sie Wasserflaschen hängen. Die Verladestationen boten Schatten, aber nicht viel, vor allem jetzt in der Tagesmitte nicht.
»In dem Einführungsvideo kommt Orange gar nicht vor«, sagte Paxton.
»Das ist für die Leute mit den beschisseneren Aufgaben«, sagte Dakota. »Solche Farben werden nicht gezeigt.«
Paxton war von der Szenerie schier überwältigt, auch von ihrem Geräusch beziehungsweise dem Mangel daran. Die Drohnen waren nahezu lautlos. Dafür war er von einem elektrischen Summen umgeben, das sich wie ein Insekt anhörte, das am Rande seines Blickfelds herumflog. Auch auf der Haut spürte er es.
»Meinst du wirklich, dass wir hier fündig werden?«, fragte Dakota .
Er hatte ihr die Geschichte über die Drohne auf dem Gefängnishof erzählt. Außerdem hatte er sich bei ihr und Dobbs vergewissert, dass hier oben nur wenige Security-Leute im Dienst waren, weil sie eigentlich nicht gebraucht wurden. Alles, was heraufkam, war in Kartons verpackt und wurde von den CloudBands registriert, weshalb niemand etwas klauen konnte. Die Arbeiter hatten ihren eigenen Ausgang, vor dem sie sich am Ende ihrer Schicht anstellen mussten. Wichtiger als Security war hier ein medizinisches Team, weil Hitzschlag und Flüssigkeitsmangel eine ständige Gefahr darstellten. An allen Verladestationen erinnerten Schilder die Arbeiter daran, immer genügend zu trinken, und überall waren Spender mit zwei Hähnen angebracht, einer für Wasser, der andere für Sonnenschutzlotion.
»Wo sollen wir überhaupt anfangen?« Dakota ließ den Blick über die weite Fläche mit Tausenden Arbeitern schweifen. Am Himmel verdeckten Drohnenschwärme wie vorüberziehende Wolken sporadisch die Sonne und sorgten für Momente der Erleichterung, die nie lange genug zu dauern schienen.
»Am Anfang«, sagte Paxton und machte sich auf den Weg. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Dakota ihm folgte, ging er weiter einen der gestreiften Pfade entlang, auf denen die Arbeiter sich ungefährdet bewegen konnten. Sie waren mit gelbem, gut sichtbarem Klebeband markiert, damit niemand versehentlich auf die dunklen Oberflächen der Solarkollektoren trat, die wie quadratische Becken aus reglosem Wasser aussahen.
An jeder Station sah Paxton das Gleiche – hin und her wuselnde Arbeiter, Drohnen, die herabsanken und wieder in die Luft stiegen, beladen mit merkwürdig geformten Paketen aus wetterfestem Pappschaum. Niemand achtete auf die beiden Security-Leute, was genau das war, worauf Paxton zählte. Er hatte kein Interesse an Leuten, die kein Interesse an ihm hatten.
Eine der Lektionen, die er im Gefängnis gelernt hatte, lief darauf hinaus, dass man nicht auf eine Übergabe von Schmuggelware wartete. Man hielt Ausschau nach einem Seitenblick, einem angstvollen Gesichtsausdruck, nervös verspannten Muskeln. Häftlinge waren Meister der Täuschung. Deshalb ging es nicht darum, irgendwelche verborgenen Dinge zu finden – man musste Experte darin werden, die Leute zu erkennen, die etwas verbargen.
Die beiden schlenderten etwa eine Stunde lang über das Dach. Ab und zu warf man ihnen Blicke zu, die eher Verblüffung über ihr Erscheinen ausdrückten als ach du Scheiße, da kommen die Polypen. Den Unterschied kannte Paxton bestens. Deshalb gingen sie weiter, um Gesichter, Hände und Schultern zu beobachten, bis Dakota allmählich nervös wurde. Sie seufzte hörbar, blieb öfter stehen, um Wasser zu trinken oder Sonnenschutzmittel abzuzapfen, das sie auf Gesicht und Hals verrieb, bis eine teigige weiße Schicht auf ihrer Haut lag. Durch die schwarzen Gläser der Sonnenbrille sah sie aus wie ein Skelett, das über das brütend heiße Dach streifte.
Irgendwann kam eine vertraute Gestalt in Sicht. Paxton drehte unauffällig den Kopf, um sich zu vergewissern. Es war tatsächlich Vikram, mit einem breitkrempigen Hut, einer Sonnenbrille und einer Wasserflasche am Gürtel. Sein blaues Poloshirt war so von Schweiß durchnässt, dass es fast schwarz aussah. Er beobachtete mehrere Männer und Frauen in Braun, die eine auf dem Boden liegende Drohne reparierten. Am liebsten wäre Paxton hinübergegangen, um Vikram unter die Nase zu reiben, wer von ihnen letztlich gewonnen hatte, entschied sich jedoch dagegen. Das wäre kleinkariert gewesen. Er wandte sich Dakota zu, die gerade einen tiefen Schluck aus ihrer Wasserflasche nahm.
Und da sah er ihn – einen hageren weißen Typen, der von den Ellbogen bis zu den Fingerspitzen mit primitiven Tattoos bedeckt war. Mit solchen, wie man sie im Gefängnis bekam oder sich von irgendeinem bekloppten Kumpel mit Nähnadel und Druckertinte machen ließ. Als Paxton und Dakota in sein Blickfeld kamen, erstarrte er zuerst, dann bewegte er sich ein Stück zur Seite, sodass jemand anderes zwischen ihm und den beiden stand – wie ein Kind, das sich hinter einem zu schmalen Baum versteckte. Er schob die Hände in die Hosentaschen, als wollte er sich vergewissern, dass da etwas Bestimmtes drin steckte, was eigentlich nicht hätte vorhanden sein sollen.
»Der da«, sagte Paxton und deutete mit dem Kinn auf das Klappergestell.
Dakota hob ihre Sonnenbrille und betrachtete den Typen genauer, der sichtlich schwitzte, aber womöglich nicht von der Sonne. »Bist du dir da sicher? Wenn wir ihn filzen und er nichts dabeihat, wird Dobbs stinksauer sein, und dann versetzt er dich vielleicht hierher. Wir nennen das die Hautkrebsrunde.«
»Vertrau mir«, sagte Paxton, während der Typ einige Schritte rückwärts machte.
»Na gut.« Dakota winkte dem Typen zu. »He, du! Komm mal her. ¡Ándale! «
Der Typ sah sich um, als könnte jemand ihm helfen, was aber niemand tat. Stattdessen rückten die Leute in seiner Nähe von ihm ab, wohl wissend, was ihn erwartete. Während er herbeikam, setzte er ein gezwungenes Lächeln auf, um cool zu erscheinen. Wer, ich?
»Kehr mal deine Hosentaschen um«, sagte Dakota.
Der Typ blickte zur Seite. Hob die Schultern. »Wieso?«
»Weil mich das glücklich macht, verdammt noch mal«, sagte Dakota.
Der Typ sank in sich zusammen. Griff in seine rechte Hosentasche und streckte Dakota die geschlossene Faust hin. Öffnete sie. In seiner Handfläche lagen mehr als ein Dutzend Schächtelchen mit Oblivion. Als Dakota ihm die flache Hand hinhielt, legte er sie hinein.
Sie sah Paxton an und lächelte. »Nicht schlecht.«
Paxton erwiderte das Lächeln. »Jetzt wird es richtig lustig.«
Sie brauchten eine halbe Stunde bis zum Ausgang, dann ging es hinunter zur Bahn und in die Administration, wo sie das Klappergestell – es hieß Lucas – in einen Vernehmungsraum brachten. Der war so klein, dass der Tisch und die beiden sich gegenüberstehenden Stühle kaum hineinpassten. Sie ließen Lucas eine Weile allein darin sitzen, damit er darüber nachdenken konnte, was er sich eingebrockt hatte.
Dobbs kam durch das Großraumbüro hindurch auf Paxton zu, gefolgt von Dakota, die ihn geholt hatte. Er klatschte langsam und rhythmisch in die Hände. Als er vor Paxton stand, schlug er ihm kräftig auf die Schulter. »Hab ja gewusst, dass ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe. Wie haben Sie das geschafft?«
»War nur so eine Ahnung«, sagte Paxton.
»Tja, hat sich gelohnt. Jetzt werden wir ihn dazu bringen, uns zu erklären, wie die Schmuggeloperation abläuft, wer sonst noch beteiligt ist und so weiter und so fort. «
»Haben Sie was dagegen, wenn ich ihn erst mal selbst in die Zange nehme, Chef?«, fragte Paxton.
Dobbs sah ihn scharf an. Dachte sichtlich angestrengt darüber nach. »Kein Problem, mein Junge«, sagte er schließlich. »Das haben Sie sich verdient. Wir werden allerdings zuhören. Hat schließlich keinen Sinn, zweimal dasselbe zu machen.«
»Was kann ich ihm anbieten?«, fragte Paxton.
»Dass er woandershin versetzt wird. Wir würden ihn in eine von den Verarbeitungsanlagen stecken. Vielleicht will er ja selbst kündigen – wäre ganz allein seine Sache –, aber von uns aus müssen wir ihn nicht gleich feuern.«
»Alles klar.« Paxton nickte Dobbs und Dakota zu.
Er betrat den Vernehmungsraum und setzte sich Lucas gegenüber. Während der nervös hin und her rutschte, machte er es sich bequem und starrte ihn einige Sekunden an.
»Reden wir«, sagte er dann.
»Worüber?«
»Über das Oblivion in deiner Hosentasche.«
Lucas hob die Schultern und machte sich daran, alles im Raum zu beäugen – die Deckenverkleidung, die Tischplatte, den Staub in den Ecken, den Spiegel, durch den man offenkundig von draußen hereinblicken konnte. Alles außer Paxton. »Für den persönlichen Gebrauch.«
»Also, ich stelle mir die Sache so vor«, sagte Paxton. »Es ist zwar bestimmt komplizierter, aber wahrscheinlich läuft es so, dass jemand etwas bei Cloud bestellt. Wenn das geliefert wird, bringt man an der Drohne vor dem Rückflug eine Ladung Oblivion an.« Die Augen von Lucas verengten sich, ein Hinweis darauf, dass Paxton richtiglag. »Interessant ist allerdings, woher ihr wisst, welche Drohnen ihr checken müsst. Vielleicht landen die Drohnen immer an derselben Stelle, wo sie gestartet sind, oder es liegt an ihrer Codierung oder ihrem Bewegungsmuster, das ihr geknackt habt. Bestimmt sind eine Menge Leute eingeweiht, darunter auch Manager und Kollegen von mir. Vielleicht fliegen auch massenhaft Drohnen mit einer kleinen Ladung Oblivion durch die Gegend, aber nur bestimmte Leute wissen, wie man das Zeug findet. Das weiß ich alles nicht. Ich weiß bloß, dass du mehr als hundert Portionen dabeihattest. Das ist ein Grund für die sofortige Kündigung. Und du weißt, was das bedeutet.« Lucas senkte den Blick. »Aber ich kann dir helfen.«
»Wie denn?«
»Wir stecken dich in einen anderen Wohnbau«, sagte Paxton. »Arbeiten wirst du in einer von den Aufbereitungsanlagen am Ende vom Campus.«
»Und was wollt ihr dafür?«
»Eine Erklärung, wie die Operation im Einzelnen abläuft. Und so viele Namen, wie du mir nennen kannst. Von den Leuten, die das Sagen haben – vor allem, wenn sie bei der Security sind. Wenn du dazu bereit bist und mich entsprechend beeindruckst, kommen wir dir entgegen.«
Lucas starrte auf seine im Schoß liegenden Hände. Murmelte etwas.
»Was sollte das heißen?«, fragte Paxton.
»Ich will einen Anwalt.«
Paxton hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte, und da er nichts Falsches sagen wollte, nickte er einfach, stand auf, schob seinen Stuhl unter den Tisch und verließ den Raum. Schlimmstenfalls würde Lucas dadurch das große Flattern bekommen, bestenfalls ebenso.
Als er die Tür schloss, stand Dobbs vor ihm.
»Nicht schlecht für einen ersten Versuch«, sagte Dobbs. »Jetzt rede ich mal mit ihm.«
»Bekommt er wirklich einen Anwalt?«
»Teufel, nein.« Dobbs kicherte. »Aber keine Sorge. Sie haben ihm den guten Cop vorgeführt, jetzt ist es Zeit für den bösen.« Er griff schon nach dem Türknauf, hob dann aber wieder den Blick. »Ich bin verdammt stolz auf Sie, mein Junge.«
Dobbs ging hinein, und Paxton sah durchs Fenster, wie er den Stuhl herauszog und sich Lucas gegenübersetzte. Als er zu sprechen begann, hörte Paxton nichts. Zuhören konnte man offenbar nur an einem anderen Ort. Trotzdem blieb Paxton stehen und genoss das Gefühl, mein Junge genannt worden zu sein.
Nach einer Weile sah er sich nach Dakota um. Ein Kollege – ein blonder Surfertyp, dessen Namen er vergessen hatte – erklärte ihm, Dakota müsse anderswo etwas erledigen, aber er solle auf sie warten. Deshalb setzte er sich an einen Schreibtisch und loggte sich auf dem darauf befestigten Tablet ein.
Den ganzen Tag lang war ihm im Kopf herumgegangen, was Ember gesagt hatte. Dass Cloud bestimmte Bücher zensieren würde. In den ersten paar Tagen hatte er bemerkt, dass er mit seinem Log-in Zugang zum Inventursystem bekam. Da er nichts Besseres zu tun hatte, rief er es auf und klickte ein bisschen darin herum. Nach ein paar Sackgassen und langen Umwegen fand er schließlich eine Möglichkeit, wie man feststellen konnte, wie viele Exemplare eines bestimmten Artikels in der hiesigen MotherCloud verfügbar waren .
Er wählte Fahrenheit 451, weil er sich erinnerte, dass das ein Buch von Ray Bradbury war, das er in der Schule gelesen und gemocht hatte. Verfügbar waren gerade mal zwei Exemplare, was ihm ziemlich mager vorkam. Er recherchierte den aktuellen Bestseller im Cloud-Store, einen erotischen Roman, der auf einer Serie für junge Erwachsene basierte, und stellte fest, dass davon 22 502 Exemplare vorrätig waren. Das war zwar ein gewaltiger Unterschied, aber man musste sich schließlich nach der Nachfrage richten, das war ihm klar. Natürlich hatte man mehr Exemplare vom aktuellen Topseller vorrätig, während das Buch von Bradbury laut der Datenbank bereits seit 1953 auf dem Markt war. Als Nächstes suchte er den Report der Magd von Margaret Atwood und stellte fest, dass der hier überhaupt nicht verfügbar war. Das Buch war zwar auch schon im Jahre 1985 erschienen, aber trotzdem – kein einziges Exemplar?
Nach einigen weiteren Klicks fand er etwas, was sich Bestellkennzahlen nannte. In diesem Bereich konnte man die Such- und Bestellgeschichte für Artikel im Lieferradius der MotherCloud recherchieren. Er blickte sich um, weil er plötzlich Angst hatte, etwas Falsches zu tun. Solche Informationen hätten doch eigentlich besser geschützt sein sollen! Allerdings gehörte er zum Security-Team, und wenn er Zugang zu so etwas hatte, dann gab es wahrscheinlich einen Grund dafür. Er klickte sich durch die Bestellhistorie von Fahrenheit 451 . Im vergangenen Jahr waren zwei Suchanfragen und eine Bestellung verzeichnet. Beim Report der Magd waren es eine Anfrage und keine Bestellung.
Ember irrte sich. Die Bücher wurden nicht vor den Leuten versteckt, die Leute wollten sie schlicht nicht lesen. Und welches Unternehmen konnte sich über Wasser halten, wenn es den Kunden Dinge anbot, die sie gar nicht haben wollten?
Das war beinahe eine Erleichterung.
Dennoch ließ ihn etwas an dem, was Ember gesagt hatte, nicht los. Es rieb sich an Stellen in ihm, die sich noch jetzt, wo er eine Nacht darüber geschlafen hatte, wund und empfindlich anfühlten.
Aber wenn Ember unrecht hatte, was die Bücher anging, hatte sie dann überhaupt mit etwas recht?
»Gute Nachrichten«, sagte Dobbs und schlug Paxton von hinten mit der Hand auf die Schulter. Paxton zuckte zusammen und wirbelte herum.
»Sir?«
»Wir wissen jetzt Bescheid«, sagte Dobbs und lehnte sich an den Schreibtisch. »Offenbar haben ein paar Techniker es geschafft, das System zu hacken und den Flugalgorithmus so zu programmieren, dass bestimmte Drohnen immer an dieselben Stationen zurückkehren. Die werden von den Dealern draußen vorher mit Oblivion gespickt, wenn sie ihre Sendung abliefern.« Er klatschte in die Hände. »Gute Arbeit, mein Junge. Gute Arbeit.«
»Vielen Dank, Chef.«
Kurz nachdem Dobbs gegangen war, tauchte Dakota auf, das Gesicht noch mit Sonnenschutzmittel beschmiert. Sie strahlte.
»Na«, sagte sie. »Willst du zu der Schutztruppe für Gibson Wells gehören?«
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte Paxton.
Bis zum Ende seiner Schicht schwebte er wie auf Wolken, und als er fertig war, ging er ganz langsam von der Bahn in die Eingangshalle seines Wohnbaus. Er wollte nicht zu schnell nachschauen, damit er nicht enttäuscht war, weil das System vielleicht mehr Zeit für ein Update brauchte, aber als er zu den Aufzügen kam, hielt er es nicht mehr aus, checkte sein Rating und stellte fest, dass es bei vier Sternen lag.